Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2001


Michael Ehrke

Frisch auf den Tisch...
Die BSE-Krise, die europäische Agrarpolitik und der Verbraucherschutz

Die möglicherweise gründlichste Wende, die die rot-grüne Koalition in Deutschland bislang gegenüber allen vorherigen Regierungen der Bundesrepublik vollzog, fand auf dem Feld der Agrarpolitik statt. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Agrarpolitik normalerweise nicht zu den Prioritäten sozialdemokratisch geführter Regierungen zählt. Die BSE-Krise, die die deutsche Bundesregierung im Januar 2001 zu einem agrarpolitischen Kurswechsel veranlasste, brachte Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Ausflug in die virtuelle Welt wieder zurück in das Reich der (in diesem Fall organischen) Stoffe. Die Krise, so wurde im November 2000 deutlich, war nicht auf Großbritannien beschränkt und warf ein unerwartet grelles Licht auf die Produktionsmethoden der modernen Landwirtschaft in ganz Europa. Sie zeigte exemplarisch die Risiken der intensiven chemischen Landwirtschaft und Massentierhaltung und machte den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft zu einer politischen Frage.  Die BSE-Krise fällt zeitlich in die kritische Phase des Übergangs von der konventionellen zur gentechnischen Landwirtschaft – und sie wird diesen Übergang beeinflussen. Der Fortschritt zur Gentechnologie wird dank der BSE-Krise nicht in der Form einer markt- oder technologiegesteuerten Eigengesetzlichkeit verlaufen können, sondern muss nun in politische Entscheidungsprozesse eingebettet werden – was bedeutet, dass er auch modifiziert, abgebrochen oder verzögert werden kann, zumal die BSE-Krise die zur gentechnischen und konventionellen Landwirtschaft alternative Option der ökologischen Landwirtschaft in die Diskussion gebracht hat. Die Risiken der konventionellen Landwirtschaft, die BSE vor Augen geführt hat, beleuchten indirekt auch das Risikopotential der Gentechnologie, wobei der Übergang von der konventionellen zur gentechnischen Landwirtschaft – zu Recht oder zu Unrecht – auch hinsichtlich der Risiken die Assoziation mit dem Wechsel von der konventionellen zur Nuklearenergie hervorruft. Es ist daher durchaus plausibel, die BSE-Krise in einer – wie immer begrenzten – Analogie zum Reaktorunfall von Tschernobyl zu sehen, als Krise also, die die Politik zwingt, die Eigendynamik marktgesteuerter und/oder technologischer Entwicklungen zu kontrollieren, zu gestalten oder zu stoppen. Neben der technologischen enthält die Krise auch eine ordnungspolitische Dimension: Sie thematisiert am Beispiel eines sensiblen Wirtschaftssektors die legitime Reichweite von Marktprozessen sowie das legitime und notwendige Spektrum politischer Interventionen – etwa im Rahmen des Verbraucherschutzes. Nun wird die europäische Landwirtschaft allenfalls partiell vom Markt gesteuert: Sie gilt als Produkt bürokratischer Regulierung, dessen geradezu monströse Züge sich vortrefflich zur Illustration der Schädlichkeit politischer Wirtschaftsinterventionen eignen. Die Tatsache allerdings, dass die BSE-Krise nicht auf einem idealen, sondern hoch regulierten Markt ausbrach, entlastet nicht den Markt, sondern wirft die zusätzliche Frage nach dem Zweck und der Wirkung bürokratischer Interventionen, in diesem Falle der EU, auf. 

Schurkerei oder Systemrisiko?

 

Was immer letztlich als Ursache der BSE-Krise aufgedeckt wird, Tiermehlverfütterung oder der Einsatz bestimmter agrochemischer Cocktails: Die Krise ist nur das letzte Glied einer langen Reihe europäischer Ernährungsskandale: Industrieöl im Speiseöl, Hühnerembryos im Flüssig-Ei, Altöl im Tierfutter, Dioxin im Hühnerfutter, Ringelwürmer im Fisch, Nikotin in der Babynahrung, Frostschutzmittel im Wein, Hormone im Kalbsfleisch, Antibiotika im Schweinefleisch – dies sind nur einige Beispiele für die, wie es scheint, nicht ausnahmsweise, sondern systematische Versetzung von Nahrungsmitteln mit ekelerregenden, ungenießbaren, krank machenden, giftigen und – im Extremfall – tödlichen Stoffen, die die europäische Landwirtschaft als agro-veterinäre Mafia erscheinen lässt, als kriminelle Supervereinigung, die aus Profitgier mit Giften panscht und die Krankheit oder gar den Tod ihrer Kunden billigend in Kauf nimmt. Die Kannibalisierung von Pflanzenfressern, die man zwingt, ihre zermahlenen Artgenossen zu fressen, erscheint nur als der letzte und widerwärtigste Ausbruch von Geldgier und krimineller Energie (was unter ethischen Gesichtspunkten vielleicht auch zutrifft), mit der das Agrarbusiness aufgeladen ist. Diese Sicht ist freilich verharmlosend: Agroindustrielle Katastrophen gehen nicht nur und nicht in erster Linie auf illegale Akte zurück, sondern auf Systemrisiken der intensiven Landwirtschaft und Massentierhaltung.

 

Wenn die Landwirtschaft, in der früher die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung tätig war, heute mit zwei Prozent der Beschäftigten nicht nur eine stark gewachsene Bevölkerung mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgt, sondern auch noch Überschüsse erwirtschaftet, geht dies auf eine dramatische Zunahme der Produktivität – und das heißt in erster Linie auf Veränderungen von Produktionsprozessen – zurück. Und da die Landwirtschaft mit organischen Stoffen zu tun hat, verändern sich mit den Produktionsprozessen auch die Produkte. Agrarprodukte sind keine reinen, sondern chemisch veränderte Naturprodukte. Die Landwirtschaft ist wie jede moderne Wirtschaftsbranche „innovativ“ – sie erfindet ständig neue Prozesse, Produkte und Produktkombinationen, deren Langzeitwirkungen auf den menschlichen Organismus zwangsläufig unbekannt sind. Alle landwirtschaftlichen Produzenten und nicht nur die kriminellen schwarzen Schafe gehen damit unter dem Druck der Produktivitätssteigerung das Risiko ein, das Wohlbefinden ihrer Kunden zu beeinträchtigen, sie krank zu machen oder zu vergiften.

