Michael Ehrke
Frisch auf den Tisch...
Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik und der Verbraucherschutz
Die möglicherweise gründlichste
Wende, die die rot-grüne Koalition in Deutschland bislang
gegenüber allen vorherigen Regierungen der Bundesrepublik
vollzog, fand auf dem Feld der Agrarpolitik statt. Dies
ist insofern bemerkenswert, als die Agrarpolitik normalerweise
nicht zu den Prioritäten sozialdemokratisch geführter Regierungen
zählt. Die BSE-Krise, die die deutsche Bundesregierung im
Januar 2001 zu einem agrarpolitischen Kurswechsel veranlasste,
brachte Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Ausflug in
die virtuelle Welt wieder zurück in das Reich der (in diesem
Fall organischen) Stoffe. Die Krise, so wurde im November
2000 deutlich, war nicht auf Großbritannien beschränkt und
warf ein unerwartet grelles Licht auf die Produktionsmethoden
der modernen Landwirtschaft in ganz Europa. Sie zeigte exemplarisch
die Risiken der intensiven chemischen Landwirtschaft und
Massentierhaltung und machte den technischen Fortschritt
in der Landwirtschaft zu einer politischen Frage.
Die
BSE-Krise fällt zeitlich in die kritische Phase des Übergangs
von der konventionellen zur gentechnischen Landwirtschaft
– und sie wird diesen Übergang beeinflussen. Der Fortschritt
zur Gentechnologie wird dank der BSE-Krise nicht in der
Form einer markt- oder technologiegesteuerten Eigengesetzlichkeit
verlaufen können, sondern muss nun in politische Entscheidungsprozesse
eingebettet werden – was bedeutet, dass er auch modifiziert,
abgebrochen oder verzögert werden kann, zumal die BSE-Krise
die zur gentechnischen und konventionellen Landwirtschaft
alternative Option der ökologischen Landwirtschaft in die
Diskussion gebracht hat. Die Risiken der konventionellen
Landwirtschaft, die BSE vor Augen geführt hat, beleuchten
indirekt auch das Risikopotential der Gentechnologie, wobei
der Übergang von der konventionellen zur gentechnischen
Landwirtschaft – zu Recht oder zu Unrecht – auch hinsichtlich
der Risiken die Assoziation mit dem Wechsel von der konventionellen
zur Nuklearenergie hervorruft. Es
ist daher durchaus plausibel, die BSE-Krise in einer – wie
immer begrenzten – Analogie zum Reaktorunfall von Tschernobyl
zu sehen, als Krise also, die die Politik zwingt, die Eigendynamik
marktgesteuerter und/oder technologischer Entwicklungen
zu kontrollieren, zu gestalten oder zu stoppen. Neben der
technologischen enthält die Krise auch eine ordnungspolitische
Dimension: Sie thematisiert am Beispiel eines sensiblen
Wirtschaftssektors die legitime Reichweite von Marktprozessen
sowie das legitime und notwendige Spektrum politischer Interventionen
– etwa im Rahmen des Verbraucherschutzes. Nun wird die europäische
Landwirtschaft allenfalls partiell vom Markt gesteuert:
Sie gilt als Produkt bürokratischer Regulierung, dessen
geradezu monströse Züge sich vortrefflich zur Illustration
der Schädlichkeit politischer Wirtschaftsinterventionen
eignen. Die Tatsache allerdings, dass die BSE-Krise nicht
auf einem idealen, sondern hoch regulierten Markt ausbrach,
entlastet nicht den Markt, sondern wirft die zusätzliche
Frage nach dem Zweck und der Wirkung bürokratischer Interventionen,
in diesem Falle der EU, auf.
Schurkerei oder Systemrisiko?
Was
immer letztlich als Ursache der BSE-Krise aufgedeckt wird,
Tiermehlverfütterung oder der Einsatz bestimmter agrochemischer
Cocktails: Die Krise ist nur das letzte Glied einer langen
Reihe europäischer Ernährungsskandale: Industrieöl im
Speiseöl, Hühnerembryos im Flüssig-Ei, Altöl im Tierfutter,
Dioxin im Hühnerfutter, Ringelwürmer im Fisch, Nikotin
in der Babynahrung, Frostschutzmittel im Wein, Hormone
im Kalbsfleisch, Antibiotika im Schweinefleisch – dies
sind nur einige Beispiele für die, wie es scheint, nicht
ausnahmsweise, sondern systematische Versetzung von Nahrungsmitteln
mit ekelerregenden, ungenießbaren, krank machenden, giftigen
und – im Extremfall – tödlichen Stoffen, die die europäische
Landwirtschaft als agro-veterinäre Mafia erscheinen lässt,
als kriminelle Supervereinigung, die aus Profitgier mit
Giften panscht und die Krankheit oder gar den Tod ihrer
Kunden billigend in Kauf nimmt. Die Kannibalisierung von
Pflanzenfressern, die man zwingt, ihre zermahlenen Artgenossen
zu fressen, erscheint nur als der letzte und widerwärtigste
Ausbruch von Geldgier und krimineller Energie (was unter
ethischen Gesichtspunkten vielleicht auch zutrifft), mit
der das Agrarbusiness aufgeladen ist. Diese Sicht ist
freilich verharmlosend: Agroindustrielle Katastrophen
gehen nicht nur und nicht in erster Linie auf illegale
Akte zurück, sondern auf Systemrisiken der intensiven
Landwirtschaft und Massentierhaltung.
Wenn die Landwirtschaft, in der früher
die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung tätig war,
heute mit zwei Prozent der Beschäftigten nicht nur eine
stark gewachsene Bevölkerung mit ausreichend Nahrungsmitteln
versorgt, sondern auch noch Überschüsse erwirtschaftet,
geht dies auf eine dramatische Zunahme der Produktivität
– und das heißt in erster Linie auf Veränderungen von
Produktionsprozessen – zurück. Und da die Landwirtschaft
mit organischen Stoffen zu tun hat, verändern sich mit
den Produktionsprozessen auch die Produkte. Agrarprodukte
sind keine reinen, sondern chemisch veränderte Naturprodukte.
Die Landwirtschaft ist wie jede moderne Wirtschaftsbranche
„innovativ“ – sie erfindet ständig neue Prozesse, Produkte
und Produktkombinationen, deren Langzeitwirkungen auf
den menschlichen Organismus zwangsläufig unbekannt sind.
Alle landwirtschaftlichen Produzenten und nicht nur die
kriminellen schwarzen Schafe gehen damit unter dem Druck
der Produktivitätssteigerung das Risiko ein, das
Wohlbefinden ihrer Kunden zu beeinträchtigen, sie krank
zu machen oder zu vergiften.
