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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1998
Robert Christian van Ooyen
Auf dem Weg zu einer wirksamen internationalen Strafgerichtsbarkeit: eine Zwischenbilanz

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Am 8. August 1945 schlossen die vier Siegermächte Großbritannien, USA, UdSSR und Frankreich das Londoner Abkommen zur strafrechtlichen Verfolgung der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Obwohl noch weitere Staaten beitraten, waren die in Nürnberg - und auch Tokio - gebildeten Gerichte keine internationalen "sondern interalliierte Gerichte, deren eigentliche Rechtsgrundlage... in Art. 43 HLKO (Besatzungs-gericht) gesehen wird". Dieser Schritt markierte, hervorgerufen durch die Ungeheuerlicheit der Verbrechen und möglich durch den einhelligen politischen Willen, nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, aber einen Wendepunkt im Völkerrecht. In seinem Artikel 6 sah das Statut des Gerichtshofs unmißerständlich vor, daß der jeweilige Täter "persönlich verant-wortlich" ist und begründete die Zuständigkeit bei:

  • Verbrechen gegen den Frieden
  • Kriegsverbrechen
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Gegen den Einwand, daß das Völkerrecht sich bisher allein auf Handlungen der souveränen Staaten beziehe und keine Bestrafung von Einzelpersonen vorsähe, führte das Gericht aus: "Daß das Völkerrecht Einzelpersonen so gut wie Staaten Pflichten und Verbindlichkeiten auferlegt, ist längst bekannt... Verbrechen gegen das Völkerrecht werden von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen, und nur durch Bestrafung jener Einzel-personen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden... Derjenige, der das Kriegsrecht verletzt, kann nicht Straffreiheit deswegen erlangen, weil er auf Grund der Staatsautorität handelte, wenn der Staat Handlungen gut heißt, die sich außerhalb der Schranken des Völkerrechts bewegen".

So wurden von den zweiundzwanzig Angeklagten in Nürnberg zwölf zum Tode verurteilt - gegen den Reichsleiter der NSDAP Bormann erging das Urteil in Abwesenheit - sieben zu langjährigen Haftstrafen zwischen 10 Jahren und lebenslänglich, drei Angeklagte gegen den Willen des sowjetischen Mitglieds des Gerichtshofs freigesprochen.

Der Nürnberger Prozeß betraf jedoch nur die Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher, "... für deren Verbrechen ein geographisch bestimmbarer Tatort nicht vorhanden ist". Weitere Prozesse wurden daher nicht vor dem interalliierten Gericht verhandelt, sondern kamen vielmehr zur gerichtlichen Verfolgung im jeweiligen Besatzungsgebiet, wie z.B. die sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen in der amerika-nischen Zone.

Die Konvention zum Verbot des Völkermords

Mit Abschluß des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses im Oktober 1946 bestätigte die UNO-Generalversammlung im Dezember durch Resolution die "Nürnberger Prinzipien" und erteilte der International Law Commission (ILC) den Auftrag, die im Statut und im Nürnberger Urteil zum Ausdruck gebrachten anerkannten Völkerrechtsgrundsätze kodifiziernd zusammenfassen. Außerdem gelang es der Völkerrechtsgemeinschaft noch einmal, bevor die Anti-Hitler-Koalition endgültig zerbrach und die Blockkonfrontation zum lange Jahre beherrschenden und lähmenden Faktor wurde, den politischen Willen für einen Ordnungsansatz aufzubringen und im Dezember 1948 die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords" zu schließen. Diese brachte endlich eine positivrechtliche Regelung, auch wenn zunächst einmal nur sichergestellt wurde, daß sich die unterzeichnenden Staaten völkerrechtlich verpflichten, in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung den Völkermord einschließlich Versuch unter Strafe zu stellen.

Dabei durchbricht die Konvention insofern den Grundsatz der Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht, als daß sie einschlägige Verbrechen als Verbrechen gegen internationales Recht ausweist und die Möglichkeit einer internationalen Strafgerichtsbarkeit eröffnet: "Personen, denen Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen zur Last gelegt wird, werden vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist oder vor das internationale Strafgericht gestellt, das für die Vertragsschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist."