 

Der technische Fortschritt setzt sich über Marktprozesse durch. Landwirtschaftliche Betriebe operieren auch in Europa unter harten budget constraints, sie müssen, um ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern, ihre Produktivität steigern und ihre Kosten senken. Wettbewerb in der Landwirtschaft ist in erster Linie Kostenwettbewerb, kein Wettbewerb um Qualität oder Produktdifferenzierung. Um ihre wirtschaftliche Existenz zu erhalten, müssen die landwirtschaftlichen Produzenten zum Beispiel den Rohstoff „Rind“ so schnell und profitabel wie möglich verwerten. Dies schließt ein, dass die von der Natur vorgesehenen Reifungszeiten, Nahrungs-, Bewegungs- und Aufenthaltsgewohnheiten systematisch manipuliert werden müssen, etwa über Anreicherung des Rohstoffes „Rind“ mit Futtermitteln und Medikamenten. Der Rohstoff ist aber ein komplexes biologisches System, das auf Veränderungen seiner natürlichen Lebensbedingungen sensibel reagiert: Die vom Markt erzwungene systematische Zurichtung der Tiere führt zwangsläufig zu Produktdefekten, die wiederum mit technischen Eingriffen und Medikamenten behoben werden müssen. Zum Beispiel: Weil Hühner in Massentierhaltung keine stabilen Knochen entwickeln, müssen sie mit Mangan gefüttert werden, das sie zu 98 Prozent wieder ausscheiden; die Hühnerkot-Manganmischung wird wiederum an Rinder verfüttert, die auf die Überdosis an Mangan ihrerseits kritisch (womöglich mit BSE) reagieren. Massentierhaltung und chemische Pflanzenproduktion schaffen zwangsläufig instabile Kreisläufe und wechselseitig sich verstärkende Rückkopplungen, sie zwingen zu kompensierenden Eingriffen, die neue Eingriffe notwendig machen usw. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich das Ende der Nahrungskette – der menschliche Organismus – von den Folgen dieser Manipulationen des natürlichen Materials isolieren lässt.

Der europäische Agrarmarkt

 

Unter reinen Marktbedingungen hätten die Konsumenten die Möglichkeit, sich zu wehren, in­dem sie die Produzenten durch Kaufverweigerung bestrafen, sie zu Verhaltensänderungen zwingen und unter Umständen in den Ruin treiben. Wenn sie es nicht tun, bedeutet dies, dass sie mit den Produkten zumindest nicht unzufrieden sind. Wenn die Konsumenten eine Präferenz für billige Agrarprodukte entwickeln, deren Verzehr gesundheitliche Risiken mit sich bringt, wenn also ein niedriger Preis für Lebensmittel eher die Kaufentscheidung motiviert als hohe Qualität oder Lebensmittelsicherheit, ist gegen das Urteil des Souveräns unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nichts mehr einzuwenden. Ethische Bedenken gegen intensive Landwirtschaft und Massentierhaltung haben auf dem Markt keinen Platz, es sei denn sie führen über den politischen Markt und Wahlentscheidungen zu einer Veränderung des gesetzlichen Rahmens. Voraussetzung eines souveränen Konsumentenurteils ist freilich, dass die Konsumenten die Risiken kennen, die sie eingehen, wenn sie billige Nahrungsmittel erwerben – eine Voraussetzung, die in der Regel nicht gegeben sein wird. Wer konnte vor dem Ausbruch der BSE-Krise schon wissen, woraus sich die Currywurst zusammensetzte?

Es kommt jedoch hinzu, dass die europäische Landwirtschaft nicht nach reinen marktwirtschaftlichen Prinzipien organisiert, sondern eine Kombination von Markt und Nicht-Markt ist. Sie funktioniert wie eine Marktwirtschaft, insofern sie Kosteneffizienz und Produktivität belohnt, sie funktioniert nicht wie eine Marktwirtschaft, insofern sie den Konsumenten de facto die Möglichkeit nimmt, das Verhalten der Produzenten durch Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Innerhalb der EU sind Agrarpreise keine Marktpreise, es sind politische Preise, die unter für Außenstehende schwer zu durchschauenden Bedingungen ausgehandelt wurden, und die nicht „den Markt räumen“, sondern den Produzenten ein „angemessenes Einkommen“ sichern sollen. Wenn preiswerte Importe das Preisniveau, das den Produzenten ein angemessenes Einkommen sichert, zu untergraben drohen, werden sie untersagt oder verteuert. Wenn die europäische Nachfrage nach Agrarprodukten trotz Importbeschränkungen nicht ausreicht, um den landwirtschaftlichen Produzenten ein angemessenes Einkommen zu verschaffen, schafft die EU durch den Aufkauf, die Lagerung und den subventionierten Export von Agrarprodukten die benötigte zusätzliche Nachfrage. Was die Europäer m. a. W. als Verbraucher von Agrarprodukten nicht zahlen wollen, zahlen sie als Steuerzahler. Der Produktpreis, mit dem ein europäischer Agrarproduzent kalkulieren muss und an dem er also sein Investitionsrisiko zu messen hat, ist der Interventionspreis der EU. Da die EU-Subventionen unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und nicht unter dem der Umweltschonung, der Qualität, der artgerechten Tierhaltung oder des Verbraucherschutzes (obwohl diese letztgenannten Kriterien mit der Reform der Agrarpolitik an Bedeutung gewonnen haben) vergeben werden, kann sich der Produzent ohne Risiko und unter Missachtung qualitativer Gesichtspunkte auf die kostengün­stige Produktion großer Mengen konzentrieren. Die europäischen Agrarpreise erfüllen eine Funktion von Preisen: sie rufen ein Angebot hervor. Sie erfüllen deren zweite Funktion, das Angebot zu limitieren (bzw. im Interesse der Konsumenten zu strukturieren) nur unzureichend.

Die Konsequenzen dieser Agrarordnung wurden oft genug beklagt: Die europäische Landwirtschaft produziert systematisch Überschüsse – Milchseen und Butterberge –, die zu hohen Kosten gelagert, vernichtet oder exportiert werden; die gemeinsame Agrarpolitik begünstigt große Agrarbetriebe; kleinere bäuerliche Betriebe können im Wettbewerb mit den hoch subventionierten Agrarfabriken oft nicht mithalten; die Konsumenten zahlen höhere Lebensmittelpreise als sie unter reinen Marktbedingungen zahlen müssten; die Importe kostengünstiger produzierender außereuropäischer Anbieter werden behindert und die subventionierten EU-Exporte behindern außereuropäische Produzenten in ihrer Heimat und auf Drittmärkten.