Der technische Fortschritt setzt sich
über Marktprozesse durch. Landwirtschaftliche Betriebe operieren
auch in Europa unter harten budget constraints, sie müssen,
um ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern, ihre Produktivität
steigern und ihre Kosten senken. Wettbewerb in der
Landwirtschaft ist in erster Linie Kostenwettbewerb, kein
Wettbewerb um Qualität oder Produktdifferenzierung. Um ihre
wirtschaftliche Existenz zu erhalten, müssen die landwirtschaftlichen
Produzenten zum Beispiel den Rohstoff „Rind“ so schnell
und profitabel wie möglich verwerten. Dies schließt ein,
dass die von der Natur vorgesehenen Reifungszeiten, Nahrungs-,
Bewegungs- und Aufenthaltsgewohnheiten systematisch manipuliert
werden müssen, etwa über Anreicherung des Rohstoffes „Rind“
mit Futtermitteln und Medikamenten. Der Rohstoff ist aber
ein komplexes biologisches System, das auf Veränderungen
seiner natürlichen Lebensbedingungen sensibel reagiert:
Die vom Markt erzwungene systematische Zurichtung der Tiere
führt zwangsläufig zu Produktdefekten, die wiederum mit
technischen Eingriffen und Medikamenten behoben werden müssen.
Zum Beispiel: Weil Hühner in Massentierhaltung keine stabilen
Knochen entwickeln, müssen sie mit Mangan gefüttert werden,
das sie zu 98 Prozent wieder ausscheiden; die Hühnerkot-Manganmischung
wird wiederum an Rinder verfüttert, die auf die Überdosis
an Mangan ihrerseits kritisch (womöglich mit BSE) reagieren.
Massentierhaltung und chemische Pflanzenproduktion schaffen
zwangsläufig instabile Kreisläufe und wechselseitig sich
verstärkende Rückkopplungen, sie zwingen zu kompensierenden
Eingriffen, die neue Eingriffe notwendig machen usw. Es
ist höchst unwahrscheinlich, dass sich das Ende der Nahrungskette
– der menschliche Organismus – von den Folgen dieser Manipulationen
des natürlichen Materials isolieren lässt.
Der europäische
Agrarmarkt
Unter reinen Marktbedingungen
hätten die Konsumenten die Möglichkeit, sich zu wehren,
indem sie die Produzenten durch Kaufverweigerung bestrafen,
sie zu Verhaltensänderungen zwingen und unter Umständen
in den Ruin treiben. Wenn sie es nicht tun, bedeutet dies,
dass sie mit den Produkten zumindest nicht unzufrieden sind.
Wenn die Konsumenten eine Präferenz für billige Agrarprodukte
entwickeln, deren Verzehr gesundheitliche Risiken mit sich
bringt, wenn also ein niedriger Preis für Lebensmittel eher
die Kaufentscheidung motiviert als hohe Qualität oder Lebensmittelsicherheit,
ist gegen das Urteil des Souveräns unter marktwirtschaftlichen
Bedingungen nichts mehr einzuwenden. Ethische Bedenken gegen
intensive Landwirtschaft und Massentierhaltung haben auf
dem Markt keinen Platz, es sei denn sie führen über den
politischen Markt und Wahlentscheidungen zu einer Veränderung
des gesetzlichen Rahmens. Voraussetzung eines souveränen
Konsumentenurteils ist freilich, dass die Konsumenten die
Risiken kennen, die sie eingehen, wenn sie billige Nahrungsmittel
erwerben – eine Voraussetzung, die in der Regel nicht gegeben
sein wird. Wer konnte vor dem Ausbruch der BSE-Krise schon
wissen, woraus sich die Currywurst zusammensetzte?
Es kommt jedoch hinzu, dass die europäische
Landwirtschaft nicht nach reinen marktwirtschaftlichen
Prinzipien organisiert, sondern eine Kombination von Markt
und Nicht-Markt ist. Sie funktioniert wie eine Marktwirtschaft,
insofern sie Kosteneffizienz und Produktivität belohnt,
sie funktioniert nicht wie eine Marktwirtschaft, insofern
sie den Konsumenten de facto die Möglichkeit nimmt,
das Verhalten der Produzenten durch Kaufentscheidungen zu
beeinflussen. Innerhalb der EU sind Agrarpreise keine Marktpreise,
es sind politische Preise, die unter für Außenstehende schwer
zu durchschauenden Bedingungen ausgehandelt wurden, und
die nicht „den Markt räumen“, sondern den Produzenten ein
„angemessenes Einkommen“ sichern sollen. Wenn preiswerte
Importe das Preisniveau, das den Produzenten ein angemessenes
Einkommen sichert, zu untergraben drohen, werden sie untersagt
oder verteuert. Wenn die europäische Nachfrage nach Agrarprodukten
trotz Importbeschränkungen nicht ausreicht, um den landwirtschaftlichen
Produzenten ein angemessenes Einkommen zu verschaffen, schafft
die EU durch den Aufkauf, die Lagerung und den subventionierten
Export von Agrarprodukten die benötigte zusätzliche Nachfrage.
Was die Europäer m. a. W. als Verbraucher von Agrarprodukten
nicht zahlen wollen, zahlen sie als Steuerzahler. Der
Produktpreis, mit dem ein europäischer Agrarproduzent kalkulieren
muss und an dem er also sein Investitionsrisiko zu messen
hat, ist der Interventionspreis der EU. Da die EU-Subventionen
unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und nicht unter dem
der Umweltschonung, der Qualität, der artgerechten Tierhaltung
oder des Verbraucherschutzes (obwohl diese letztgenannten
Kriterien mit der Reform der Agrarpolitik an Bedeutung gewonnen
haben) vergeben werden, kann sich der Produzent ohne Risiko
und unter Missachtung qualitativer Gesichtspunkte auf die
kostengünstige Produktion großer Mengen konzentrieren.
Die europäischen Agrarpreise erfüllen eine Funktion
von Preisen: sie rufen ein Angebot hervor. Sie erfüllen
deren zweite Funktion, das Angebot zu limitieren (bzw. im
Interesse der Konsumenten zu strukturieren) nur unzureichend.
Die Konsequenzen dieser
Agrarordnung wurden oft genug beklagt: Die europäische Landwirtschaft
produziert systematisch Überschüsse – Milchseen und Butterberge
–, die zu hohen Kosten gelagert, vernichtet oder exportiert
werden; die gemeinsame Agrarpolitik begünstigt große Agrarbetriebe;
kleinere bäuerliche Betriebe können im Wettbewerb mit den
hoch subventionierten Agrarfabriken oft nicht mithalten;
die Konsumenten zahlen höhere Lebensmittelpreise als sie
unter reinen Marktbedingungen zahlen müssten; die Importe
kostengünstiger produzierender außereuropäischer Anbieter
werden behindert und die subventionierten EU-Exporte behindern
außereuropäische Produzenten in ihrer Heimat und auf Drittmärkten.
Aus den absurden Konsequenzen
der europäischen Agrarordnung lassen sich freilich unterschiedliche
Schlüsse ziehen: Auf der einen Seite kann man, wie zuletzt
Otto Graf Lambsdorff in einem Artikel in der FAZ (vom 10.