Gleichwohl sollte dieser bahnbrechende Ansatz in der folgenden Praxis der Staaten keine Rolle mehr spielen. Nicht einmal das eklatanteste Beispiel, die Terrorherrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot in Kambodscha, zeitigte angesichts der machtpolitischen Lage in dieser Hinsicht Konsequenzen. Prägnantester Ausdruck dieser Zeit war die Blockierung des UN-Sicherheitsrats durch die Veto-Praxis der fünf ständigen Mitglieder.

Die neue Entwicklung in den UN

Mit der Zeitenwende von 1989/90 wurde politisch der Weg frei für eine Deblockierung der UN, auch wenn die zunächst aufkommende Euphorie einer "Neuen Weltordnung" schnell einer skeptischeren Sicht der Dinge weichen mußte. Immerhin drückte sich in den Entscheidungen der UN jetzt auch ein "neues internationales Werteverständnis aus" bei dem es "nicht mehr allein um die Sicherheit von Staaten, sondern auch um die Sicherheit der in diesen Staaten lebenden Bevölkerungsgruppen" geht. Hatte das klassische Völkerrecht als Ius Publicum Europaeum die humanitäre Intervention vor allem als Eingriff in die Verhältnisse "nicht zivilisierter" Staaten gekannt, so suchte die UN-Charta - angesichts der offenkundigen Möglichkeiten des praktischen Mißbrauchs durch die nationalstaatliche "Kanonenbootpolitik" - mit Art. 2 Ziff. 4 die Anwendung jeglicher militärischer Gewalt im internationalen Verkehr zu bannen. Die humanitäre Intervention zum Schutz von Menschenrechten zählte daher "in den vergangenen Jahren zu den rechtlich umstrittensten Fragen des Gewaltanwendungsverbots". Gleichwohl gab es auch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts zwei Präzedenzfälle: Gegen die Apartheidregime in Rhodesien und Südafrika wurde zwar nicht zur bewaffneten Intervention geschritten, jedoch wegen der innerstaatlichen Verhältnisse Wirtschaftssanktionen durch Beschluß des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta verhängt. Dabei interpretierte man die in Artikel 39 der UN-Charta vorgegebene Mindestvoraussetzung "Bedrohung des Friedens" durchaus weit im Sinne eines positiven Friedensbegriffs, der sich nicht in der Abwesenheit von Krieg oder militärischer Gewalt erschöpft, sondern "als gute Ordnung verstanden wird". Daran anknüpfend subsumierte man insbesondere seit den Schutzmaßnahmen zugunsten der Kurden im Irak und dem Eingreifen in Somalia die humanitäre Intervention extensiv als "Frieden schaffende Maßnahme" unter Kapitel VII der UN-Charta, das ja das strenge Interventionsverbot ausdrücklich und grundsätzlich durchbricht.

Die UN -Gerichtshöfe für Jugoslawien und Rwanda

Die Einsetzung der Gerichte durch den Sicherheitsrat

Vor diesem Hintergrund des "Wertewandels" und neuer Handlungs-fähigkeit der Staatengemeinschaft vollzog sich die Einsetzung der neuen Gerichte zur Verfolgung der Verbrechen im früheren Jugoslawien und in Rwanda. Bezeichnenderweise sind beide - aus rechtsstaatlicher Sicht nicht unproblematisch - als Ad-Hoc-Gerichte durch Beschluß des Sicherheits-rats errichtet worden. Dafür mag es rechtspolitisch zwei Gründe gegeben haben: Erstens ist der seit 1992 von der ILC im Auftrag der General-versammlung wieder aufgenommene Versuch zur Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, sei es durch Änderung der UN-Charta oder sei es durch eine eigene völkerrechtliche Konvention, angesichts des akuten Handlungsbedarfs langwierig - auch wenn inzwi-schen der Statutenentwurf vorliegt. Abgesehen von der ohnehin be-stehenden Problematik rückwirkender Anwendung wird man zweitens eine vorbehaltlose Unterwerfung unter die neue gerichtliche Zuständigkeit realistischerweise gerade für die aktuellen Fälle nicht erwarten können. Hinsichtlich der Verfolgung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und Rwanda blieb als positivrechtliche Verankerung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit daher nur der Weg über die "Hintertür" des sekundären Völkerrechts, den man mit Beschluß des Sicherheitsrats vom Mai 1993 auf der Grundlage des Kapitels VII der UN-Charta beschritt.