 

Aus den absurden Konsequenzen der europäischen Agrarordnung lassen sich freilich unterschiedliche Schlüsse ziehen: Auf der einen Seite kann man, wie zuletzt Otto Graf Lambsdorff in einem Artikel in der FAZ (vom 10. 2. 2001), die gemeinsame Agrarpolitik als Inbegriff bürokratischer Wirtschaftslenkung generell ablehnen und Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie völlig dem Markt überlassen. Auf der anderen Seite kann sich die Kritik an der gemeinsamen Agrarpolitik weniger auf den Sachverhalt als auf den Zweck der Subventionen richten. Es wäre ja denkbar, dass die EU im Konsens mit oder stellvertretend für die Verbraucher die Landwirtschaft subventioniert und höhere Preise als Marktpreise für landwirtschaftliche Produkte zulässt, um die Qualität der Produkte, eine artgerechte Tierhaltung oder die Bewahrung ökologischer Gleichgewichte zu sichern. Dies ist – wie angemerkt – in der EU nicht der Fall. Die Subventionierung erfolgt im Interesse der Produzenten, die Agrarpolitik ist redistributiv, und zwar in einer Form, die die Steigerung des Produktionsvolumens honoriert. Erst in jüngster Zeit wurde die gemeinsame Agrarpolitik partiell reformiert, indem die Subventionierung der Produktion durch direkte Einkommenstransfers an die Produzenten ersetzt wurde.

 

Die Verfassung der europäischen Landwirtschaft und das häufige Auftreten von Ernährungsskandalen hängen also in dreierlei Weise miteinander zusammen:

Ø      Erstens arbeiten die europäischen Agrarbetriebe unter Wettbewerbsbedingungen und Kostendruck, der zu ständigen, unter Umständen riskanten Produktinnovationen (einschließlich minderwertiger Materialmischungen) zwingt.

Ø      Zweitens haben die Konsumenten nur geringe Möglichkeiten, das Angebot durch Kaufentscheidungen zu strukturieren.

Ø      Drittens wird der Marktzugang von Agrarprodukten, die unter ökologisch günstigeren Umständen außerhalb der EU erzeugt wurden, behindert. Ein Beispiel wäre lateinamerikanisches Rindfleisch. Die Kombination aus Wettbewerbsbeschränkungen (Importquoten) und Wettbewerb ermöglicht es den europäischen Erzeugern – und zwingt sie dazu –, ihre „natürlichen“ Standortnachteile durch den Einsatz von Technik und Medikamenten auszugleichen.

Hintergrund: Der agrar-politische Komplex

 

Wie ist es zu erklären, dass die Europäische Union bis zu 80 Prozent ihrer finanziellen Mittel (1999 waren es dank mehrerer Reformen nur noch 45,2 Prozent) sieben Prozent ihrer Bevölkerung zugute kommen ließ? Warum ließ man es zu, dass das Projekt der europäischen Integration mit absurden Milchseen, Butterbergen oder subventionierten Rindfleischexporten nach Brasilien identifiziert werden konnte?

 

Eine Ursache für die Persistenz einer anerkanntermaßen unsinnigen Agrarpolitik liegt sicherlich darin, dass sich die Benachteiligten dieser Politik nicht wirksam widersetzen konnten oder wollten. Gegrummelt über die Agrarpolitik haben neoliberale Ökonomen oder ökologisch inspirierte Journalisten immer  – die Verbraucher aber haben diese Politik zumindest akzeptiert. Die Reformen, die es gab, wurden nicht vom Protest der Verbraucher, Umwelt- oder Tierschützer angetrieben, sondern entweder von den Handelspartnern der EU – den Ländern der CAIRNS-Gruppe und den USA, die der Union im Zuge der Uruguay-Runde eine Reform ihrer Agrarpolitik abnötigten – oder von der EU-Bürokratie selbst, die einen Ausweg aus der Sackgasse suchen musste, in die sie sich mit ihrer Agrarpolitik manövriert hatte: Die Kosten der gemeinsamen Agrarpolitik drohten immer wieder das Budget der Union zu sprengen. Die Passivität der Verbraucher bzw. der nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung könnte auch darauf zurückgeführt werden, dass die europäische Landwirtschaft zumindest eines erreicht hat: Die Preise landwirtschaftlicher Erzeugnisse und der Anteil der Ernährung an den Ausgaben der Haushalte sind auch in Europa kontinuierlich zurückgegangen – was freilich nur eine ökonomische Gesetzmäßigkeit (Engels Gesetz) bestätigt.

 

Es kommt hinzu, dass die Produktion und der Verzehr von Nahrungsmitteln selbst in postindustriellen Gesellschaften, in denen die Landwirtschaft auf eine marginale Größe geschrumpft ist, eine andere Bedeutung haben als die Fertigung und Nutzung industrieller Güter. Der Verzehr von Nahrungsmitteln ist keine Option, sondern Grundvorgang der Existenzerhaltung. Die Einverleibung organischer Substanzen durch den Organismus ist affektiv anders besetzt als der Umgang mit Produkten aus anorganischem Material: Auf den Zusammenbruch der Computer-Festplatte reagiert man nicht wie auf die Würmer im Fisch. Eine gewisse Beunruhigung liegt auch darin, dass die Ernährung, Grundlage der biologischen Existenz, vom Markt, also anonymen Angebots- und Nachfragebewegungen, abhängig sein soll. Gerade am Beispiel der Ernährung wird deutlich, dass die Kontrolle, die ein moderner Bürger der EU über seine Selbsterhaltungsbedingungen ausübt, weitaus schwächer ist als bei einem Neandertaler. Dies könnte der Grund für die Bereitschaft auch der Verbraucher sein, die Nahrungsmittelproduzenten als Produzenten sui generis, als die letzten Vertreter eines besonderen Standes zu betrachten, der zumindest partiell den modernen industriellen Konflikten und postindustriellen Unübersichtlichkeiten entzogen sein sollte.

 

Diese Bereitschaft der Nachfrager findet auf der „Angebotsseite“ ihr Pendant in einer stark organisierten, konfliktbereiten und in fast allen kontinentaleuropäischen Ländern (weniger in Großbritannien und Skandinavien) eng mit dem politischen Konservatismus verbundenen Bauernschaft. Diese Symbiose ergibt sich aus der europäischen Sozialgeschichte – das heißt der sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts, in denen sich das auch heute noch bestehende poli­tische Parteienspektrum bildete. Die Bauernschaft war die natürliche Massenbasis eines selber agrarisch basierten, oft klerikal eingefärbten Konservatismus, ein Gegengewicht gegen die (reale oder befürchtete) Vorherrschaft der Liberalen und der Sozialdemokratie in den Städten. Konservative und Christdemokraten versuchten daher immer zu verhindern, dass die Bauernschaft ihre spezifische Standesidentität verlor und in die „modernen“ Auseinander­setzungen zwischen Industrieproletariat und kapitalistischen Unternehmern hineingezogen wurde. Dabei musste die Fragmentierung der Bauernschaft sowohl in geographisch-wirtschaftlicher Hinsicht (mit regional unterschiedlichen klimatischen und Bodenbedingungen) als auch in sozialer Hinsicht (Agrarfabriken versus Kleinbauern) durch eine wie immer artifizielle Ideologie der ständischen Einheit des Bauerntums übertüncht werden.