2. 2001), die gemeinsame Agrarpolitik als Inbegriff bürokratischer
Wirtschaftslenkung generell ablehnen und Landwirtschaft
und Nahrungsmittelindustrie völlig dem Markt überlassen.
Auf der anderen Seite kann sich die Kritik an der gemeinsamen
Agrarpolitik weniger auf den Sachverhalt als auf den Zweck
der Subventionen richten. Es wäre ja denkbar, dass die
EU im Konsens mit oder stellvertretend für die Verbraucher
die Landwirtschaft subventioniert und höhere Preise als
Marktpreise für landwirtschaftliche Produkte zulässt, um
die Qualität der Produkte, eine artgerechte Tierhaltung
oder die Bewahrung ökologischer Gleichgewichte zu sichern.
Dies ist – wie angemerkt – in der EU nicht der Fall. Die
Subventionierung erfolgt im Interesse der Produzenten, die
Agrarpolitik ist redistributiv, und zwar in einer Form,
die die Steigerung des Produktionsvolumens honoriert. Erst
in jüngster Zeit wurde die gemeinsame Agrarpolitik partiell
reformiert, indem die Subventionierung der Produktion durch
direkte Einkommenstransfers an die Produzenten ersetzt wurde.
Die Verfassung der europäischen Landwirtschaft
und das häufige Auftreten von Ernährungsskandalen hängen
also in dreierlei Weise miteinander zusammen:
Ø
Erstens arbeiten die europäischen Agrarbetriebe unter Wettbewerbsbedingungen
und Kostendruck, der zu ständigen, unter Umständen riskanten
Produktinnovationen (einschließlich minderwertiger Materialmischungen)
zwingt.
Ø
Zweitens haben die Konsumenten nur geringe Möglichkeiten, das Angebot durch Kaufentscheidungen
zu strukturieren.
Ø
Drittens wird der Marktzugang von Agrarprodukten, die unter ökologisch günstigeren
Umständen außerhalb der EU erzeugt wurden, behindert.
Ein Beispiel wäre lateinamerikanisches Rindfleisch. Die
Kombination aus Wettbewerbsbeschränkungen (Importquoten)
und Wettbewerb ermöglicht es den europäischen Erzeugern
– und zwingt sie dazu –, ihre „natürlichen“ Standortnachteile
durch den Einsatz von Technik und Medikamenten auszugleichen.
Hintergrund:
Der agrar-politische Komplex
Wie ist es zu erklären, dass die Europäische
Union bis zu 80 Prozent ihrer finanziellen Mittel (1999
waren es dank mehrerer Reformen nur noch 45,2 Prozent)
sieben Prozent ihrer Bevölkerung zugute kommen ließ? Warum
ließ man es zu, dass das Projekt der europäischen Integration
mit absurden Milchseen, Butterbergen oder subventionierten
Rindfleischexporten nach Brasilien identifiziert werden
konnte?
Eine Ursache für die Persistenz einer
anerkanntermaßen unsinnigen Agrarpolitik liegt sicherlich
darin, dass sich die Benachteiligten dieser Politik nicht
wirksam widersetzen konnten oder wollten. Gegrummelt über
die Agrarpolitik haben neoliberale Ökonomen oder ökologisch
inspirierte Journalisten immer
– die Verbraucher aber haben diese Politik zumindest
akzeptiert. Die Reformen, die es gab, wurden nicht vom
Protest der Verbraucher, Umwelt- oder Tierschützer angetrieben,
sondern entweder von den Handelspartnern der EU – den
Ländern der CAIRNS-Gruppe und den USA, die der Union im
Zuge der Uruguay-Runde eine Reform ihrer Agrarpolitik
abnötigten – oder von der EU-Bürokratie selbst, die einen
Ausweg aus der Sackgasse suchen musste, in die sie sich
mit ihrer Agrarpolitik manövriert hatte: Die Kosten der
gemeinsamen Agrarpolitik drohten immer wieder das Budget
der Union zu sprengen. Die Passivität der Verbraucher
bzw. der nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung könnte
auch darauf zurückgeführt werden, dass die europäische
Landwirtschaft zumindest eines erreicht hat: Die Preise
landwirtschaftlicher Erzeugnisse und der Anteil der Ernährung
an den Ausgaben der Haushalte sind auch in Europa kontinuierlich
zurückgegangen – was freilich nur eine ökonomische Gesetzmäßigkeit
(Engels Gesetz) bestätigt.
Es kommt hinzu, dass die Produktion
und der Verzehr von Nahrungsmitteln selbst in postindustriellen
Gesellschaften, in denen die Landwirtschaft auf eine marginale
Größe geschrumpft ist, eine andere Bedeutung haben als
die Fertigung und Nutzung industrieller Güter. Der Verzehr
von Nahrungsmitteln ist keine Option, sondern Grundvorgang
der Existenzerhaltung. Die Einverleibung organischer Substanzen
durch den Organismus ist affektiv anders besetzt als der
Umgang mit Produkten aus anorganischem Material: Auf den
Zusammenbruch der Computer-Festplatte reagiert man nicht
wie auf die Würmer im Fisch. Eine gewisse Beunruhigung
liegt auch darin, dass die Ernährung, Grundlage der biologischen
Existenz, vom Markt, also anonymen Angebots- und
Nachfragebewegungen, abhängig sein soll. Gerade am Beispiel
der Ernährung wird deutlich, dass die Kontrolle, die ein
moderner Bürger der EU über seine Selbsterhaltungsbedingungen
ausübt, weitaus schwächer ist als bei einem Neandertaler.
Dies könnte der Grund für die Bereitschaft auch der Verbraucher
sein, die Nahrungsmittelproduzenten als Produzenten sui
generis, als die letzten Vertreter eines besonderen Standes
zu betrachten, der zumindest partiell den modernen
industriellen Konflikten und postindustriellen Unübersichtlichkeiten
entzogen sein sollte.
Diese Bereitschaft der Nachfrager findet
auf der „Angebotsseite“ ihr Pendant in einer stark organisierten,
konfliktbereiten und in fast allen kontinentaleuropäischen
Ländern (weniger in Großbritannien und Skandinavien) eng
mit dem politischen Konservatismus verbundenen Bauernschaft.
Diese Symbiose ergibt sich aus der europäischen Sozialgeschichte
– das heißt der sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts,
in denen sich das auch heute noch bestehende politische
Parteienspektrum bildete. Die Bauernschaft war die natürliche
Massenbasis eines selber agrarisch basierten, oft klerikal
eingefärbten Konservatismus, ein Gegengewicht gegen die
(reale oder befürchtete) Vorherrschaft der Liberalen und
der Sozialdemokratie in den Städten. Konservative und
Christdemokraten versuchten daher immer zu verhindern,
dass die Bauernschaft ihre spezifische Standesidentität
verlor und in die „modernen“ Auseinandersetzungen zwischen
Industrieproletariat und kapitalistischen Unternehmern
hineingezogen wurde. Dabei musste die Fragmentierung der
Bauernschaft sowohl in geographisch-wirtschaftlicher Hinsicht
(mit regional unterschiedlichen klimatischen und Bodenbedingungen)
als auch in sozialer Hinsicht (Agrarfabriken versus Kleinbauern)
durch eine wie immer artifizielle Ideologie der ständischen
Einheit des Bauerntums übertüncht werden.