Dieses Verfahren ist nur als Zwischenlösung befriedigend. Denn seine Einsetzung hängt letztlich von der auf den Einzelfall bezogenen Entscheidung eines politischen Gremiums ab. In den Fällen "Rwanda" und "Jugoslawien" ergaben sich im Sicherheitsrat politisch einmütige Beschlüsse; in anderen, gleich gelagerten mögen solche Beschlüsse und damit eine Strafverfolgung durch ein UN-Gericht dann ausbleiben.

Aufbau, Zuständigkeit und Verfahren

Abgesehen von diesem Makel einer politisch eingesetzten ad-hoc-Gerichtsbarkeit, der auf Dauer nur durch die Errichtung eines ständigen Strafgerichtshofes beseitigt werden könnte, garantiert der zuerst eingerichte Jugoslawien-Strafgerichtshof - jener für Rwanda ist diesem nachgebildet - in der konkreten Ausgestaltung des Statuts ein unabhängiges und faires Verfahren. Die Besetzung der elf Richter (auf vier Jahre) erfolgt auf Vorschlag des Sicherheitsrats durch Wahl von der Generalversammlung mit absoluter Mehrheit. Sie verteilen sich auf zwei Strafkammern mit je drei und einer Berufungskammer mit fünf Richtern. Weiters wird ein Chefankläger vom Sicherheitsrat auf Vorschlag des UN-Generalsekretärs auf vier Jahre ernannt. Die Zuständigkeit des Gerichts erstreckt sich auf die "schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht" und focussiert dabei die folgenden Tatbestandsbereiche:

  • Verletzungen der Genfer Abkommen
  • Verstöße gegen die Gesetze oder Gebräuche des Kriegs
  • Völkermord

Darüber hinaus enthält das Statut mit Artikel 5 einen Auffangtatbestand, der sich im materiellen Katalog bisweilen mit den einzelnen Tatbeständen des Artikels 2 und seiner Folgeartikel überschneidet, sich auf international bewaffnete Konflikte wie Bürgerkriege bezieht und schließlich im letzten Absatz mit der Formulierung "andere unmenschliche Handlungen" den Nürnberger Grundsatz "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" fast wörtlich aufnimmt. Allerdings wurde im Unterschied zu Nürnberg auf die Aufnahme eines dem "Verbrechen gegen den Frieden" analogen Straftatbestands im Sinne einer strafrechtlichen Verfolgung der Aggression völlig verzichtet. "Offensichtlich haben Großmachtinteressen bei diesen Auslassungen die Feder geführt". So urteilt auch der deutsche Außenmi-nister bzgl. der Aufnahme gerade dieser Bestimmung in das Statut des zu errichtenden ständigen Internationalen Strafgerichtshofs skeptisch: "Die Einbeziehung des Angriffskriegs in das materielle Strafrecht des Gerichts ist derzeit noch etwas unsicher. Wir setzen uns in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz (Art. 26) und unserem Strafrecht (§§ 80, 80 aStGB) nachdrücklich dafür ein".

In dieser Hinsicht fällt die durch die UN-Gerichte initiierte Entwicklung hinter Nürnberg zurück. Dagegen zeigen einige andere Bestimmungen in den Satuten eine stärkere Absicherung des justiziellen Grundrechtsschutzes bzw. prozessualer Gewährleistungen als Garanten eines fairen Verfahrens. Im Unterschied zu Nürnberg ist eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten nicht zulässig und demgegenüber die Überprüfung des Urteils durch eine zweite Instanz (Berufungskammer) gegeben. Hatte das Statut des Nürnberger Gerichts vor allem auch die Todesstrafe zugelassen, so beschränken sich die UN-Gerichte grundsätzlich auf Freiheitsstrafen. Ausdrücklich findet sich der Verweis, daß bei der Strafzumessung die Praxis jugoslawischer bzw. rwandischer Gericht zu berücksichtigen sei. Durch diesen Bezug wird dem Problem rückwirkender Strafgesetzgebung die Schärfe genommen, da die zu beurteilenden Tatbestände auch nach dem jeweiligen nationalen Strafrecht entsprechend strafbar waren.