 

Die konservativ-agrarische Symbiose begünstigte die Bildung „eiserner Dreiecke“ aus landwirtschaftlichen Verbänden, staatlicher Agrarbürokratie und konservativen Agrarpolitikern, die abgeschirmt von den Parlamenten und der Öffentlichkeit, die politischen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft festlegen. Diese eisernen Dreiecke auf nationaler Ebene reproduzieren sich auf der europäischen Ebene: Der Landwirtschaftskommissar der EU ist meist ein konservativer Politiker (Franz Fischler ist Mitglied der ÖVP), die Beamten der Generaldirektion VI für Landwirtschaft – der personell und finanziell am besten ausgestatteten EU-Behörde – rekrutieren sich aus den meist konservativ geführten Agrarministerien Frankreichs, Deutschlands und Irlands, und die europäische Interessenvertretung der landwirtschaftlichen Produzenten– die Confederation of Professional Agricultural Organizations (CO­PA) – ist hinsichtlich Personal, finanzieller Ressourcen und Organisationsgrad besser ausgestattet als alle anderen supranationalen Interessenverbände. Die starke Repräsentation der Bauern auf nationaler wie auf europäischer Ebene hat freilich nicht verhindert, dass es wiederum meist die Bauern (und Fischer) waren und sind, die am lautstärksten gegen die EU protestierten – wenn die EU unter dem Druck der außereuropäischen Handelspartner, des eigenen Budgets oder der bevorstehenden Osterweiterung begrenzte Reformen vornehmen musste.

 

Die Entstehung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik im engeren Sinne geht auf einen Kompromiss zwischen Frankreich und Deutschland zurück (hier erwies sich als relevant, dass weder Großbritannien noch ein skandinavisches Land zu den Gründungsmitgliedern der EWG gehörte). Frankreich mit seiner effizienten Landwirtschaft bestand auf einem offenen Agrarbinnenmarkt, um seine Produkte vor allem in Deutschland absetzen zu können; nur unter dieser Bedingung war es bereit, seinen Markt für deutsche Industriegüterexporte zu öffnen. Unter ökonomischen Gesichtpunkten hätte die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer schwachen, fragmentierten Landwirtschaft und ihrer starken Industrie ebenfalls für einen freien Agrarmarkt eintreten müssen – was bedeutet hätte, dass sie in gewissem Umfang die bäuerlichen den industriellen Interessen hätte opfern müssen. Ebendies war politisch nicht möglich: Bauernlobby und Christdemokratie stimmten überein, dass die Landwirtschaft als Wirtschaftsform sui generis zu schützen sei – eine Übereinkunft, die dann in die gemeinsame europäische Agrarpolitik übersetzt wurde.

 

Weder der nationale agrarpolitische Komplex noch die europäische Agrarpolitik wurden von sozialdemokratischer Seite je ernsthaft zur Diskussion oder gar zur Disposition gestellt. Die Sozialdemokratie konnte in Kontinentaleuropa (anders als in Skandinavien) kaum an demokratische oder gar agrarrevolutionäre Traditionen in der Bauernschaft anknüpfen; ohne die geringste Aussicht, die Bindung der Bauern an den Konservatismus schwächen zu können, beschränkte sich die sozialdemokratische Agrarpolitik (sofern man sie nicht ganz einem Koalitionspartner überließ) in der Regel darauf, die Bauern „ruhig zu stellen“, indem man ihren Forderungen so weit wie möglich nachkam – und sich ansonsten anderen Bereichen zuzuwenden. Die hohe Mobilisierbarkeit der Bauern, ihre Verfügung über schweres landwirtschaftliches Gerät und ihre Bereitschaft zur Brachialgewalt machte den deutlich sichtbaren bäuerlichen Protest zum Alptraum jeder, insbesondere jeder sozialdemokratischen Regierung. Auch die Paradoxie der europäischen Agrarpolitik, die Konzentration der Subventionen auf die großen Agrarbetriebe – auf Kosten der Kleinbauern –, wurde von sozialdemokratischer Seite nie thematisiert. Der Ministerwechsel vom Januar 2001 in Deutschland, bei dem der Verbraucherschutz als Kern der Agrarpolitik definiert wurde, kommt daher in der Tat einer Revolution von oben gleich. Voraussetzung war eine Revolution von unten, eine Revolution der Verbraucher, die mit ihren Kaufentscheidungen in kürzester Zeit den Markt für Rindfleisch vernichtet hatten.

Verbraucherschutz

 

Die europäischen Verbraucher bezahlen – wie erwähnt – für Agrarprodukte mehr als sie auf einem freien Markt bezahlen müssten. Sie erhalten für höhere Preise keine höherwertigen Produkte, sondern größere Mengen von minderwertiger bis hin zu ekelerregender, gefährlicher oder gar tödlicher Qualität. Auf dem Markt für Nahrungsmittel erweist sich das seit Adam Smith gängige Vertrauen in den Markt als naiv: Adam Smith folgend kann ich gerade deshalb darauf vertrauen, dass sich meine Bedürfnisse über den Markt befriedigen lassen, weil ich nicht auf die Menschenliebe des Bäckers und des Schlachters hoffen muss, sondern zuverlässig mit deren Gewinnstreben rechnen kann. Unter Wettbewerbsbedingungen werden mir Schlachter und Bäcker in ihrem ureigensten Interesse Produkte in der Menge und Qualität verkaufen, die ich wünsche. Dies gilt aber nur auf einem vollkommen transparenten Markt. Schon der Bäcker kann versuchen, den Konsumenten zu täuschen, indem er das Mehl mit Sägespänen versetzt. Doch was ist ein mit Sägespänen versetztes Brot im Vergleich zu dem Cocktail aus Medikamenten und Tiermehl, der uns in der Form eines Rindersteaks vorgesetzt wird? Auch auf dem scheinbar einfachsten Markt, dem Markt für Nahrungsmittel, ist Information asymmetrisch verteilt. Der Markt funktioniert nur, weil die Konsumenten den Produzenten vertrauenein Vertrauen, das jeder ökonomischen Transaktion vorgeordnet ist und diese erst ermöglicht. Erst im Falle einer Erschütterung dieses Vertrauens erweist sich dessen ökonomische Bedeutung. 