Die konservativ-agrarische Symbiose
begünstigte die Bildung „eiserner Dreiecke“ aus landwirtschaftlichen
Verbänden, staatlicher Agrarbürokratie und konservativen
Agrarpolitikern, die abgeschirmt von den Parlamenten und
der Öffentlichkeit, die politischen Rahmenbedingungen
der Landwirtschaft festlegen. Diese eisernen Dreiecke
auf nationaler Ebene reproduzieren sich auf der europäischen
Ebene: Der Landwirtschaftskommissar der EU ist meist ein
konservativer Politiker (Franz Fischler ist Mitglied der
ÖVP), die Beamten der Generaldirektion VI für Landwirtschaft
– der personell und finanziell am besten ausgestatteten
EU-Behörde – rekrutieren sich aus den meist konservativ
geführten Agrarministerien Frankreichs, Deutschlands und
Irlands, und die europäische Interessenvertretung der
landwirtschaftlichen Produzenten– die Confederation of
Professional Agricultural Organizations (COPA)
– ist hinsichtlich Personal, finanzieller Ressourcen und
Organisationsgrad besser ausgestattet als alle anderen
supranationalen Interessenverbände. Die starke Repräsentation
der Bauern auf nationaler wie auf europäischer Ebene hat
freilich nicht verhindert, dass es wiederum meist die
Bauern (und Fischer) waren und sind, die am lautstärksten
gegen die EU protestierten – wenn die EU unter dem Druck
der außereuropäischen Handelspartner, des eigenen Budgets
oder der bevorstehenden Osterweiterung begrenzte Reformen
vornehmen musste.
Die Entstehung der gemeinsamen
europäischen Agrarpolitik im engeren Sinne geht auf einen
Kompromiss zwischen Frankreich und Deutschland zurück
(hier erwies sich als relevant, dass weder Großbritannien
noch ein skandinavisches Land zu den Gründungsmitgliedern
der EWG gehörte). Frankreich mit seiner effizienten Landwirtschaft
bestand auf einem offenen Agrarbinnenmarkt, um seine Produkte
vor allem in Deutschland absetzen zu können; nur unter
dieser Bedingung war es bereit, seinen Markt für deutsche
Industriegüterexporte zu öffnen. Unter ökonomischen Gesichtpunkten
hätte die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer schwachen,
fragmentierten Landwirtschaft und ihrer starken Industrie
ebenfalls für einen freien Agrarmarkt eintreten müssen
– was bedeutet hätte, dass sie in gewissem Umfang die
bäuerlichen den industriellen Interessen hätte opfern
müssen. Ebendies war politisch nicht möglich: Bauernlobby
und Christdemokratie stimmten überein, dass die Landwirtschaft
als Wirtschaftsform sui generis zu schützen sei
– eine Übereinkunft, die dann in die gemeinsame europäische
Agrarpolitik übersetzt wurde.
Weder der nationale agrarpolitische
Komplex noch die europäische Agrarpolitik wurden von sozialdemokratischer
Seite je ernsthaft zur Diskussion oder gar zur Disposition
gestellt. Die Sozialdemokratie konnte in Kontinentaleuropa
(anders als in Skandinavien) kaum an demokratische oder
gar agrarrevolutionäre Traditionen in der Bauernschaft
anknüpfen; ohne die geringste Aussicht, die Bindung der
Bauern an den Konservatismus schwächen zu können, beschränkte
sich die sozialdemokratische Agrarpolitik (sofern man
sie nicht ganz einem Koalitionspartner überließ) in der
Regel darauf, die Bauern „ruhig zu stellen“, indem man
ihren Forderungen so weit wie möglich nachkam – und sich
ansonsten anderen Bereichen zuzuwenden. Die hohe Mobilisierbarkeit
der Bauern, ihre Verfügung über schweres landwirtschaftliches
Gerät und ihre Bereitschaft zur Brachialgewalt machte
den deutlich sichtbaren bäuerlichen Protest zum Alptraum
jeder, insbesondere jeder sozialdemokratischen Regierung.
Auch die Paradoxie der europäischen Agrarpolitik, die
Konzentration der Subventionen auf die großen Agrarbetriebe
– auf Kosten der Kleinbauern –, wurde von sozialdemokratischer
Seite nie thematisiert. Der Ministerwechsel vom Januar
2001 in Deutschland, bei dem der Verbraucherschutz als
Kern der Agrarpolitik definiert wurde, kommt daher in
der Tat einer Revolution von oben gleich. Voraussetzung
war eine Revolution von unten, eine Revolution der Verbraucher,
die mit ihren Kaufentscheidungen in kürzester Zeit den
Markt für Rindfleisch vernichtet hatten.
Verbraucherschutz
Die europäischen Verbraucher bezahlen
– wie erwähnt – für Agrarprodukte mehr als sie auf einem
freien Markt bezahlen müssten. Sie erhalten für höhere
Preise keine höherwertigen Produkte, sondern größere Mengen
von minderwertiger bis hin zu ekelerregender, gefährlicher
oder gar tödlicher Qualität. Auf dem Markt für Nahrungsmittel
erweist sich das seit Adam Smith gängige Vertrauen in
den Markt als naiv: Adam Smith folgend kann ich gerade
deshalb darauf vertrauen, dass sich meine Bedürfnisse
über den Markt befriedigen lassen, weil ich nicht auf
die Menschenliebe des Bäckers und des Schlachters hoffen
muss, sondern zuverlässig mit deren Gewinnstreben rechnen
kann. Unter Wettbewerbsbedingungen werden mir Schlachter
und Bäcker in ihrem ureigensten Interesse Produkte in
der Menge und Qualität verkaufen, die ich wünsche. Dies
gilt aber nur auf einem vollkommen transparenten Markt.
Schon der Bäcker kann versuchen, den Konsumenten zu täuschen,
indem er das Mehl mit Sägespänen versetzt. Doch was ist
ein mit Sägespänen versetztes Brot im Vergleich zu dem
Cocktail aus Medikamenten und Tiermehl, der uns in der
Form eines Rindersteaks vorgesetzt wird? Auch auf dem
scheinbar einfachsten Markt, dem Markt für Nahrungsmittel,
ist Information asymmetrisch verteilt. Der Markt funktioniert
nur, weil die Konsumenten den Produzenten vertrauen
– ein Vertrauen, das jeder ökonomischen Transaktion
vorgeordnet ist und diese erst ermöglicht. Erst im Falle
einer Erschütterung dieses Vertrauens erweist sich dessen
ökonomische Bedeutung.
