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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1998
Michael Dauderstädt
Das differenzierte Europa differenziert erweitern

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Mit der Entscheidung des EU-Gipfels von Luxemburg im Dezember 1997 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit sechs Ländern (Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) hat die EU eine neue Erweiterungsrunde eingeläutet. Die Übernahme der Kommissionsempfehlung durch den Rat geschah aber auf dem Hintergrund zahlreicher offener Fragen, deren Beantwortung die Union bisher gerne auswich: Kann die Union in ihrer jetzigen Verfassung eine solche Erweiterung verkraften ? Welche Differenzierungen sind - vor allem im Zuge und nach der Erweiterung - in der Union nötig, um den wahrscheinlich immer schwieriger zu vereinbarenden unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten der Mitglieder Rechnung zu tragen ? Wie tragfähig ist die Differenzierung, die die EU über die Auswahl der Verhandlungspartner der ersten Runde unter den Antragstellern vorgenommen hat? Und schließlich: Wie sollte die EU unter denen weiter differenzieren, die jetzt nicht unter den erwählten sechs Ländern sind oder gar nicht einmal assoziiert und Antragsteller ?

Nach viereinhalb Erweiterungen: Vertiefung trotz Differenzierung

Die EU der 15 in ihrer heutigen Gestalt ist das Ergebnis von vier Erweiterungsrunden und dem Beitritt der DDR-Länder zur Bundesrepublik:

  • 1973: Großbritannien, Irland und Dänemark
  • 1980: Griechenland
  • 1985: Spanien und Portugal
  • (1990: DDR)
  • 1994: Österreich, Schweden und Finnland

Jede dieser Erweiterungen differenzierte zwangsläufig die EG/EU. Sie wurde vielfältiger, mit neuen Problemen, Möglichkeiten und Interessen. Die Anzahl der Sprachen erhöhte sich, die Organe (Rat, Kommission, Parlament) wuchsen. Die Erweiterungsrunden brachten neue EU-Fonds oder Transferregelungen (z.B. Regionalfonds, Mittelmeerprogramm, Kohäsionsfonds, Ziel-6-Regionen), um den besonderen Bedürfnissen der Neumitglieder Rechnung zu tragen.

Mit Großbritannien orientierte sich die EG globaler und atlantischer. Generell weniger an Vertiefung interessiert, nahm das Inselreich an Projekten wie Schengen, der Währungsunion oder der Sozialcharta nicht oder erst verspätet teil. Mit Griechenland trat der EU ein armes Land mit großen Modernisierungsblockaden bei, das sich vor allem von der Türkei, später auch von Mazedonien bedroht fühlte und die Beziehungen der EU zu diesen Nachbarländern komplizierte. Der Beitritt Spaniens und Portugals erhöhte das Gewicht der regionalen Disparitäten enorm. Mit der DDR machte die EU ihre ersten und eher negativen Erfahrungen mit der Integration postkommunistischer Ökonomien. Zuletzt traten drei wirtschaftlich gut entwickelte, aber bisher neutrale und eher kontinentaleuropäisch orientierte Länder bei.

Trotz dieser Erweiterung und Differenzierung gelang es der EU gleichzeitig, die Integration weiter zu vertiefen. 1985 wurde der einheitliche Binnenmarkt aus der Taufe gehoben und 1992 in Maastricht die Wirtschafts- und Währungsunion auf den Weg gebracht. Die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Innen- und Rechtspolitik werden in den beiden neuen Säulen der Integration stärker koordiniert. Die Neumitglieder mußten beim Beitritt dieses jeweils höhere Integrationsniveau erklimmen.

Je tiefer die Integration in der Union reicht, desto eher haben einzelne Mitglieder Probleme, die Vertiefung mit zu vollziehen. In der Integrationsdebatte gibt es eine Fülle von Differenzierungsmodellen wie "Kerneuropa", "Variable Geometrie" oder "Europa à la carte". In der Praxis haben schon immer einige Mitglieder bestimmte Gemeinschaftspolitiken (Sozialcharta, Währungsunion) nicht mitgetragen ("opting out") oder deren Umsetzung in nationales Recht verzögert (z.B. beim Binnenmarkt). Davon zu unterscheiden, aber mit ähnlichem Effekt, ist der Wunsch und die Kooperation einiger Mitglieder, in bisher von der Union nicht geregelten Bereichen die Integration zu vertiefen, individuell z.B. durch strengere Umweltauflagen nach Art 100a EGV oder als Gruppe z.B. durch das Schengener Abkommen vor seiner Einbettung in den Amsterdamer Vertrag. Diese Möglichkeit ist unter engen Voraussetzungen seit Amsterdam als "Flexibilität" oder "engere Zusammenarbeit" vertraglich vorgesehen. In der Sicherheitspolitik unterscheiden sich die EU-Länder durch die unterschiedliche Mitgliedschaft bei NATO und WEU.

Im Ergebnis bietet die Integrationswirklichkeit ein differenziertes Bild, das von Nichtmitgliedern mit einem schon fortgeschrittenen Grad an Anpassung an den acquis communautaire über Neumitglieder mit Übergangsregelungen und Altmitglieder mit Vertiefungsvorbehalten bis zu enger zusammenarbeitenden "Kernländern" reicht. In Amsterdam sind nicht nur die Möglichkeiten für die innere Differenzierung erweitert, sondern auch alte Ausreißer wieder eingefangen worden, indem z.B. Schengen in die erste Säule überführt (aber nicht auf alle Mitglieder angewandt) wurde. Mit der britischen Unterschrift unter die Sozialcharta und dem Auslaufen der letzten Übergangsfristen aus der Süderweiterung sind weitere Ausnahmefälle beseitigt.