 

Wenn dem segenbringenden Automatismus des Marktes, dessen unsichtbare Hand den Egoismus der Subjekte in allgemeine Harmonie verwandelt, nicht mehr vertraut werden kann, werden vom Markt unabhängige Kontrollorgane notwendig, Verbraucherschutz also, der jedoch als „nachsorgende“ Kontrolle der Produkte die Gefährdung der Konsumenten kaum verhindern kann. Ganz abgesehen davon, dass der Verbraucherschutz als typisches Stiefkind der Politik ohnehin ein Schattendasein führt und dass die Verbraucher als Lobby nicht oder schwer zu organisieren sind, stehen mehrere Sachverhalte einem wirksamen Verbraucherschutz entgegen:

 

Erstens ist der Verbraucherschutz für Anhänger des freien Marktes ein natürliches Ärgernis. Wenn im Namen des Verbraucherschutzes bestimmte Stoffe ge- oder verboten werden (so muss in Deutschland Kalbsleberwurst zu zehn Prozent aus Kalbsleber bestehen), erklärt diese überflüssige Regulierung die Verbraucher indirekt für unmündig und schränkt ihre Optionen paternalistisch ein – in der kaum begründbaren Annahme, die Bürokratie wisse besser als die Konsumenten, was für sie gut sei. Dieser Einwand gilt mit Einschränkungen auch dann, wenn der Verbraucherschutz lediglich informiert, also zur Einhaltung bestimmter Regeln bei der Etikettierung von Produkten zwingt. In diesem Fall würde der Verbraucherschutz zwar erst die Transparenz des Marktes herstellen und die Konsumenten in die Lage versetzen, eine rationale Kaufentscheidung in Kenntnis des Risikos zu treffen, das der Verzehr bestimmter Produkte mit sich bringt. Doch da auch die Regeln für die Produktetikettierung von einer Bürokratie erlassen werden, deren Weisheit zweifelhaft ist, besteht die Möglichkeit der Fehlinformation, die als Handelshemmnis wirken kann.

 

Dies führt zu einem zweiten Sachverhalt, der einem wirksamen Verbraucherschutz entgegensteht: Auf dem gemeinsamen europäischen Markt können die Argumente des Verbraucherschutzes missbraucht werden, um Importe zu diskriminieren. Wenn etwa in Italien nur die Nudeln als pasta bezeichnet werden dürfen, die aus süditalienischem Hartweizen gefertigt wurden, Importe dagegen als „pasta-ähnliches Gemisch“ etikettiert werden müssen, gehen Verbraucherinformation und Protektionismus eine unzulässige Verbindung ein. Um dies zu verhindern, muss die EU entweder in langwierigen Verhandlungen auf europäischer Ebene Standards entwickeln (man brauchte 14 Jahre, um eine europäische Direktive zur Zusammensetzung von Fruchtmarmeladen und Gelees auszuhandeln; auf eine Mineralwasserdirektive konnte man sich nach elf Jahren einigen), oder aber jedes Mitgliedsland muss die Standards jedes anderen Mitgliedslandes anerkennen. Nach einem Spruch des Europäischen Gerichtshofs von 1977 im Falle Cassis de Dijon und vor allem seit der Einrichtung des gemeinsamen Binnenmarktes 1992 ist die wechselseitige Anerkennung von Standards geltendes europäisches Recht. Dies kann für den Verbraucherschutz eine „Spirale nach unten“, also hin zu den europaweit niedrigsten Standards, bedeuten. In der hohen Priorität, die der freie Handel für die EU vor anderen Belangen hat und haben muss, liegt – zumindest im Konfliktfall – ein gewisser „struktureller“ bias gegen den Verbraucherschutz. Wenn also das Umwelt-Bundesamt empfiehlt, beim Erwerb von Nahrungsmitteln Produkte aus der näheren Region zu bevorzugen, werden über kurz oder lang Organe der EU, im Zweifelsfall der Europäische Gerichtshof, intervenieren, um zum Schutz des gemeinsamen Marktes diese Behinderung extraregionaler Produkte abzustellen. 

 

Drittens teilen im Interesse des informierenden wie des ge- und verbietenden Verbraucherschutzes vorgenommene Produktdefinitionen das Problem aller Grenzwerte: Definiert wird eine Höchstgrenze, über der die Konzentration eines Stoffes als schädlich zu gelten hat; unterhalb des festgelegten Grenzwertes dagegen gilt die Konzentration als problemlos. Dabei werden die langfristigen Folgen und die Effekte, die in der Verbindung mehrerer Schadstoffe auftreten können, nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Hier stellt sich die Frage, wer unter welchen Bedingungen die Definitionen vornimmt. Welchen Einfluss nehmen die organisierten Erzeuger und die von ihnen bezahlten Experten auf die Definition von Grenzwerten, die Festlegung von Zusammensetzungen, das Verwendungsverbot von Schadstoffen und die Etikettierung von Lebensmitteln? Sind Grenzwerte politische Kompromisse zwischen den Interessen der Erzeuger, dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand und den Verbraucherinteressen? Wiegen im Interesse des Verbraucherschutzes vorgenommene Definitionen die Konsumenten nicht systematisch in falscher Sicherheit?

 

Viertens stellt die schiere Menge der verfügbaren Produkte gerade bei den Nahrungsmitteln den Verbraucherschutz vor unlösbare Probleme. Nahrungsmittel setzen sich zunehmend aus einer unübersehbaren Anzahl chemischer Verbindungen zusammen, deren Spektrum dank der permanenten Innovation auch in der Nahrungsmittelproduktion ständig neue Stoffe und Stoffkombinationen umfasst. Wer Rindfleisch verzehrt, genießt auch vom Rind „weiter verarbeitetes“ Viehfutter (also unter anderem Hühnerkot, Altöl, zermahlene Katzen) plus eine ganze Reihe von Medikamenten, Antibiotika, Hormonen usw. Diese Stoffe fließen in die menschliche Nahrung ein, über ihre kombinierte und Langzeitwirkung auf Wohlbefinden, Gesundheit und Lebenserwartung liegen aber keine Erfahrungen und keine gesicherten Erkenntnisse vor. Aufgrund der Komplexität und der permanenten Innovation der Produkte hinkt der Verbraucherschutz notwendig hinter der Produktion her. Die Verbraucherinformation wird entweder undurchschaubar oder falsch. Die Hausfrau, die sicher gehen will, dass sie ihrer Familie kein Gift auftischt, muss nicht nur ein Studium der Lebensmittelchemie absolviert haben, sie muss auch einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwenden, die jeweils neuesten Entwicklungen zu verfolgen – und ist dann immer noch nicht sicher, anders als der Raucher, dem immerhin mitgeteilt wird, welches Risiko er eingeht, wenn er ein Päckchen Zigaretten konsumiert.