Politische Bedingungen der Funktionsfähigkeit

Natürlich ist in den Statuten der Gerichtshöfe verankert worden, daß alle Staaten verpflichtet sind, deren Arbeit zu unterstützen - insbesondere Verfügungen Folge zu leisten, die sich auf Festnahme und Überstellung der mutmaßlichen Täter beziehen. Dies ist Voraussetzung angesichts der rechtlichen, aber eben auch aus Gründen der Effektivität unverzichtbaren Vorgabe, daß keine Verurteilung in Abwesenheit erfolgt.

Schon der Versuch nach dem Ersten Weltkrieg auf der Grundlage des Versailler Vertrags den deutschen Kaiser vor ein internationales Gericht zu stellen, scheiterte 1920 an der Weigerung Hollands, Wilhelm II. auszuliefern, der sich seit November 1918 dort im Exil aufhielt. Weitere Strafprozesse überließ man schließlich der deutschen Justiz - sie verliefen einige Jahre später überwiegend im Sande. Dagegen ermöglichte im Falle des Nürnberger Verfahrens die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten die Festnahme der Kriegsverbrecher, soweit sie sich nicht durch Selbstmord oder Flucht ins Ausland der Verantwortung entzogen hatten. Was die Hauptkriegsverbrecher anlangte, so hatten die Amerikaner die meisten festgesetzt. Damit waren sie auch "in der stärksten Position und bestimmten das Vorgehen". Gleichzeitig erleichterte die Besatzung Deutschlands die Beweissicherung, zumal den Alliierten Berge von Akten in die Hände fielen, die die Greueltaten in deutscher Verwaltungsgründ-lichkeit dokumentierten.

Bei den derzeitigen Verfahren liegen die Dinge nicht ganz so günstig. Die Beweissicherung vor Ort ist schwierig und mit mühsamer Zeugenbefragung verbunden. Für das Jugoslawien-Gericht ergibt sich Ende 1997 die aktuelle Bilanz, daß sich von derzeit über 80 Angeklagten nur sieben in Haft befinden. Immerhin gingen 1997 erstmals Truppen der UN Stabilization Force (Sfor) in Bosnien gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher vor, freilich nicht ohne beißende Kritik durch das russsische Außenministerium, das den Sfor-Truppen ein solches Mandat absprach. Von der Anklage gesuchte Hauptverantwortliche wie Karadzic blieben außerdem vom Zugriff bisher verschont. Da diese nach wie vor in der bosnischen Serbenrepublik einen ausreichenden machtpolitischen Rückhalt besitzen, befürchtete man bei einer gewaltsamen Festnahme eine Gefährdung des gesamten, labilen Friedensprozesses.

Hier offenbart sich das Dilemma für den zu errichtenden ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Wenn überhaupt die Chance einer zumindest ansatzweisen effektiven Strafgerichtsbarkeit gegeben sein soll, dann wäre seine Integration - etwa neben dem IGH als zweitem Gerichtsorgan - in das System der UN zwingend. Nur so "würde justizförmiger Streitentscheidung und Friedenssicherung durch (Straf-) Recht... der angemessene Stellenwert... gegeben und dessen Legitimation erhöht". Politisch liegt hierfür die Hürde allerdings hoch, da eine Änderung der UN-Charta die Ratifikation von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats erfordert. Diese Schwierigkeit kann durch die ebenfalls als Entwurf vorliegende sogenannte "Konventionslösung" umgangen werden. Zur Schaffung des Gerichtshofs durch einen eigenen, seperaten völkerrechtlichen Vertrag bedarf es ja "nur" des Einvernehmens der vertragsschließenden Parteien, also der "gerichtsfreundlichen" Staaten. Allerdings würden auch nur diese verpflichtet werden (in der Hoffnung, daß mit der Zeit weitere die Konvention ratifizieren). Und ein Gerichtshof, dem bei seiner Gründung eine Vielzahl von Staaten, darunter wichtige Groß- und regionale Mittelmächte fernblieben, riskiert aufgrund der daraus resultierenden mangelnden Funktionsfähigkeit eine wirksame internationale Strafgerichtsbarkeit auf Jahre hinaus zu blockieren. Demgegenüber erweist sich der erreichte Standard von ad hoc eingesetzten UN-Gerichten schon jetzt als bessere Lösung. Genau das muß sich die entscheidende internationale Konferenz vor Augen führen, die im Sommer 1998 in Rom tagt.


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