Aber die Währungsunion hat mit der unterschiedlichen Erfüllung der Maastrichtkriterien im Vorlauf und mit der Auswahl ihrer Mitglieder für die Startphase diese Differenzierung nochmals dramatisch betont, wie an der Frage des Euro-X-Gremiums deutlich wurde. Selbst unter den Teilnehmern der Startphase der Währungsunion bestehen noch erhebliche Unterschiede in der volkswirtschaftlichen Situation (Konjunktur, Staatshaushalt, etc.) und in der nationalen Kaufkraft nominal gleicher Währungsbeträge (d.h. zu gegenwärtigen Wechselkursen und demnächst in Euro).

Die gegenwärtige Erweiterungsrunde

Dieser beispiellos vertieften, aber immer noch differenzierten Union wollen die zehn mit der EU assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische und Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien, Bulgarien und Rumänien) beitreten. Seit 1994 haben sie alle formell die Aufnahme in die EU beantragt. Mit fünf dieser Antragsteller und Zypern sollen konkrete Beitrittsverhandlungen beginnen. Vor allem in Mittel- und Osteuropa haben bereits Stimmen aus zahlreichen weiteren Ländern Interesse an einem EU-Beitritt bekundet, ohne bisher formelle Anträge zu stellen. Ältere Anträge seitens Norwegens, der Schweiz, der Türkei, Marokkos und Maltas wurden zunächst abgelehnt oder von den Antragstellern (vorläufig ?) zurückgezogen. Wie kam es zu dieser Differenzierung ?

Art. O des EU-Vertrags (früher: Art. 237 des EWG-Vertrages) legt fest, daß "jeder europäische Staat" die Aufnahme beantragen kann. Bei geographischer Auslegung von "europäisch" schließt dies nach dem Zerfall Jugoslawiens, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion neben den oben genannten Ländern mindestens neun weitere, nämlich Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Restjugoslawien (Serbien-Montenegro), Mazedonien (FYROM), Albanien, Moldawien, Belarus, die Ukraine und Rußland ein. Wahrscheinlich wären auch die drei Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbaidschan hinzuzufügen. Von den fünf zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion kann bestenfalls Kasachstan beanspruchen, partiell noch auf europäischem Boden zu liegen, da der Verlauf der Kontinentalgrenze zwischen Kaspischem Meer und Ural unklar definiert ist.

Im Selbstverständnis der EU beschränkt sich dies jedoch auf Demokratien. Der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen und Planwirtschaften, dem viele dieser Länder überhaupt ihre neue Existenz als unabhängige Nationalstaaten verdanken, hat ihnen allen den Weg zur Demokratie geöffnet. Sie haben ihn nicht alle und mit unterschiedlichem Erfolg beschritten. Wählt man als Mindestkriterium für erfolgreiche Demokratisierung die Aufnahme in den Europarat, so erfüllen Moldawien, die Ukraine, Rußland, Albanien, Mazedonien und Kroatien diese Bedingung.

Die EU hat in der ersten Hälfte der 90er Jahre dem Transformationsprozeß in Mittel- und Osteuropa in wenig systematischer Weise Rechnung getragen. 1991 schloß sie die ersten Assoziationsabkommen mit den damals noch drei Visegradländern (Polen, Ungarn und Tschechoslowakei). 1993 kamen Bulgarien und Rumänien dazu, und die inzwischen getrennten Staaten Tschechien und Slowakei erhielten neue Abkommen. 1995 begannen die Verhandlungen mit den baltischen Ländern und Slowenien. Die zeitliche Differenzierung erfolgte aus unterschiedlichen Gründen. Während die beiden südosteuropäischen Länder wegen ihres langsameren Transformationstempos später abschlossen, zögerte die EU bei den anderen eher wegen der außenpolitischen Probleme.

Die Präambeln dieser "Europaabkommen" sahen schon eine Beitrittsperspektive vor, die die EU in den Folgejahren präzisierte. Auf dem Gipfel von Kopenhagen beschloß der Rat 1993, daß alle assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas Mitglieder werden können, sofern sie es wünschen und die notwendigen Bedingungen erfüllen. Als Voraussetzungen für einen Beitritt nannte er fünf Kriterien: 1. Demokratie und Rechtsstaat, 2. Marktwirtschaft, 3. Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt, 4. Übernahme des acquis communautaire und Übereinstimmung mit den Zielen der politischen Union und der EWWU, 5. Integrationsfähigkeit der EU.

Es ist bezeichnend, daß die EU seit 1995 keine weiteren Assoziierungsverhandlungen begonnen hat. Sicher sind die nicht assoziierten Mitglieder des Europarates problematische Kandidaten. Sie sind erst halb reformiert, zeigen teilweise autoritäre Tendenzen und haben spannungsvolle Beziehungen zu ihren Nachbarn. Aber dies kann man - oder konnte man phasenweise - auch für einige assoziierte MOE-Staaten sagen. Der Verdacht liegt nahe, daß Mazedonien, Albanien und Moldawien - um nur die weniger problematischen zu nennen - vor allem deswegen nicht assoziiert werden, um eine in den Augen mancher ohnehin schon zu lange Liste von Beitrittskandidaten nicht weiter zu verlängern. In dieser Haltung drücken sich auch die wachsenden Bedenken mancher Mitglieder bezüglich der politischen und finanziellen Kosten einer Erweiterung aus (vgl. 3.). So schloß die EU mit den meisten der übrigen europäischen und einigen zentralasiatischen Ländern Partnerschafts-, Handels- und/oder Kooperationsabkommen. Sie empfangen außerdem EU-Hilfen aus den Programmen PHARE und TACIS.