 

Angesichts der unübersehbaren Zahl von Nahrungsmitteln und deren Kombinationen sowie der vielen Millionen Kaufakte, die pro Tag in der Nahrungsmittelkette getätigt werden, wird die Vorstellung einer effektiven Überwachung der zum Zwecke des Verbraucherschutzes erlassenen Regeln geradezu alptraumartig – die Geschichte der BSE-Krise ist hierfür ein Beleg: Die europäischen Staaten erwiesen sich als nicht in der Lage, die – wie man vermutet – für den Menschen schädliche bis tödliche Verfütterung von Tiermehl an Pflanzenfresser wirksam zu untersagen (so viel zur Debatte über das Verhältnis zwischen Staat und Markt). Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann der Verbraucherschutz die Verbraucher kaum  angemessen informieren, noch sie schützen. Er kann entweder versuchen, durch symbolische Aktionen das Vertrauen der Verbraucher in die Lebensmittelsicherheit aufrechtzuerhalten oder im Krisenfall wieder herzustellen. Er wäre dann eine zusätzliche Marketingagentur der Nahrungsmittelproduzenten. Oder aber – dies ist die Alternative, die die Bundesregierung einzuschlagen verspricht – der Verbraucherschutz muss in der Nahrungsmittelproduktion anstatt der Produkte die Produktionsprozesse der Kontrolle unterziehen, das heißt bestimmte Prozesse ge- oder verbieten und die Verbraucher über die Art des Produktionsprozesses informieren. Die ökologische Landwirtschaft ist das herausragende  Beispiel für eine Reihe mehr oder weniger streng definierter Prozesse, als deren Ergebnis man ein bestimmtes Niveau der Produktqualität erwarten kann. Die zur Zeit in der konventionellen Landwirtschaft übliche „gute fachliche Praxis“ als Kriterium der eingesetzten Produktionsverfahren dagegen wird – wie die Vielzahl von Krisen zeigt – die Verbraucher kaum schützen.

Optionen: Liberalisierung, Etikettierung, Produkthaftung

 

Grundsätzlich gibt es zwei agrarpolitische Optionen. Die erste Option wäre die vollständige Liberalisierung des Agrarmarktes und seine uneingeschränkte Öffnung für Importe. Diese Option würde von jeder weiteren politischen Entscheidung entlasten, da nun zumindest formell dem Markt (den Verbrauchern) die Zuständigkeit für die Gestaltung der Landwirtschaft zuerteilt würde. Wenn dagegen eine ausschließlich marktgemäße Ordnung der Landwirtschaft für unzureichend gehalten wird, eröffnet sich eine ganze Palette politischer Optionen, sowohl hinsichtlich der bevorzugten Technologien (ökologisch, konventionell oder gentechnisch), der prioritär geschützten Interessen (Verbraucher, Produzenten, „Natur“ und Landschaft) sowie der bevorzugten Interventionsformen (Subventionen oder Regulierung, Subvention der Produktion oder Einkommenstransfers).

 

Die Vorteile einer rein marktwirtschaftlichen Lösung sind:

Ø      Für den europäischen Verbraucher sind die Lebensmittelpreise Weltmarktpreise, das heißt sie liegen unterhalb des vom gemeinsamen Agrarmarkt garantierten Niveaus.

Ø      Das Budget der EU wird entlastet; die Mittel der Gemeinschaft können sinnvoller eingesetzt werden; die politische Legitimation der Union wird gestärkt.

Ø      Die Verbraucher erhalten die Chance, das Angebot durch ihre Kaufentscheidungen zu beeinflussen.

Ø      Die Qualität des Angebots wird sich aller Voraussicht nach verbessern, zum einen aufgrund der gestärkten Nachfragemacht der Konsumenten, zum andern, weil der Markt nun auch Produkte aufnehmen kann, die unter günstigeren Klima- und Bodenbedingungen erzeugt wurden (argentinisches Rindfleisch).

Ø      Landwirtschaftliche Produzenten außerhalb Europas erhalten Zugang zum europäischen Markt sowie zu Drittmärkten, die vorher von subventionierten europäischen Exporten überschwemmt waren.

Ø      Die negativen ökologischen und landschaftlichen Folgen der Massentierhaltung und intensiven Bodenbewirtschaftung in Europa werden gemildert.

 

Die negativen Konsequenzen: Ein Teil der landwirtschaftlichen Produzenten Europas würde aus dem Markt gedrängt, Arbeitsplätze nicht nur in der Landwirtschaft, sondern zu einem ge­wissen Anteil auch in den Input-Industrien (Landmaschinen, Viehfutter, Medikamente, Düngemittel, Agro-Chemikalien) und weiterverarbeitenden Branchen würden verloren gehen. Damit würde auch die Budgetentlastung zum Teil wieder für die soziale Kompensation der Betroffenen aufgewandt werden müssen. Allerdings wäre zu berücksichtigen:

Ø      Der schleichende Prozess der Verdrängung kleinerer Betriebe im Rahmen der europäischen Subventionspolitik würde lediglich beschleunigt werden: Für viele kleinere Betriebe würde das Ende mit Schrecken nur an die Stelle des Schreckens ohne Ende treten. 

Ø      Der größte Teil der Input- und ein Teil der weiterverarbeitenden Industrien sind international orientiert und würden nicht notwendig von einem Schrumpfen der europäischen Landwirtschaft beeinträchtigt werden; und

Ø      Ein großer Teil der europäischen Landwirtschaft (in der Ile de France, Nord- und Ostdeutschland, in Dänemark und den Niederlanden, der Poebene, der spanischen Mittelmeerküste) wäre auch auf einem freien Markt international konkurrenzfähig.

 

Eine liberale Agrarpolitik würde den Verbraucherschutz nicht in der Form von Ge- und Verboten zu gewährleisten suchen, sondern den Konsumenten zum Souverän erklären, der letztlich durch seine Kaufentscheidungen bestimmt, was und wie produziert wird. Dies betrifft auch die technologischen Präferenzen, das heißt den Mix aus ökologischer, konventioneller und gentechnischer Produktion. Um einen wirklich transparenten Markt herzustellen, müsste allerdings auch eine konsequent liberale Agrarpolitik zweierlei ge­währleisten:

Ø      eine umfassende und eindeutige Verbraucherinformation, etwa nach dem Muster der Zigarettenetikettierung. Hierfür müsste der Verbraucherschutz – um verstecktem Protektionismus entgegenzuwirken, auf europäischer Ebene –, zentralisiert und nach dem Vorbild der amerikanischen Food and Drugs Administration zur Angelegenheit einer spezialisierten und von den Produzenteninteressen unabhängigen Behörde werden. Die EU-Kommission hat in ihrem Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit die Bildung einer entsprechenden europäischen Behörde vorgeschlagen, von der man unter den gegebenen Bedingungen allerdings nicht weiß, wie unabhängig sie sein kann;

Ø      das Produkthaftungsrecht müsste – wiederum nach amerikanischen Vorbild – neu gefasst werden, das heißt die Produzenten müssten für Schädigungen, die der Verzehr eines Nahrungsmittels hervorruft, die volle Verantwortung tragen. Dabei darf die Beweislast nicht einseitig auf der Seite des Geschädigten liegen.

