HOME MAIL SEARCH HELP NEW



Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1998

Zu diesem Heft / About this issue

Etwas vereinfachend kann man Identitätspolitik als den Stoff bezeichnen, aus dem Weltpolitik seit der industriellen Revolution gemacht war - die qualvolle Herausbildung der Welt der Nationen und ihrer gegenseitigen Abgrenzungen. Die für die Epoche des Kalten Krieges bestimmende Herausforderung des expandierenden Sozialismus präsentierte sich in einem anderen Gewand. Aber auch unter diesem Gewand wurde Politik in hohem Maße durch die Kräfte kollektiver Identität orientiert und motiviert. Das vorliegende Heft beleuchtet vier unterschiedliche Aspekte dieser politisch unerhört relevanten, sowohl zusammenhaltenden als auch sprengenden Kraft "Identität". Klaus Pöhle, ehemaliger Generaldirektor im Apparat des Europäischen Parlamentes, setzt sich grundsätzlich mit Sinn und Unsinn des Identitätsbegriffs und seiner politischen Implikationen auseinander. Er diskutiert die Bedingungen dafür, daß nationale Identität durch eine darüber gewölbte supranationale Identität ergänzt oder auch verdrängt wird. Sein Fazit ist klar: Europäische Identität ist möglich und hat große Chancen, an politikbestimmender Kraft zu gewinnen. Daß diese Identität weniger mit dem kulturellen Erbe des in seinen Grenzen ohnehin schwer faßbaren Kontinents zu tun hat und mehr mit der politischen und zivilgesellschaftlichen Gegenwartskultur, darauf nimmt Michael Dauderstädt in seiner Forderung Bezug, die Unionsmitgliedschaft gegebenenfalls auch für nichteuropäische Länder zu öffnen (siehe hierzu auch Matthes Buhbe in unserer vorangegangenen Ausgabe).

Anders als bei der Frage nach einer übergreifenden europäischen Identität geht es in Gunter Schuberts Beitrag zur Taiwanfrage um die Herausbildung einer abtrennenden Identität, die notwendigerweise in Konflikt gerät mit entgegengesetzten Integritätsansprüchen. Winfried Veits Israel-Artikel richtet den Blick auf die "Identitätssuche" einer Nation, die sich in ihrem Bestand in keiner Weise infrage stellen will, aber deren einst dominierendes Selbstverständnis durch die Herausforderung konkurrierender Selbstverständnisse und die Profanisierung einstiger nationaler Symbole erschüttert ist. Renate Dieterichs Analyse der jordanischen Entwicklung schließlich führt uns einen Staat vor Augen, mit dem sich seit seiner Gründung ein Großteil der Bevölkerung nicht identifiziert, oder anders ausgedrückt, der sich einem Großteil seiner Bevölkerung oktroyiert.

Während in dem begrifflichen Dreieck von "Völkern", "Nationen" und "Staaten" die Frage nach der politischen Aufteilung der Welt, also letztlich nach der Zuteilung von Autonomierechten, weiterhin mit Vehemenz aufgeworfen wird, stellt sich von jeher die Frage nach der Handhabung derartiger Rechte angesichts der zunehmenden faktischen Verbundenheit mit dem Rest der Welt. Die vorliegende Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT beleuchtet mehrere Aspekte dieser Problematik.

Auch in unserer Zeitschrift wurde immer wieder der Gedanke diskutiert, die ökonomische Globalisierung lasse gesellschaftliche Belange zu kurz kommen. Die feministische Ökonomin Elisabeth Stiefel gibt diesem Gedanken eine radikale Wendung, indem sie jenseits aller Fragen nach nationalen Politikspielräumen den Grundgegensatz von sozialer Vernunft und der gleichsam entfesselten Rationalität der globalen Ökonomie thematisiert. Um den "klassischen" Gegensatz von nationalstaatlicher Fähigkeit, (legitime und weniger legitime) Regeln und Grenzen zu setzen, einerseits, und der Grenzen mißachtenden Dynamik transnationaler Prozesse andererseits geht es in Alexander Gruhlers Artikel, allerdings auf dem bislang wenig beachteten Gebiet der Information, die das Internet, jener virtuelle globale Zeitungskiosk und Lesesaal, grenzenlos verfügbar macht.

Wie gehen Staaten von begrenzter Souveränität miteinander um? Dieses Heft offeriert zwei (implizite) Perspektiven. In Form organisatorischer Überlegungen plädiert der Bonner Ministerialbeamte Adolf Kloke-Lesch letztlich für nichts weniger als die Abkehr von der frommen Ideologie der Entwicklungshilfe und die Anerkennung der Realität der - von nationalen Zielen geleiteten - Einwirkung auf die gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse in anderen Ländern. Eine logische, wenn auch kontroverse, politische Antwort auf die Erkenntnis, daß derartige Verhältnisse die nationalen Interessen berühren! Robert Christian van Ooyens kurze Zwischenbilanz der Bemühungen um die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs ist im Kontext jener "Zivilisierung" der internationalen Gesellschaft zu sehen, die seit Generationen auf der kollektiven Agenda der Staaten steht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition bb&ola&juliag | März 1999