Unter den zehn assoziierten Beitrittskandidaten wählte die Kommission dann 1997 fünf Länder aus, mit denen gemäß Entscheidung des Luxemburger EU-Gipfels die Beitrittsverhandlungen 1998 beginnen. Die Auswahl erfolgte aufgrund intensiver Analysen der Beitrittsfähigkeit der Antragsteller auf der Grundlage umfangreicher Fragebögen, die die Kandidaten zu beantworten hatten. Als Maßstab dienten die Kopenhagener Kriterien. Von den fünf zunächst zurückgestellten Bewerbern scheiterten die meisten an der Hürde der Wettbewerbsfähigkeit und des acquis communautaire. Lediglich bei der Slowakei sah die Kommission auch Probleme mit der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz. Die Integrationsfähigkeit der EU selbst (das 5. Kriterium) hielt die Kommission unter den optimistischen Annahmen (vor allem bzgl. des Wachstums) ihrer "Agenda 2000" in finanzieller und institutioneller Hinsicht für erreichbar, wenn Struktur-, Regional- und Agrarpolitik entsprechend reformiert werden. Die Vorschläge der Kommission vom 18.3.98 stießen aber in den EU-Mitgliedsstaaten wie zu erwarten auf Widerstand.

Einige Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament kritisierten die Auswahl und die darauf aufbauende Entscheidung, die Verhandlungen nicht gleichzeitig mit allen Kandidaten aufzunehmen. Vor allem die Griechen und die Skandinavier bevorzugten ein Startlinienmodell, bei dem alle Kandidaten gleich antreten und sich eine Differenzierung erst im Laufe der Verhandlungen ergibt. Doch können sich die zurückgesetzten "pre-ins" und ihre Anwälte in der EU damit trösten, daß im Zuge jährlicher Nachprüfungen das Urteil der Kommission revidiert werden kann und während der Verhandlungen alle Kandidaten durch Beitrittspartnerschaften, Mitgliedschaft in einer "Europäischen Konferenz" und besondere Hilfen weiter an die EU-Mitgliedschaft herangeführt werden sollen.

Die Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten

Die so erfolgte Differenzierung in sechs Verhandlungspartner, fünf bzw. sechs (wenn man die Türkei dazu zählt) "pre-ins" und sechzehn europäische Länder (mit Schweiz, Island, Norwegen, Malta und Kaukasus, aber nicht Zentralasien; darunter zehn Europaratsmitglieder) spiegelt einen politischen Prozeß wider, in den unterschiedliche Interessen der Nachbarländer, der Mitgliedsstaaten und der EU selbst einflossen. Diese Interessen werden im Zuge der Beitrittsverhandlungen sicher noch an Bedeutung gewinnen und für weitere Differenzierungen sorgen.

Die EU als teils supranationale, teils intergouvernmentale Organisation hat zwar eigene Interessen, insbesondere als Institution, was ihre Handlungsfähigkeit, ihre Strukturen und Finanzen betrifft. Dies gilt auch für einzelne Organe wie z.B. das Europäische Parlament. Aber die wesentlichen politischen Interessen resultieren aus den Interessen der Mitgliedsstaaten. Diese Interessen lassen sich im Erweiterungsbereich in zwei wichtige Gruppen einteilen:

  • Die Interessen, die sich aus den Beziehungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten zu den Beitrittsländern ergeben, und
  • die Interessen, die sich aus den erwarteten Wirkungen der Erweiterung auf die Union ergeben.

Das relative Gewicht des ersten Interesses steigt mit der geographischen Nähe des jeweiligen Mitgliedsstaates zu Mittel- und Osteuropa. "Frontstaaten" wie Deutschland sowie - deutlich schwächer - Österreich, Italien, Griechenland, Finnland und Schweden haben relativ enge Beziehungen zu den Beitrittskandidaten. Sie sind die wichtigsten europäischen Handelspartner und Investoren für und in Mittel- und Osteuropa. Sie profitieren daher am stärksten von Prosperität und Wachstum in der Nachbarregion. Umgekehrt sind sie am meisten von Krisen und Instabilität in Mittel- und Osteuropa und deren Folgen wie z.B. Migration betroffen. In der Regel treten sie vor allem für die Aufnahme ihrer unmittelbaren Nachbarn in die EU ein (Skandinavier für die Balten; Deutschland für Polen und Tschechien; Österreich für Ungarn, Slowakei und Slowenien usw.), wenn sie nicht gerade mit ihnen in Feindschaft stehen (wie Griechenland bei Mazedonien und Türkei). Allerdings sind in einigen Grenzländern auch die Sorgen im Falle einer Erweiterung wegen der befürchteten Zuwanderung besonders groß. Dieser Bedenken wegen fordern sie lange Übergangsfristen bei der Freizügigkeit.

Für die anderen EU-Mitglieder treten diese mehr ökonomischen und sozialen Interessen hinter allgemeinen außenpolitischen Zielen zurück. Vor allem in der entscheidenden Phase bis 1992 ging es auch um die Sicherung der Reformen und der Transformation vor einem Rückfall der sowjetischen Politik in alte Tendenzen der Kontrolle Mittel- und Osteuropas. Im Fall der Türkei treten einige EU-Staaten ebenfalls aus strategischen Gründen für eine Aufnahme ein. Griechenland hat sich aus außenpolitischen und kulturellen Gründen für Zypern eingesetzt, Frankreich für Rumänien (vor allem bei der NATO-Erweiterung). Dabei geht es den Altmitgliedern sowohl um eine engere Bindung der Beitrittskandidaten an die EU als auch um deren wirtschaftliche und politische Stabilisierung.