 

Im Hinblick auf die europäische Integration wäre die Liberalisierung des Agrarmarkts ein „Rückbau“: eine Einschränkung des politischen Kompetenzbereichs der Gemeinschaft zugun­sten des Marktes und damit auch eine Einschränkung der europäischen Kooperation. Die Erhaltung eines Kooperationsmodells allerdings, das – wie die gemeinsame Agrarpolitik – nur einer Minderheit zugute kommt und die Legitimität der Integration insgesamt in Frage zu stellen droht, kann jedoch kaum Selbstzweck sein.

Optionen: Subventionierung zu welchem Zweck?

 

Der Option eines freien Agrarmarkts können mehrere Alternativmodelle gegenüber gestellt werden. Bei der Produktion von Nahrungsmitteln, so ließe sich argumentieren, können die Kriterien der höchsten Effizienz und der niedrigsten Preise nicht die wichtigsten, auf keinen Fall aber die einzigen Produktionskriterien sein. Höhere Preise als markträumende Weltmarktpreise können gerechtfertigt sein, wenn der Zweck, der mit der Subventionierung oder Regulierung verfolgt wird, gerechtfertigt ist. Die derzeitige gemeinsame Agrarpolitik  bezweckt den Schutz der Produzenten mittels garantierter Abnahmepreise, und die laufenden Reformen zielen auf die Ersetzung der Preissubventionen durch direkte Einkommenstransfers. In technologischer Hinsicht fördert die derzeitige Agrarpolitik die konventionell-chemische Landwirtschaft und hierbei vor allem spezialisierte Betriebe mit hohem Produktionsvolumen und hohen economies of scale.

 

Technologisch bieten sich zur herkömmlichen Agrarpolitik der EU grundsätzlich zwei Alternativen an: Die spezielle Förderung der gentechnischen oder der ökologischen Landwirtschaft. Wenn der Staat bzw. die EU ihre vorrangige Aufgabe in der Förderung der Gentechnologie sehen – um die Wettbewerbsfähigkeit Europas in einer neuen Technologie zu erhalten oder herzustellen; um einen neuen landwirtschaftlichen Produktivitätsschub und Preissenkungen zu erzielen –, dann steht das ganze Arsenal industriepolitischer Instrumente zur Verfügung, das etwa bei der Förderung der Atomtechnologie zum Einsatz kam. Wichtigste Instrumente wären vermutlich die vom Staat/der EU geförderte oder selbst betriebene vorwettbewerbliche Forschung; der Einsatz der staatlichen/gemeinschaftlichen Nachfragemacht; subventionierte Kredite und andere Mechanismen der Mittelstands- und Regionalförderung; Ausbildungsmaßnahmen; der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur; und das Setzen von Industriestandards. Die bevorzugten Interessengruppen wären zum einen die landwirtschaftlichen Produzenten, die bereit und in der Lage sind, zur Gentechnologie überzugehen, und zum andern die auf landwirtschaftliche Anwendungen spezialisierte gentechnische Industrie. Zumindest zu großen Teilen wird diese Interessengruppe mit dem heutigen agro-chemisch-veterinären Komplex deckungsgleich sein. Kernstück der staatlichen oder gemeinschaftlichen agrarischen „Industriepolitik“ wäre es, die Produzenten von den potenziellen Risiken der Gentechnologie zu entlasten und sie selbst zu übernehmen (das heißt die Steuerzahler übernehmen zu lassen) oder auf die Verbraucher abzuwälzen. Die Verbraucher würden insofern profitieren, als Nahrungsmittel möglicherweise billiger würden, sie würden aber auch die langfristigen (heute unbekannten) Risiken zu tragen haben, die mit der gentechnischen Erzeugung von Lebensmitteln verbunden sind. Ob der Einsatz der Gentechnologie in der Landwirtschaft gewisse Extremformen der konventionellen Agrarproduktion mildert (so wie der Einsatz der Kerntechnologie die Luftverschmutzung durch Abgase mindert), kann an dieser Stelle nicht vorausgesagt werden.

 

Bei der Förderung der ökologischen Landwirtschaft könnten im Prinzip dieselben Instrumente zur Anwendung kommen, eine ökologische Agrarpolitik wäre aber insofern komplizierter, als sie gegen die Mehrheit und die Macht der Produzenten – den agro-chemisch-veterinären und den agro-gentechnischen Komplex – durchgesetzt werden müsste und sich dabei auf keine organisierte Basis stützen könnte. Nutznießer dieser Politik wären eine Minderheit der Produzenten und vor allem die Verbraucher, deren Ernährungsrisiko verringert würde, was aber mit höheren Lebensmittelpreisen verbunden sein könnte. Aber zum einen sind Verbraucherinteressen schwerer zu organisieren als Produzenteninteressen; zum andern ist nicht voraussehbar, ob die Verbraucher (und designierten Patienten) sich mit ihren Kaufentscheidungen wirklich für eine höhere Produktqualität entscheiden werden – oder ob sie nicht doch den niedrigen Preisen den Vorzug geben. Nutznießer soll zum anderen „die Natur“ sein, deren systematische Schändung durch die konventionelle Landwirtschaft von vielen als beunruhigend empfunden wird, aus einem religiösen Motiv heraus oder aufgrund anderweitiger moralischer Überzeugungen. Kirchen, Ökologiebewegung, Tier-, Natur- und Landschaftsschutz machen sich zu Stellvertretern der Natur, die sich direkt kein Gehör verschaffen (wohl aber, wie auch BSE zeigt, in Form einer Katastrophe reagieren) kann. 