Wenn dem segenbringenden Automatismus
des Marktes, dessen unsichtbare Hand den Egoismus der
Subjekte in allgemeine Harmonie verwandelt, nicht mehr
vertraut werden kann, werden vom Markt unabhängige Kontrollorgane
notwendig, Verbraucherschutz also, der jedoch als „nachsorgende“
Kontrolle der Produkte die Gefährdung der Konsumenten
kaum verhindern kann. Ganz abgesehen davon, dass der Verbraucherschutz
als typisches Stiefkind der Politik ohnehin ein Schattendasein
führt und dass die Verbraucher als Lobby nicht oder schwer
zu organisieren sind, stehen mehrere Sachverhalte einem
wirksamen Verbraucherschutz entgegen:
Erstens ist der Verbraucherschutz
für Anhänger des freien Marktes ein natürliches Ärgernis.
Wenn im Namen des Verbraucherschutzes bestimmte Stoffe
ge- oder verboten werden (so muss in Deutschland
Kalbsleberwurst zu zehn Prozent aus Kalbsleber bestehen),
erklärt diese überflüssige Regulierung die Verbraucher
indirekt für unmündig und schränkt ihre Optionen paternalistisch
ein – in der kaum begründbaren Annahme, die Bürokratie
wisse besser als die Konsumenten, was für sie gut sei.
Dieser Einwand gilt mit Einschränkungen auch dann, wenn
der Verbraucherschutz lediglich informiert, also zur Einhaltung
bestimmter Regeln bei der Etikettierung von Produkten
zwingt. In diesem Fall würde der Verbraucherschutz zwar
erst die Transparenz des Marktes herstellen und die Konsumenten
in die Lage versetzen, eine rationale Kaufentscheidung
in Kenntnis des Risikos zu treffen, das der Verzehr bestimmter
Produkte mit sich bringt. Doch da auch die Regeln für
die Produktetikettierung von einer Bürokratie erlassen
werden, deren Weisheit zweifelhaft ist, besteht die Möglichkeit
der Fehlinformation, die als Handelshemmnis wirken kann.
Dies führt zu einem zweiten Sachverhalt,
der einem wirksamen Verbraucherschutz entgegensteht: Auf
dem gemeinsamen europäischen Markt können die Argumente
des Verbraucherschutzes missbraucht werden, um Importe
zu diskriminieren. Wenn etwa in Italien nur die Nudeln
als pasta bezeichnet werden dürfen, die aus süditalienischem
Hartweizen gefertigt wurden, Importe dagegen als „pasta-ähnliches
Gemisch“ etikettiert werden müssen, gehen Verbraucherinformation
und Protektionismus eine unzulässige Verbindung ein. Um
dies zu verhindern, muss die EU entweder in langwierigen
Verhandlungen auf europäischer Ebene Standards entwickeln
(man brauchte 14 Jahre, um eine europäische Direktive
zur Zusammensetzung von Fruchtmarmeladen und Gelees auszuhandeln;
auf eine Mineralwasserdirektive konnte man sich nach elf
Jahren einigen), oder aber jedes Mitgliedsland muss die
Standards jedes anderen Mitgliedslandes anerkennen. Nach
einem Spruch des Europäischen Gerichtshofs von 1977 im
Falle Cassis de Dijon und vor allem seit der Einrichtung
des gemeinsamen Binnenmarktes 1992 ist die wechselseitige
Anerkennung von Standards geltendes europäisches Recht.
Dies kann für den Verbraucherschutz eine „Spirale
nach unten“, also hin zu den europaweit niedrigsten Standards,
bedeuten. In der hohen Priorität, die der freie Handel
für die EU vor anderen Belangen hat und haben muss, liegt
– zumindest im Konfliktfall – ein gewisser „struktureller“
bias gegen den Verbraucherschutz. Wenn also das
Umwelt-Bundesamt empfiehlt, beim Erwerb von Nahrungsmitteln
Produkte aus der näheren Region zu bevorzugen, werden
über kurz oder lang Organe der EU, im Zweifelsfall der
Europäische Gerichtshof, intervenieren, um zum Schutz
des gemeinsamen Marktes diese Behinderung extraregionaler
Produkte abzustellen.
Drittens teilen im Interesse
des informierenden wie des ge- und verbietenden Verbraucherschutzes
vorgenommene Produktdefinitionen das Problem aller Grenzwerte:
Definiert wird eine Höchstgrenze, über der die Konzentration
eines Stoffes als schädlich zu gelten hat; unterhalb des
festgelegten Grenzwertes dagegen gilt die Konzentration
als problemlos. Dabei werden die langfristigen Folgen
und die Effekte, die in der Verbindung mehrerer Schadstoffe
auftreten können, nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.
Hier stellt sich die Frage, wer unter welchen Bedingungen
die Definitionen vornimmt. Welchen Einfluss nehmen die
organisierten Erzeuger und die von ihnen bezahlten Experten
auf die Definition von Grenzwerten, die Festlegung von
Zusammensetzungen, das Verwendungsverbot von Schadstoffen
und die Etikettierung von Lebensmitteln? Sind Grenzwerte
politische Kompromisse zwischen den Interessen der Erzeuger,
dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand und
den Verbraucherinteressen? Wiegen im Interesse des Verbraucherschutzes
vorgenommene Definitionen die Konsumenten nicht systematisch
in falscher Sicherheit?
Viertens stellt die schiere
Menge der verfügbaren Produkte gerade bei den Nahrungsmitteln
den Verbraucherschutz vor unlösbare Probleme. Nahrungsmittel
setzen sich zunehmend aus einer unübersehbaren Anzahl
chemischer Verbindungen zusammen, deren Spektrum dank
der permanenten Innovation auch in der Nahrungsmittelproduktion
ständig neue Stoffe und Stoffkombinationen umfasst. Wer
Rindfleisch verzehrt, genießt auch vom Rind „weiter verarbeitetes“
Viehfutter (also unter anderem Hühnerkot, Altöl, zermahlene
Katzen) plus eine ganze Reihe von Medikamenten, Antibiotika,
Hormonen usw. Diese Stoffe fließen in die menschliche
Nahrung ein, über ihre kombinierte und Langzeitwirkung
auf Wohlbefinden, Gesundheit und Lebenserwartung liegen
aber keine Erfahrungen und keine gesicherten Erkenntnisse
vor. Aufgrund der Komplexität und der permanenten Innovation
der Produkte hinkt der Verbraucherschutz notwendig hinter
der Produktion her. Die Verbraucherinformation wird entweder
undurchschaubar oder falsch. Die Hausfrau, die sicher
gehen will, dass sie ihrer Familie kein Gift auftischt,
muss nicht nur ein Studium der Lebensmittelchemie absolviert
haben, sie muss auch einen großen Teil ihrer Zeit darauf
verwenden, die jeweils neuesten Entwicklungen zu verfolgen
– und ist dann immer noch nicht sicher, anders als der
Raucher, dem immerhin mitgeteilt wird, welches Risiko
er eingeht, wenn er ein Päckchen Zigaretten konsumiert.