Diese nach außen gerichteten Interessen konkurrieren mit den hautnaheren und daher oft stärkeren EU-bezogenen Interessen. Für eine Erweiterung spricht hier bei den weniger betroffenen Mitgliedern vor allem das Bedürfnis, nicht den Interessen so wichtiger Staaten wie Deutschland und der anderen "Frontstaaten" im Wege zu stehen. Mitglieder wie Großbritannien oder Dänemark, die einer weiteren Vertiefung ohnehin keine so große Bedeutung beimessen oder ihr skeptisch gegenüberstehen, betrachten die aus einer Erweiterung eventuell resultierende Verwässerung der EU auch mit "wohlwollender Gleichgültigkeit".

Dagegen formiert sich zunehmender Widerstand seitens der Länder, die sich als Opfer einer Osterweiterung sehen. Dazu zählen die Empfänger der Transfers aus den Strukturfonds, allen voran Spanien, die befürchten müssen, daß sie als inzwischen reicher gewordene Regionen nicht mehr zu den Fördergebieten in einer nach der Erweiterung im Durchschnitt ärmeren Union zählen werden. Die Kosten einer Erweiterung zählen auch zu den Sorgen der Nettozahler in der Union. Aber auch der Verlust an Macht in den EU-Organen, insbesondere bei reformierten Entscheidungsregeln, und die Verlagerung des Zentrums der Union nach Osten beunruhigen viele der westlicheren Altmitglieder.

Unterhalb der Ebene der Regierungen fürchten auch viele gesellschaftliche Gruppen die Anpassungszwänge, die eine Osterweiterung oder eine Aufnahme der Türkei in Gestalt von Migration, verschärfter Konkurrenz oder Kürzung der Agrarsubventionen im Zuge einer notwendigen Reform der gemeinsamen Agrarpolitik mit sich brächte. Die ohnehin euroskeptischen Rechtspopulisten, die in vielen Mitgliedsstaaten an Bedeutung gewonnen haben, können diese Sorgen nutzen, um ihren Zulauf zu mehren. Die mächtigeren der gesellschaftlichen Interessen beeinflussen auch die Haltung wichtiger Mitgliedsregierungen. Nicht zuletzt Deutschland verfolgt hier eine inkonsistente Zieltriade von Erweiterung, Beitragsreduzierung und Beibehaltung der bisherigen Agrarpolitik.

Viele Beobachter sehen einen sich zuspitzenden Konflikt zwischen dem - spätestens seit Amsterdam eklatanten - Reformstau in der Union und der Dynamik der Erweiterung. Einerseits mag man hoffen, daß die Erweiterung die Reform der EU voranbringt und darin einen ihrer Nutzeffekte sehen. Andererseits steht zu befürchten, daß die Erweiterung an der Reformunfähigkeit der Union scheitert oder die weitere Vertiefung und Gemeinschaftsbildung blockiert. Diese widersprüchlichen Interessen werden im Laufe der Beitrittsverhandlungen an Gewicht gewinnen und maßgeblich den Zeitpunkt des Beitritts, die Auswahl der beitretenden Länder und die Struktur der Beitrittsmodalitäten bestimmen.

Die Interessen der Beitrittskandidaten

Wer, wann und wie beitritt, hängt nicht zuletzt von den Kandidaten selbst ab. Häufig wird in der westeuropäischen Debatte übersehen, daß es nicht nur um die Entscheidung der EU geht, ein Land aufzunehmen. Zwar liegen mit den Beitrittsanträgen im Prinzip klare Absichtserklärungen der Kandidaten vor. Aber sie spiegeln politische Konstellationen wider, die permanenten Veränderungen unterworfen sind. Schon früher haben Länder wie Norwegen, die Schweiz oder Malta ihre Anträge wieder zurückgezogen. Wenn der tatsächliche Beitritt obendrein Gegenstand eines Referendums im Beitrittsland ist, so spielen nicht nur die Wünsche der politischen und ökonomischen Eliten, sondern auch der Bevölkerung generell eine entscheidende Rolle.

Der bisher registrierten hohen Europabefürwortung in Ostmitteleuropa ist dabei kaum zu trauen. Sie verdankt sich wahrscheinlich weitgehender Unkenntnis über die Bedingungen und Wirkungen einer EU-Vollmitgliedschaft sowie der (falschen) Annahme, eine Mitgliedschaft brächte rasch westeuropäische Lebensverhältnisse für alle. Für diese Vermutung spricht u.a. die Tatsache, daß bei den gleichen Umfragen der Anteil der pro-europäischen Stellungnahmen deutlich über dem zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft lag (1992 wollten um die 80% der Befragten in die EU, aber nur um 60% befürworteten die Marktwirtschaft und knapp 30% waren mit der Demokratisierung zufrieden; bis 1997 ist der Anteil der Beitrittsbefürworter auf 61% gesunken, 56% hielten die Marktwirtschaft für gut und 38% waren mit der Demokratisierung zufrieden).

In der Tat gibt es in allen Beitrittsländern politische Kräfte, die gegen einen EU-Beitritt ihres Heimatlandes sind. Meist handelt es sich dabei um extreme Gruppen und Parteien ohne großen Rückhalt in der Wählerschaft. Aber mit dem Näherrücken eines möglichen Beitrittstermins, mit dem Auftreten harter Interessenkonflikte in den Verhandlungen und der deutlicheren Wahrnehmung möglicher Nachteile eines Beitritts schon während der Vorbeitrittsphase kann deren Bedeutung wachsen und/oder auch weniger extreme Kräfte können eine skeptischere Haltung einnehmen. Folgende Probleme könnten zu einem Sinneswandel bei den Beitrittskandidaten Anlass geben:

  • Werte: Viele Ostmitteleuropäer mißtrauen dem westeuropäischen Vorbild und wünschen eine Entwicklung auf der Grundlage eigener Werte und Traditionen (63% in Tschechien, 58% in der Slowakei, 63% in Ungarn). Viele Polen befürchten, daß die Integration ihre katholisch geprägte Kultur untergräbt und Prostitution, Homosexualität und Abtreibungen zunehmen läßt.
  • Nationale Souveränität: Alle Länder Mittel- und Osteuropas begrüßten das Ende der sowjetischen Herrschaft. Viele Länder entstanden neu als unabhängige Staaten aus dem Zerfall alter Föderationen wie der Sowjetunion, Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Allein von den zehn assoziierten Ländern zählen sechs zu dieser Gruppe. Einigen mag es schwer fallen, dieser neu gewonnenen Souveränität freiwillig Schranken aufzuerlegen, wie sie eine Abgabe von Kompetenzen an Brüssel mit sich bringt. Vielleicht ziehen einige Politiker in Mittel- und Osteuropa deshalb eine weniger föderalistische und mehr intergouvernmentale Union vor (z.B. der ehemalige tschechische Premier Vaclav Klaus). Die geplanten Reformen der EU-Entscheidungsprozesse sehen aber eher noch eine weitere Verringerung der Mitsprachemöglichkeiten kleiner Länder vor.
  • Wirtschaftliche Souveränität: Alle Beitrittskandidaten stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihre Wirtschaften zu modernisieren und einen Prozeß schnellen, aufholenden Wachstums zu organisieren. Die Erfahrungen erfolgreicher Schwellenländer legen nahe, daß dies am besten mittels interventionistischer Politiken gelingt. Eine EU-Mitgliedschaft schränkt die Spielräume für eine solche Strategie deutlich ein. Darüber hinaus machen sich viele Mittel- und Osteuropäer Sorgen wegen eines möglichen Ausverkaufs nationalen Vermögens an ausländische Investoren. Einige befürchten wirtschaftliche Nachteile, andere eine Umkehrung wichtiger nationaler Errungenschaften (Rückkauf enteigneter Vermögen durch Sudetendeutsche in Tschechien, Italiener in Slowenien etc.).
  • Währungsunion: Es ist kaum zu erwarten, daß ein Kandidat vor dem Jahr 1999, dem Start des Euro, der Union beitreten wird. Neumitglieder werden sich also in eine EU integrieren, deren Mitgliedermehrheit voraussichtlich dann ein gemeinsames Währungsgebiet bilden, das besondere Währungsbeziehungen zu den übrigen Mitgliedern unterhält. Streben sie ebenfalls einen Beitritt an, so müssen sie die Maastrichtkriterien erfüllen, was vor allem bei Inflation, Zins und Wechselkurs Probleme schaffen dürfte. Nach einem Beitritt zur Währungsunion verfügen sie nicht mehr über den Wechselkurs als Schutz- und Ausgleichsmechanismus gegen Produktivitätsdifferenzen zu den hoch entwickelten Mitgliedsstaaten. Ihr Status ähnelt dann unangenehm stark dem der neuen Bundesländer in Deutschland nach der Vereinigung.
  • Wettbewerbsdruck: Viele Unternehmen befürchten, daß sie der Konkurrenz starker westeuropäischer Unternehmen im Binnenmarkt ohne politischen Schutz nicht standhalten können. Sie verweisen darauf, daß westliche Investoren in der Automobilbranche auf einem - wenn auch vorübergehenden - Zollschutz bestanden haben. Die Produktivität vieler Unternehmen ist zu gering und es fehlt am Kapital für nötige Modernisierungsinvestitionen. Dagegen werden die Kosten für hochqualifizierte Arbeit und zahlreiche handelbare Inputs auf EU-Niveau steigen. Die Erfahrung anderer Beitrittsländer nach der Süderweiterung zeigt, daß es nach dem Beitritt zunächst zu einem starken Zuwachs des Handelsbilanzdefizits gegenüber der EU kommt, das zwar dank der Finanztransfers und anderer Kapitalzuflüsse zu finanzieren ist, aber trotzdem die mit diesen wachsenden Importen konkurrierenden einheimischen Produzenten belastet.
  • Monetäre und Verfahrenskosten: Vollmitgliedschaft und die Übernahme des acquis communautaire bringen erhebliche Kosten mit sich (Zolleinbußen, Investitionen in verschiedenen Gebieten wie Umweltschutz etc., Verwaltungsaufwand zur Anwendung des EU-Regelwerkes, usw.). Diesen Kosten stehen zwar Einnahmen aus den EU-Fonds gegenüber, aber auch ihr Abruf erfordert neue Strukturen und Institutionen (Ko-finanzierung, regionale Gliederung, Projektplanung etc.), die Kosten und Probleme verursachen, die EU-seitig meist als mangelnde Absorptionsfähigkeit bezeichnet werden. So merkwürdig dies angesichts der planwirtschaftlichen Vergangenheit anmuten mag, die Regelungsdichte wird durch den EU-Beitritt in diesen Ländern massiv zunehmen, was sowohl bei den Regulierungsinstanzen Produktionsprobleme als auch bei den Regulierten Akzeptanzprobleme mit sich bringen wird - und zwar schon weit vor dem eigentlichen Beitritt.

Die mit diesen Problemen zusammenhängenden Anpassungszwänge und Interessen könnten sich im Vorlauf des Beitritts mit unabhängig davon vorhandenen Konfliktkonstellationen in den Transformationsländern verbinden. Die Beitrittsfrage wäre eventuell dann der Kristallisationspunkt, um den sich die Verlierer von Transformation und Integration sammeln. Populistische Gruppierungen könnten diese Lage nutzen, um Mehrheiten in den ohnehin von starken Wählerschwankungen gekennzeichneten jungen Demokratien zu gewinnen. Eine derartige Entwicklung ergibt sich um so leichter, je mehr andere Integrationsschritte wie der Beitritt zu NATO, WTO und OECD den Kandidaten schon eine Vertiefung der internationalen Einbindung ermöglichen, die den Wert eines EU-Beitritts relativieren.