 

Die Mittel zur Förderung der ökologischen Landwirtschaft werden freilich begrenzt sein. Auch nach einer Reform der gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge der Agenda 2000 werden Transferzahlungen an alle landwirtschaftlichen Produzenten geleistet werden; als Gegenleistung bieten die Landwirte zur Zeit ökologische und landschaftsschützerische Dienstleistungen an; man könnte aber auch daran denken, für die Landwirte mit diesen Transferzahlungen die Einkommensdifferenzen auszugleichen, die zwischen konventioneller und ökologischer Landwirtschaft auftreten. Dies kann damit begründet werden, dass die ökologische Landwirtschaft geringere Risiken mit sich bringt als die chemisch-veterinär-konventionelle oder gentechnische, dass sie die Gesundheitsrisiken senken und Ernährungsskandale wie die BSE-Krise vermeiden hilft. Eine massive Subventionierung kann dennoch nur übergangsweise erfolgen. Auf mittlere Sicht müsste auch die ökologische Landwirtschaft ihren eigenen Markt entwickeln, der weitgehend ohne staatliche Subventionen auskommt (dasselbe gälte für die gentechnische Landwirtschaft). Das heißt: das Projekt der ökologischen Landwirtschaft wäre auf Dauer zum Scheitern verurteilt, wenn die Konsumenten nicht bereit wären, einen geringfügig höheren Anteil ihrer Konsumausgaben für Nahrungsmittel aufzuwenden. Zur Zeit allerdings haben die Konsumenten kaum die Chance, eine Entscheidung für oder gegen ökologisch erzeugte Produkte zu treffen, da der Handel hierfür nur Nischen bereit stellt. Die Förderung der ökologischen Landwirtschaft müsste also in erster Linie darauf gerichtet sein, die (vermutete) Nachfrage nach ökologischen Produkten über den Handel mit dem (potenziellen) Angebot in Kontakt zu bringen.

 

Die Durchsetzung der ökologischen Ländwirtschaft könnte zur Bildung zweier Käuferklassen führen, einer wohlhabenden Schicht, die sich die Ökoschnitzel zu Gemüte führt, und einer Unterklasse von Deathburger-Konsumenten. Die Gruppe derjenigen allerdings, die entweder ihren Nahrungsmittelverzehr mit gesundheitsschädlichen Folgen einschränken müssten oder aber zum Verzehr von Risikomaterial gezwungen würden, dürfte nicht allzu groß sein, und die Einschränkungen, die sie zu tragen hätte, könnte durch eine Steigerung der Sozialhilfe kompensiert werden. Insgesamt wäre es von Vorteil, wenn die Definition des akzeptablen Ernährungsrisikos zu einem hohen Anteil von den Verbraucherentscheidungen abhängig wäre – wobei die Verbraucher freilich erst in die Lage versetzt werden müssten, rationale Entscheidungen zu fällen.

 

Auf jeden Fall würde auch eine gezielte Förderung der ökologischen Landwirtschaft nichts daran ändern, dass sich das Gros des Sektors auch weiterhin aus konventionell arbeitenden Betrieben zusammensetzt. Diese Mehrheitsgruppe von Agrarbetrieben wird auch in Zukunft Transferleistungen beziehen. Die Subventionierung der Landwirtschaft wird also weiterhin mit der Subventionierung der Agrarproduzenten gleichbedeutend sein, mit dem Erhalt eines „Standes“, der freilich immer weniger wegen seiner wirtschaftlichen Leistung und immer mehr wegen des Verzichts auf Wirtschaftsleistung gefördert wird. Der Einkommenstransfer auch an die konventionellen Agrarproduzenten ist zumindest formell an bestimmte Auflagen gebunden. Auch ohne den Kriterien der ökologischen Landwirtschaft im strengen Sinne zu genügen (denen zufolge etwa der Umfang der Tierhaltung an die für den Betrieb verfügbare Grünfläche gebunden ist), können und müssen auch die konventionellen Unternehmen ökologische Dienstleistungen erbringen, und zwar nicht nur im Natur- und Landschaftsschutz, sondern auch in der Produktion von Agrarerzeugnissen. Das Gegensatzpaar „ökologisch-konventionell“ müsste daher in eine Skala unterschiedlicher Produktionsmodi ausdifferenziert werden. In der deutschen Landwirtschaft etwa schreibt eine unter dem Namen „Neuland“ arbeitende Produzentengruppe Kriterien der Rinderhaltung vor, die zwar nicht den strengen ökologischen Regeln entsprechen, aber doch einen großen Schritt aus der chemisch-veterinären Tierhaltung heraus führen. Investitionen der Landwirte, die die Betriebe auf neue Kriterienkataloge ausrichten, können staatlich gefördert werden, wenn sie nachweisbar zum Rückbau chemischer und veterinärer und zur Stärkung natürlicher Kreisläufe in der Tier- und Pflanzenproduktion beitragen.

Schluss

 

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die BSE-Krise neue Anreize nicht nur für die Produzenten, sondern auch für die Verbraucher und den Handel schafft, dass sich neue Vermarktungskanäle (vom Ökobauern zum lokalen Schlachter anstatt von der Agrarfabrik zum Supermarkt) auftun, und dass sich die Ernährungsgewohnheiten „strukturell“ verändern. Die BSE-Krise könnte zu einer Art „Ölkrise der Landwirtschaft“ werden, die neue Verbrauchsmuster hervorruft. Die BSE-Krise ist aber auch und vor allem politischer und ethischer Natur – und zwar weit über den traditionellen Tierschutz hinaus. Sie wirft letztlich die Frage auf, wie viel Zurichtung der Natur wir akzeptieren wollen, um über (geringfügig) billigere Nahrungsmittel und erweiterte Konsumoptionen verfügen zu können. Die dank Fleischkonsum – scheinbar – höhere Qualität unserer Ernährung ist erkauft mit höheren Gesundheitsrisiken, aber auch Zuständen in der Tierhaltung, die jeden zum Mitgefühl fähigen Menschen zum Vegetarier werden lassen würden, der wüsste, was hinter den Wänden der Ställe und Schlachthöfe vor sich geht.

 

Die Krise macht die Ernährung, die zuvor als Angelegenheit des privaten Geschmacks von öffentlicher Erörterung weitgehend verschont blieb bzw. als Angelegenheit unverbesserlicher Apostel (Vegetarier, Veganer, Müslis usw.) galt, zum Gegenstand der kritischen öffentlichen Debatte. Mit dem BSE-Skandal ist eine weitere Facette der Risikogesellschaft sichtbar geworden: Es gibt ein Reservat weniger, in dem Konsumenten und Bürger vom Zwang zur Reflexion und zu grundsätzlichen Entscheidungen entlastet wären – der Privatbereich der Nahrungsmittelaufnahme ist nicht mehr privat. Selbst die Auswahl der Speisen wird zu einer Angelegenheit mit ethischem Hintergrund und potenziell tödlichem Ausgang. Damit wird vieles von dem, was zuvor der Gewohnheit und der Tradition überlassen war, zu einem Gegenstand reflexiver Entscheidungen – und dem politischen Handeln zugänglich.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 7/2001