Angesichts der unübersehbaren Zahl
von Nahrungsmitteln und deren Kombinationen sowie der
vielen Millionen Kaufakte, die pro Tag in der Nahrungsmittelkette
getätigt werden, wird die Vorstellung einer effektiven
Überwachung der zum Zwecke des Verbraucherschutzes
erlassenen Regeln geradezu alptraumartig – die Geschichte
der BSE-Krise ist hierfür ein Beleg: Die europäischen
Staaten erwiesen sich als nicht in der Lage, die – wie
man vermutet – für den Menschen schädliche bis tödliche
Verfütterung von Tiermehl an Pflanzenfresser wirksam zu
untersagen (so viel zur Debatte über das Verhältnis zwischen
Staat und Markt). Unter den gegenwärtigen Bedingungen
kann der Verbraucherschutz die Verbraucher kaum
angemessen informieren, noch sie schützen. Er kann
entweder versuchen, durch symbolische Aktionen das Vertrauen
der Verbraucher in die Lebensmittelsicherheit aufrechtzuerhalten
oder im Krisenfall wieder herzustellen. Er wäre dann eine
zusätzliche Marketingagentur der Nahrungsmittelproduzenten.
Oder aber – dies ist die Alternative, die die Bundesregierung
einzuschlagen verspricht – der Verbraucherschutz muss
in der Nahrungsmittelproduktion anstatt der Produkte die
Produktionsprozesse der Kontrolle unterziehen,
das heißt bestimmte Prozesse ge- oder verbieten und die
Verbraucher über die Art des Produktionsprozesses informieren.
Die ökologische Landwirtschaft ist das herausragende
Beispiel für eine Reihe mehr oder weniger streng
definierter Prozesse, als deren Ergebnis man ein bestimmtes
Niveau der Produktqualität erwarten kann. Die zur Zeit
in der konventionellen Landwirtschaft übliche „gute fachliche
Praxis“ als Kriterium der eingesetzten Produktionsverfahren
dagegen wird – wie die Vielzahl von Krisen zeigt – die
Verbraucher kaum schützen.
Optionen:
Liberalisierung, Etikettierung, Produkthaftung
Grundsätzlich gibt es zwei agrarpolitische
Optionen. Die erste Option wäre die vollständige Liberalisierung
des Agrarmarktes und seine uneingeschränkte Öffnung für
Importe. Diese Option würde von jeder weiteren politischen
Entscheidung entlasten, da nun zumindest formell dem Markt
(den Verbrauchern) die Zuständigkeit für die Gestaltung
der Landwirtschaft zuerteilt würde. Wenn dagegen eine
ausschließlich marktgemäße Ordnung der Landwirtschaft
für unzureichend gehalten wird, eröffnet sich eine ganze
Palette politischer Optionen, sowohl hinsichtlich der
bevorzugten Technologien (ökologisch, konventionell oder
gentechnisch), der prioritär geschützten Interessen (Verbraucher,
Produzenten, „Natur“ und Landschaft) sowie der bevorzugten
Interventionsformen (Subventionen oder Regulierung, Subvention
der Produktion oder Einkommenstransfers).
Die Vorteile einer rein marktwirtschaftlichen
Lösung sind:
Ø
Für den europäischen Verbraucher
sind die Lebensmittelpreise Weltmarktpreise, das heißt
sie liegen unterhalb des vom gemeinsamen Agrarmarkt garantierten
Niveaus.
Ø
Das Budget der EU wird entlastet;
die Mittel der Gemeinschaft können sinnvoller eingesetzt
werden; die politische Legitimation der Union wird gestärkt.
Ø
Die Verbraucher erhalten die Chance,
das Angebot durch ihre Kaufentscheidungen zu beeinflussen.
Ø
Die Qualität des Angebots wird
sich aller Voraussicht nach verbessern, zum einen aufgrund
der gestärkten Nachfragemacht der Konsumenten, zum andern,
weil der Markt nun auch Produkte aufnehmen kann, die unter
günstigeren Klima- und Bodenbedingungen erzeugt wurden
(argentinisches Rindfleisch).
Ø
Landwirtschaftliche Produzenten
außerhalb Europas erhalten Zugang zum europäischen Markt
sowie zu Drittmärkten, die vorher von subventionierten
europäischen Exporten überschwemmt waren.
Ø
Die negativen ökologischen und
landschaftlichen Folgen der Massentierhaltung und intensiven
Bodenbewirtschaftung in Europa werden gemildert.
Die negativen Konsequenzen: Ein Teil
der landwirtschaftlichen Produzenten Europas würde aus
dem Markt gedrängt, Arbeitsplätze nicht nur in der Landwirtschaft,
sondern zu einem gewissen Anteil auch in den Input-Industrien
(Landmaschinen, Viehfutter, Medikamente, Düngemittel,
Agro-Chemikalien) und weiterverarbeitenden Branchen würden
verloren gehen. Damit würde auch die Budgetentlastung
zum Teil wieder für die soziale Kompensation der Betroffenen
aufgewandt werden müssen. Allerdings wäre zu berücksichtigen:
Ø
Der schleichende Prozess der Verdrängung
kleinerer Betriebe im Rahmen der europäischen Subventionspolitik
würde lediglich beschleunigt werden: Für viele kleinere
Betriebe würde das Ende mit Schrecken nur an die Stelle
des Schreckens ohne Ende treten.
Ø
Der größte Teil der Input- und
ein Teil der weiterverarbeitenden Industrien sind international
orientiert und würden nicht notwendig von einem Schrumpfen
der europäischen Landwirtschaft beeinträchtigt werden;
und
Ø
Ein großer Teil der europäischen
Landwirtschaft (in der Ile de France, Nord- und Ostdeutschland,
in Dänemark und den Niederlanden, der Poebene, der spanischen
Mittelmeerküste) wäre auch auf einem freien Markt international
konkurrenzfähig.
Eine liberale Agrarpolitik würde den
Verbraucherschutz nicht in der Form von Ge- und Verboten
zu gewährleisten suchen, sondern den Konsumenten zum Souverän
erklären, der letztlich durch seine Kaufentscheidungen
bestimmt, was und wie produziert wird. Dies betrifft auch
die technologischen Präferenzen, das heißt den Mix aus
ökologischer, konventioneller und gentechnischer Produktion.