Die Kopenhagener Kriterien unterstellen, daß ein Beitrittskandidat all diese Schwierigkeiten überwinden kann und will. Gelingt es ihm nicht oder verlangt er unter Hinweis auf diese Probleme Ausnahme- und Übergangsregelungen oder spezielle Hilfen, so könnte die EU ihm die Beitrittsreife absprechen. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, daß die Verhandlungspartner daran den gesamten Beitritt scheitern lassen werden. Aber der Termin kann sich erheblich verzögern und die Ausgestaltung des Beitritts wird dadurch maßgeblich beeinflußt.

Optionen eines differenzierten Beitritts

Die bisherige Erweiterungsphilosophie sieht grundsätzlich nur eine Differenzierungsdimension vor: den Zeitpunkt des Beitritts. Selbst die offensichtlich andere wichtige Differenzierungsdimension der Länderauswahl läßt sich darauf reduzieren. Abgelehnte Kandidaten haben als Aufnahmezeitpunkt eben 2010 oder später. Aber ein Kandidat ist entweder als Vollmitglied mit allen Rechten und Pflichten aufzunehmen oder er bleibt in Warteposition. Der Beitrittszeitpunkt ergibt sich dabei aus einer Bewertung vieler Aspekte, teils vor der Aufnahme der Verhandlungen, teils während ihnen. So haben bei der jetzt nach Luxemburg gültigen Differenzierung die Kopenhagener Kriterien eine zentrale Rolle gespielt.

Die Praxis der Erweiterung sieht vielgestaltiger aus. Um den formellen Beitritt ranken sich zahlreiche vorbereitende Maßnahmen vorher und Übergangsregelungen hinterher. Die Assoziierung impliziert schon eine Fülle von Rechten und Pflichten und eröffnet den Kandidaten Beteiligungsmöglichkeiten an den politischen Prozessen in der EU. Aus vergangenen Beitritten, vor allem ärmerer Länder, sind lange Fristen von bis zu zehn Jahren bekannt, in denen der acquis communautaire nicht vollständig auf die Neumitglieder angewandt wurde. Diese Differenzierung mischt sich mit einer zwar de jure nicht erwünschten, aber de facto immer beobachtbaren Differenzierung unter den Altmitgliedern (vgl. oben 1.).

Die Union hat bisher diese Realität immer mit dem Ideal eines einheitlichen Integrationsraumes konfrontiert. Auch bei Beibehaltung dieses Ideals als Endziel bietet die Differenzierungserfahrung Ansätze für eine differenzierte Erweiterung, die sowohl Vorgriffe auf eine Vollmitgliedschaft als auch längere Ausnahmeregelungen in Bereichen nahelegt, in denen die Anpassungskosten auf einer der beiden Seiten zu hoch sind. Diese Integrationsmöglichkeiten und -schwierigkeiten fallen in den drei Säulen der EU-Politik (Wirtschafts- und Währungsunion, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Kooperation in der Rechts- und Innenpolitik) unterschiedlich aus.

So steht zu befürchten, daß die Kandidaten aus Mittel- und Osteuropa besondere Schwierigkeiten in der ersten Säule, beim Binnenmarkt haben. Eine zu frühe ökonomische Integration, gar mit einer gemeinsamen Währung, könnte einen "DDR-Effekt" mit großflächiger Deindustrialisierung auslösen. Allerdings wäre für Länder mit einem "currency board" wie Estland und Bulgarien auch ein Beitritt zur Währungsunion ein relativ geringer Schritt, da sie auf eine eigenständige Geldpolitik ohnehin schon verzichtet haben. Bei der zweiten und dritten Säule (GASP und Innen- und Rechtspolitik) könnten die Anpassungsprobleme schwächer als in der ersten Säule ausfallen.

Auf Seiten der EU-Altmitglieder zählen die Freizügigkeit, die Agrarpolitik und die Strukturfonds zu den Schmerzpunkten. Weiter beunruhigt sie das Dilemma zwischen einer möglichen Aufblähung der Institutionen und Organe der Union mit der Folge ihrer wachsenden Handlungs- und Entscheidungsunfähigkeit und ihrer Reform mit der daraus resultierenden Entmachtung und Majorisierung der einzelnen Mitgliedsstaaten.

Als Lösung wurden Modelle der differenzierten Integration entwickelt, die von einer engeren Integration ohne Beitritt (z.B. EWR) über Teilbeitritt zu Sonderlösungen beim Beitritt reichen. Mit den Entscheidungen von Luxemburg erscheinen die meisten dieser Vorschläge überholt. Die Union und die Beitrittskandidaten steuern auf eine Vollmitgliedschaft mit Übernahme des gesamten acquis zu. Aber dieses Endziel wird erst in 10-20 Jahren erreicht werden. Vorher liegt eine längere Verhandlungsphase bis zum Beitritt und danach eine längere, wahrscheinlich zehnjährige Phase einer de-facto Teilmitgliedschaft mit zahlreichen Ausnahme- und Übergangsregelungen.

In dieser Zwischenzeit können und werden Differenzierungsmodelle zur Anwendung kommen. So wäre es möglich, bei der GASP schon vor der Vollmitgliedschaft an einen "Teilbeitritt", insbesondere der NATO-Mitglieder, zu denken. Schon heute stimmen die meisten Kandidaten in internationalen Organisationen mit der EU-Mehrheit. Die im März 1998 in London gestartete "Europakonferenz" bietet eine Möglichkeit zur Heranführung oder gar Einbindung der Kandidaten in die Zweite und Dritte Säule.

In den wirtschaftlich sensiblen Bereichen könnten die Kandidaten auf einige Rechte verzichten, wenn ihnen im Gegenzug einige Pflichten erlassen würden. In der Agrarpolitik fiele eine solche Differenzierung eventuell mit einer schon diskutierten partiellen Renationalisierung der Subventionssysteme zusammen. Bei den Strukturfonds könnte eine Selbstbeschränkung mögliche Probleme bei der Absorption der an sich zustehenden Transferleistungen vermeiden. Zahlungen aus den Fonds könnten auch dazu genutzt werden, potentielle Migranten in ihren Herkunftsländern in Qualifikationsmaßnahmen oder Existenzgründungsprojekte einzubinden und somit von einer Übersiedlung in die Länder der alten EU abzuhalten. Solche Projekte könnten von der nationalen Kofinanzierungspflicht ganz oder teilweise befreit werden.

Wie schon in der Union erfordert eine solche Differenzierung und Flexibilisierung auch im Kontext der Erweiterung Klarheit über die Entscheidungsprozesse, mit denen die "ins" und "outs" festgelegt werden. Die Erweiterung von liberalisierten Räumen, insbesondere Märkten, erfordert die Zustimmung der bisherigen Teilnehmer, da sie die Folgen mittragen. So kann sicher kein Altmitglied die Schengenregelung auf einen oder mehrere seiner Nachbarn ohne die Zustimmung der anderen Schengenmitglieder ausdehnen. Die Harmonisierung von Politiken, insbesondere die Übernahme von Unionsregelungen, ist dagegen in vielen Fällen eine Maßnahme, die jedes Land einseitig vornehmen kann.

Die entscheidende Differenzierung im jetzt laufenden Verfahren nach dem Luxemburger Gipfel ist die Frage der Aufteilung in "ins" und "pre-ins" der ersten Erweiterungsrunde. Die EU hat den zunächst zurückgesetzten Ländern in Aussicht gestellt, daß sie im Zuge jährlicher Nachprüfungen ihren Status verbessern können. Dies liegt vor allem im Fall der Slowakei nahe, die weniger wegen struktureller, nur langfristig korrigierbarer Probleme als wegen der aktuellen Regierungspolitik ausgeschlossen wurde. Offen blieb, inwieweit auch "ins" wieder zurückgestuft werden können. Sicher wäre dies im Falle massiver Verletzungen von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat der Fall. Wirtschaftliche Schwierigkeiten würden wohl nur zu Beitrittsverzögerungen führen. Interessenkonflikte während der Verhandlungen können ebenfalls Verschiebungen auslösen.

Wie geht es weiter nach der Erweiterung ?

Der bisherige Verlauf der ersten Runde der Osterweiterung hat zu einiger Mißstimmung bei den Kandidaten geführt, mit denen die EU zunächst keine Beitrittsverhandlungen beginnen will, sowie bei einigen Mitgliedsstaaten, die mit dem Ergebnis und/oder dem Verfahren unzufrieden waren. Die gravierendsten Nachteile der seit 1992 gewählten Vorgehensweise werden aber während der Verhandlungen zutage treten, wenn die oben erwähnten Interessenkonflikte ausgetragen werden müssen. Dann rächen sich die Konfliktvermeidung und Gedankenlosigkeit, mit der die EU zwischen assoziierten und nicht-assoziierten Partnern in Mittel- und Osteuropa differenzierte sowie den assoziierten Ländern Beitrittshoffnungen machte, um diese teilweise wieder zu enttäuschen. Der weitere Umgang mit den Nachbarn sollte aus diesen Fehlern lernen und versuchen, die anzuwendenden Politiken anhand klarer Ziele und Interessen sowie verständlicher Kriterien zu bestimmen.

Dabei geht es um die Beziehungen der EU zu immer noch zwölf mittel- und osteuropäischen Ländern, eventuell fünf zentralasiatischen Staaten, der Türkei, Malta und letztlich auch den übrigen Unterzeichnerstaaten des Barcelona-Abkommens, vor allem in Nordafrika. Es ist ein Raum, mit dem die EU historisch, politisch und wirtschaftlich eng verbunden ist. Ihre Stabilität und ihr Wohlstand hängen von der Entwicklung dieser Nachbarregion ab. Die Kooperationsmöglichkeiten, die die EU diesen Nachbarn anbietet, bilden aber keine optimale Umgebung für erfolgreiche Entwicklung. Die Brüsseler Handelspolitik bevorzugt das Zentrum der EU und hat in einer durch die WTO zunehmend liberalisierten Weltwirtschaft an Wirkung verloren. Auch der Nutzen der Hilfe ist in vielen Fällen ebenfalls mehr Lieferanten in der EU als den Empfängerländern zugeflossen. Dort hat sich oft genug die Verschuldung und die Macht von entwicklungsfeindlichen Eliten erhöht. Statt dessen müßte die EU versuchen, Reformen in den Nachbarländern in Gang zu setzen, die zunächst wirtschaftliches Wachstum und langfristig soziale Stabilität und politische Freiheiten produzieren.