Um einen wirklich transparenten Markt herzustellen, müsste
allerdings auch eine konsequent liberale Agrarpolitik
zweierlei gewährleisten:
Ø
eine umfassende und eindeutige
Verbraucherinformation, etwa nach dem Muster der
Zigarettenetikettierung. Hierfür müsste der Verbraucherschutz
– um verstecktem Protektionismus entgegenzuwirken, auf
europäischer Ebene –, zentralisiert und nach dem Vorbild
der amerikanischen Food and Drugs Administration zur
Angelegenheit einer spezialisierten und von den Produzenteninteressen
unabhängigen Behörde werden. Die EU-Kommission
hat in ihrem Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit die Bildung
einer entsprechenden europäischen Behörde vorgeschlagen,
von der man unter den gegebenen Bedingungen allerdings
nicht weiß, wie unabhängig sie sein kann;
Ø
das Produkthaftungsrecht müsste
– wiederum nach amerikanischen Vorbild – neu gefasst werden,
das heißt die Produzenten müssten für Schädigungen, die
der Verzehr eines Nahrungsmittels hervorruft, die volle
Verantwortung tragen. Dabei darf die Beweislast nicht
einseitig auf der Seite des Geschädigten liegen.
Im Hinblick auf die europäische Integration
wäre die Liberalisierung des Agrarmarkts ein „Rückbau“:
eine Einschränkung des politischen Kompetenzbereichs der
Gemeinschaft zugunsten des Marktes und damit auch eine
Einschränkung der europäischen Kooperation. Die Erhaltung
eines Kooperationsmodells allerdings, das – wie die gemeinsame
Agrarpolitik – nur einer Minderheit zugute kommt und die
Legitimität der Integration insgesamt in Frage zu stellen
droht, kann jedoch kaum Selbstzweck sein.
Optionen:
Subventionierung zu welchem Zweck?
Der Option eines freien Agrarmarkts
können mehrere Alternativmodelle gegenüber gestellt werden.
Bei der Produktion von Nahrungsmitteln, so ließe sich
argumentieren, können die Kriterien der höchsten Effizienz
und der niedrigsten Preise nicht die wichtigsten, auf
keinen Fall aber die einzigen Produktionskriterien sein.
Höhere Preise als markträumende Weltmarktpreise können
gerechtfertigt sein, wenn der Zweck, der mit der Subventionierung
oder Regulierung verfolgt wird, gerechtfertigt ist. Die
derzeitige gemeinsame Agrarpolitik
bezweckt den Schutz der Produzenten mittels garantierter
Abnahmepreise, und die laufenden Reformen zielen auf die
Ersetzung der Preissubventionen durch direkte Einkommenstransfers.
In technologischer Hinsicht fördert die derzeitige Agrarpolitik
die konventionell-chemische Landwirtschaft und hierbei
vor allem spezialisierte Betriebe mit hohem Produktionsvolumen
und hohen economies of scale.
Technologisch bieten sich zur
herkömmlichen Agrarpolitik der EU grundsätzlich zwei Alternativen
an: Die spezielle Förderung der gentechnischen oder der
ökologischen Landwirtschaft. Wenn der Staat bzw. die EU
ihre vorrangige Aufgabe in der Förderung der Gentechnologie
sehen – um die Wettbewerbsfähigkeit Europas in einer neuen
Technologie zu erhalten oder herzustellen; um einen neuen
landwirtschaftlichen Produktivitätsschub und Preissenkungen
zu erzielen –, dann steht das ganze Arsenal industriepolitischer
Instrumente zur Verfügung, das etwa bei der Förderung
der Atomtechnologie zum Einsatz kam. Wichtigste Instrumente
wären vermutlich die vom Staat/der EU geförderte oder
selbst betriebene vorwettbewerbliche Forschung; der Einsatz
der staatlichen/gemeinschaftlichen Nachfragemacht; subventionierte
Kredite und andere Mechanismen der Mittelstands- und Regionalförderung;
Ausbildungsmaßnahmen; der Aufbau einer entsprechenden
Infrastruktur; und das Setzen von Industriestandards.
Die bevorzugten Interessengruppen wären zum einen die
landwirtschaftlichen Produzenten, die bereit und in der
Lage sind, zur Gentechnologie überzugehen, und zum andern
die auf landwirtschaftliche Anwendungen spezialisierte
gentechnische Industrie. Zumindest zu großen Teilen wird
diese Interessengruppe mit dem heutigen agro-chemisch-veterinären
Komplex deckungsgleich sein. Kernstück der staatlichen
oder gemeinschaftlichen agrarischen „Industriepolitik“
wäre es, die Produzenten von den potenziellen Risiken
der Gentechnologie zu entlasten und sie selbst zu übernehmen
(das heißt die Steuerzahler übernehmen zu lassen) oder
auf die Verbraucher abzuwälzen. Die Verbraucher würden
insofern profitieren, als Nahrungsmittel möglicherweise
billiger würden, sie würden aber auch die langfristigen
(heute unbekannten) Risiken zu tragen haben, die mit der
gentechnischen Erzeugung von Lebensmitteln verbunden sind.
Ob der Einsatz der Gentechnologie in der Landwirtschaft
gewisse Extremformen der konventionellen Agrarproduktion
mildert (so wie der Einsatz der Kerntechnologie die Luftverschmutzung
durch Abgase mindert), kann an dieser Stelle nicht vorausgesagt
werden.
Bei der Förderung der ökologischen
Landwirtschaft könnten im Prinzip dieselben Instrumente
zur Anwendung kommen, eine ökologische Agrarpolitik wäre
aber insofern komplizierter, als sie gegen die Mehrheit
und die Macht der Produzenten – den agro-chemisch-veterinären
und den agro-gentechnischen Komplex – durchgesetzt
werden müsste und sich dabei auf keine organisierte Basis
stützen könnte. Nutznießer dieser Politik wären eine Minderheit
der Produzenten und vor allem die Verbraucher, deren Ernährungsrisiko
verringert würde, was aber mit höheren Lebensmittelpreisen
verbunden sein könnte. Aber zum einen sind Verbraucherinteressen
schwerer zu organisieren als Produzenteninteressen; zum
andern ist nicht voraussehbar, ob die Verbraucher (und
designierten Patienten) sich mit ihren Kaufentscheidungen
wirklich für eine höhere Produktqualität entscheiden werden
– oder ob sie nicht doch den niedrigen Preisen den Vorzug
geben. Nutznießer soll zum anderen „die Natur“ sein, deren
systematische Schändung durch die konventionelle Landwirtschaft
von vielen als beunruhigend empfunden wird, aus einem
religiösen Motiv heraus oder aufgrund anderweitiger moralischer
Überzeugungen. Kirchen, Ökologiebewegung, Tier-, Natur-
und Landschaftsschutz machen sich zu Stellvertretern der
Natur, die sich direkt kein Gehör verschaffen (wohl aber,
wie auch BSE zeigt, in Form einer Katastrophe reagieren)
kann.
Die Mittel zur Förderung der ökologischen
Landwirtschaft werden freilich begrenzt sein. Auch nach
einer Reform der gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge der
Agenda 2000 werden Transferzahlungen an alle landwirtschaftlichen
Produzenten geleistet werden; als Gegenleistung bieten
die Landwirte zur Zeit ökologische und landschaftsschützerische
Dienstleistungen an; man könnte aber auch daran denken,
für die Landwirte mit diesen Transferzahlungen die Einkommensdifferenzen
auszugleichen, die zwischen konventioneller und ökologischer
Landwirtschaft auftreten. Dies kann damit begründet werden,
dass die ökologische Landwirtschaft geringere Risiken
mit sich bringt als die chemisch-veterinär-konventionelle
oder gentechnische, dass sie die Gesundheitsrisiken senken
und Ernährungsskandale wie die BSE-Krise vermeiden hilft.
Eine massive Subventionierung kann dennoch nur übergangsweise
erfolgen. Auf mittlere Sicht müsste auch die ökologische
Landwirtschaft ihren eigenen Markt entwickeln, der weitgehend
ohne staatliche Subventionen auskommt (dasselbe gälte
für die gentechnische Landwirtschaft). Das heißt: das
Projekt der ökologischen Landwirtschaft wäre auf Dauer
zum Scheitern verurteilt, wenn die Konsumenten nicht bereit
wären, einen geringfügig höheren Anteil ihrer Konsumausgaben
für Nahrungsmittel aufzuwenden. Zur Zeit allerdings haben
die Konsumenten kaum die Chance, eine Entscheidung für
oder gegen ökologisch erzeugte Produkte zu treffen, da
der Handel hierfür nur Nischen bereit stellt. Die Förderung
der ökologischen Landwirtschaft müsste also in erster
Linie darauf gerichtet sein, die (vermutete) Nachfrage
nach ökologischen Produkten über den Handel mit dem (potenziellen)
Angebot in Kontakt zu bringen.
Die Durchsetzung der ökologischen Ländwirtschaft
könnte zur Bildung zweier Käuferklassen führen, einer
wohlhabenden Schicht, die sich die Ökoschnitzel zu Gemüte
führt, und einer Unterklasse von Deathburger-Konsumenten.
Die Gruppe derjenigen allerdings, die entweder ihren Nahrungsmittelverzehr
mit gesundheitsschädlichen Folgen einschränken müssten
oder aber zum Verzehr von Risikomaterial gezwungen würden,
dürfte nicht allzu groß sein, und die Einschränkungen,
die sie zu tragen hätte, könnte durch eine Steigerung
der Sozialhilfe kompensiert werden. Insgesamt wäre es
von Vorteil, wenn die Definition des akzeptablen Ernährungsrisikos
zu einem hohen Anteil von den Verbraucherentscheidungen
abhängig wäre – wobei die Verbraucher freilich erst in
die Lage versetzt werden müssten, rationale Entscheidungen
zu fällen.
Auf jeden Fall würde auch eine gezielte
Förderung der ökologischen Landwirtschaft nichts daran ändern,
dass sich das Gros des Sektors auch weiterhin aus konventionell
arbeitenden Betrieben zusammensetzt. Diese Mehrheitsgruppe
von Agrarbetrieben wird auch in Zukunft Transferleistungen
beziehen. Die Subventionierung der Landwirtschaft wird also
weiterhin mit der Subventionierung der Agrarproduzenten
gleichbedeutend sein, mit dem Erhalt eines „Standes“, der
freilich immer weniger wegen seiner wirtschaftlichen Leistung
und immer mehr wegen des Verzichts auf Wirtschaftsleistung
gefördert wird. Der Einkommenstransfer auch an die konventionellen
Agrarproduzenten ist zumindest formell an bestimmte Auflagen
gebunden. Auch ohne den Kriterien der ökologischen Landwirtschaft
im strengen Sinne zu genügen (denen zufolge etwa der Umfang
der Tierhaltung an die für den Betrieb verfügbare Grünfläche
gebunden ist), können und müssen auch die konventionellen
Unternehmen ökologische Dienstleistungen erbringen, und
zwar nicht nur im Natur- und Landschaftsschutz, sondern
auch in der Produktion von Agrarerzeugnissen. Das Gegensatzpaar
„ökologisch-konventionell“ müsste daher in eine Skala unterschiedlicher
Produktionsmodi ausdifferenziert werden. In der deutschen
Landwirtschaft etwa schreibt eine unter dem Namen „Neuland“
arbeitende Produzentengruppe Kriterien der Rinderhaltung
vor, die zwar nicht den strengen ökologischen Regeln entsprechen,
aber doch einen großen Schritt aus der chemisch-veterinären
Tierhaltung heraus führen. Investitionen der Landwirte,
die die Betriebe auf neue Kriterienkataloge ausrichten,
können staatlich gefördert werden, wenn sie nachweisbar
zum Rückbau chemischer und veterinärer und zur Stärkung
natürlicher Kreisläufe in der Tier- und Pflanzenproduktion
beitragen.
Schluss
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die
BSE-Krise neue Anreize nicht nur für die Produzenten,
sondern auch für die Verbraucher und den Handel schafft,
dass sich neue Vermarktungskanäle (vom Ökobauern zum lokalen
Schlachter anstatt von der Agrarfabrik zum Supermarkt)
auftun, und dass sich die Ernährungsgewohnheiten „strukturell“
verändern. Die BSE-Krise könnte zu einer Art „Ölkrise
der Landwirtschaft“ werden, die neue Verbrauchsmuster
hervorruft. Die BSE-Krise ist aber auch und vor allem
politischer und ethischer Natur – und zwar weit über den
traditionellen Tierschutz hinaus. Sie wirft letztlich
die Frage auf, wie viel Zurichtung der Natur wir akzeptieren
wollen, um über (geringfügig) billigere Nahrungsmittel
und erweiterte Konsumoptionen verfügen zu können. Die
dank Fleischkonsum – scheinbar – höhere Qualität unserer
Ernährung ist erkauft mit höheren Gesundheitsrisiken,
aber auch Zuständen in der Tierhaltung, die jeden zum
Mitgefühl fähigen Menschen zum Vegetarier werden lassen
würden, der wüsste, was hinter den Wänden der Ställe und
Schlachthöfe vor sich geht.
Die Krise macht die Ernährung, die
zuvor als Angelegenheit des privaten Geschmacks von öffentlicher
Erörterung weitgehend verschont blieb bzw. als Angelegenheit
unverbesserlicher Apostel (Vegetarier, Veganer, Müslis
usw.) galt, zum Gegenstand der kritischen öffentlichen
Debatte. Mit dem BSE-Skandal ist eine weitere Facette
der Risikogesellschaft sichtbar geworden: Es gibt ein
Reservat weniger, in dem Konsumenten und Bürger vom Zwang
zur Reflexion und zu grundsätzlichen Entscheidungen entlastet
wären – der Privatbereich der Nahrungsmittelaufnahme ist
nicht mehr privat. Selbst die Auswahl der Speisen wird
zu einer Angelegenheit mit ethischem Hintergrund und potenziell
tödlichem Ausgang. Damit wird vieles von dem, was zuvor
der Gewohnheit und der Tradition überlassen war, zu einem
Gegenstand reflexiver Entscheidungen – und dem politischen
Handeln zugänglich.