Die großen Reformfortschritte in Mittel- und Osteuropa deuten darauf hin, daß die Aussicht auf einen EU-Beitritt zu den mächtigsten Hebeln gehört, um solche Reformprozesse in Nachbarländern zu beschleunigen. Die EU sollte daher die langfristige Option eines Beitritts auch den nicht-europäischen Nachbarländern nicht grundsätzlich verweigern. Nicht nur für viele Mittelmeerländer wäre die Aussicht auf einen Beitritt - selbst in ferner Zukunft - der wichtigste Grund für anhaltende Reformanstrengungen. Die Gegner stützen sich auf Argumente, die einer näheren Prüfung kaum standhalten:

  • Geographisch ist die Grenze Europas im Osten schwierig und auch im Mittelmeer nur scheinbar klar zu definieren. Teile des Südufers waren und sind Territorium der Mitgliedsstaaten, wie auch noch weiter entfernte Gebiete (Azoren, Kanarische Inseln, DOM/TOM). Zählt Zypern nicht eher zu Vorderasien ? Geographische Gegenargumente werden meist vorgeschoben, um eigentlich ethnisch, kulturell oder religiös begründete Abgrenzungen zu legitimieren.
  • Historisch gesehen, saßen Algerier bei Gründung der EWG noch im französischen Parlament, und es war schon im Vertrag von Rom beabsichtigt, Libyen, Marokko und Tunesien zu assoziieren. Der Assoziierungsvertrag mit der Türkei von 1963 eröffnete dem Land die Beitrittsperspektive als Vollmitglied. Bis heute betrachten sich große Teile der Bevölkerung und vor allem der politischen Eliten dieser Länder als Teil der europäischen Kultur und Gesellschaft. Dagegen sind die engen Beziehungen der EU zu Mittel- und Osteuropa vergleichsweise junger Natur, auch wenn die Länder immer zu Europa zählten.
  • Ethnische und religiöse Gründe sind ebenfalls für eine Abgrenzung ungeeignet. Die geographischen, ethnischen und religiösen Grenzen fallen selten zusammen. Sie widersprechen dem Bürgerschaftsprinzip (jus solis) wichtiger Mitgliedsstaaten. Europa zeichnet sich - dank Migration und Türkenherrschaft - durch zahlreiche islamische Gemeinschaften (Bosnien, Albanien, große Minderheiten in Frankreich, Deutschland, Bulgarien, Restjugoslawien usw.) aus. In den Südanrainerstaaten leben zahlreiche nicht-islamische Bevölkerungsgruppen. Die Gegnerschaft zum Islam hat ihren Aufschwung erst beim Ende des Kalten Krieges erfahren. Beim Kampf gegen den Kommunismus und die sowjetische Bedrohung war der politische Islam noch ein umworbener Bündnispartner.

Ein offenes oder - vielleicht noch gefährlicher - unterschwelliges Bestehen auf diesen Abgrenzungskriterien stärkt in den Nachbarländern die fundamentalistischen und nationalistischen Kräfte, die spiegelbildlich eine Identitätspolitik gegen Demokratie, Marktwirtschaft und Europa betreiben. Statt dessen sollten politische und wirtschaftliche Kriterien zur Anwendung kommen. Die Kopenhagener Kriterien für Mittel- und Osteuropa, d.h. Demokratie, Menschenrechte, Übereinstimmung mit den Zielen der EU (Wirtschafts-, Währungs- und Politische Union), Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und Integrationsfähigkeit der EU, sind ein erster wichtiger Schritt, aber in vielen Punkten zu allgemein und vage.

Über die Kopenhagener Kriterien hinaus (bzw. in Präzisierung ihrer Anforderungen) sollte ein Beitrittskandidat folgende Kriterien erfüllen:

  • Er sollte über die Hälfte seines Außenhandels (und auch seines Kapitalverkehrs) mit der EU abwickeln. Damit scheiden die Kandidaten aus, die keine intensiven wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa unterhalten.
  • Das Pro-Kopf-Einkommen sollte ein bestimmtes Mindestniveau relativ zum Durchschnittseinkommen der EU überschreiten. Setzt man es sehr hoch (75%) an, könnte man auf diese Weise den Zuwachs an weiteren Regionalförderungsgebieten ganz vermeiden. Außerdem dürfte die Gewährung der Freizügigkeit gegenüber reicheren Ländern mit ihrem in der Regel niedrigeren Bevölkerungswachstum dank ihres geringeren Migrationspotentials leichter fallen.
  • Zusätzlich wäre denkbar, Anforderungen an die Einkommensverteilung und die Arbeitslosenrate zu stellen. Eine bessere Verteilung und niedrigere Arbeitslosigkeit tragen beide zum schnelleren Wachstum bei und senken ebenfalls die Migrationsneigung. Die Ansprüche an den Sozial- und evtl. auch an den Regionalfonds fallen dann geringer aus.
  • Jeder Kandidat könnte zur Durchführung eines Referendums zum Beitritt verpflichtet werden, das bei einer Mindestabstimmmungsbeteiligung von 50% der Wahlberechtigten eine Zweidrittelmehrheit für einen Beitritt erbringen sollte. Die Erfüllung dieser Bedingung würde die Gefahr reduzieren, daß im Grunde europafeindliche Bevölkerungen beitreten, die später die Gemeinschaftsbildung hemmen. Dagegen spräche, daß wohl nicht alle Altmitglieder diese Bedingung erfüllen.
  • Aufgenommen werden nur Länder, die in Frieden mit ihren Nachbarn leben, also insbesondere kein strittigen Grenzfragen und Minderheitenkonflikte ungelöst in die EU einbringen.

Im Ergebnis würde eine solche Politik die prinzipiellen Beitrittsschranken aufheben, die gerade die westlich orientierten Reformeliten in den Nachbarländern entmutigen. Gleichzeitig würde die Meßlatte für einen tatsächlichen Beitritt aber erheblich höher gelegt. Selbst einige der jetzigen Mitglieder der EU würden sie im Falle eines Neubeitritts nicht erfüllen. Aber eine institutionelle, politische und finanzielle Überlastung der Union würde vermieden. Letztlich muß eine handlungsfähige EU nicht nur im Interesse der Altmitglieder, sondern auch in dem aller Beitrittskandidaten liegen.


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