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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/1998
Matthes Buhbe
Die Türkei und die Grenzen der europäischen Integration

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Im folgenden wird argumentiert, daß die gegenwärtig zwischen der Europäischen Union und der Türkei erreichte Nähe Bestand haben wird. Auf absehbare Zeit dominieren Faktoren, die sowohl ein Wegdriften der Türkei von Europa als auch eine EU-Vollmitgliedschaft verhindern. Die Partnerschaft mit Europa wird sich fortsetzen.

Am Fall der Türkei zeigen sich die Grenzen der europäischen Integration. Die Erweiterung der EU wird aus Sorge, den inneren Zusammenhalt zu verlieren, hinausgezögert. Um die Union zu erweitern, muß sie institutionell vertieft werden oder - was hier ausgeschlossen werden soll - das Integrationsziel muß aufgegeben werden. Wie im folgenden argumentiert wird, bringt die Türkei in dieser Phase zu viele Defizite ein. Unter gegenwärtigen Bedingungen hat der Druck der Vereinigten Staaten von Amerika, den noch bestehenden Abstand schnellstmöglich zu beseitigen und die Türkei bei der anstehenden Erweiterungsrunde als ersten Anwärter auf Vollmitgliedschaft zu behandeln, keine Erfolgsaussichten. Damit würde nämlich die Integrationskraft der EU noch auf längere Sicht überfordert. Die EU-Außengrenze an Syrien, den Irak und den Iran vorzuschieben, liegt bis auf weiteres jenseits der Vorstellungskraft der Unions-Europäer.

Umgekehrt hat das Argument wenig Plausibilität, wonach eine von Europa enttäuschte Türkei schon morgen die Zukunft "im Islam", in einem pantürkischen Großreich oder in einem neoosmanischen Projekt findet. Für solche Reichsgründungen fehlen nicht nur historische Parallelen, sondern auch die Partner, die Ressourcen und die Mehrheiten in der Türkei. Allerdings muß eingeräumt werden, daß die Europäische Union Sicherheitsnachteile hätte, wenn die Türkei sich dennoch abwendete. Eine auf sich selbst zurückgeworfene Türkei ließe befürchten, daß die Krisenregion Nahost um einen gewichtigen Unsicherheitsfaktor erweitert würde.

Ein Dilemma türkischer Identität besteht in der Kluft zwischen räumlicher und gesellschaftlicher Ortsbestimmung. Die Landmasse der Türkei berührt die EU nur an der Peripherie. Sie ist zwischen dem Nahen Osten im Süden, Rußland und der Ukraine im Norden und dem Iran im Osten eingebettet. Entferntere turksprachige Nachbarn gibt es zwischen Kaukasien und China. Doch läßt sich der wirtschaftliche, geschichtliche, staatsrechtliche und außenpolitische Standort nicht mit dieser Geografie beschreiben. Die Westorientierung hat tiefe Wurzeln. Eine Annäherung an den "russischen Norden" wäre kaum weniger mühsam als eine Zerschneidung der Bindungen an das abendländische EU-Europa. Es wartet auch kein Staat Arabiens oder des mittleren Ostens darauf, die Türkei als eine führende Macht der "islamischen Welt" zu begrüßen, und für eine Nebenrolle ist sie zu groß.

Eine Standortskizze der Türkei, das Problem des verblassenden Leitbildes Kemal Atatürks, die Rollensuche nach dem Ende des Kalten Kriegs, die Beziehungen zu Europa jenseits klassischer Sicherheitsfragen, die Wirtschafts- und Sozialentwicklung, die Veränderungen im europäischen und regionalen Umfeld bilden wesentliche Teile der Argumentationskette für die eingangs behauptete "Halbdistanz", welche die Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Türkei kennzeichnet.

Standortbestimmung nach 75 Jahren Republik Türkei

Die Türkei ist ein junger Staat. Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik ausgerufen und damit der erste Nationalstaat der Türken gegründet. Es ist zu erwarten, daß die 75-Jahrfeier 1998 unter dem Monumentalbild des Staatsgründers Kemal Atatürk steht. Die Festreden werden je nach politischer Richtung verschieden sein. Einige auf der Linken werden an seine Worte erinnern, es gäbe keinen Gegensatz von Orient und Okzident, sondern nur den von Rückständigkeit und Moderne. Atatürk hätte niemals an diese oder jene Kombinationsmöglichkeit geglaubt, die die abendländische Technik und Zivilisation mit der tradierten Religion und Kultur des Morgenlandes zusammenbringen könnte. Er hätte die Übermacht des Westens auf allen Gebieten als historisch erwiesen angesehen und es daher als seine politische Pflicht betrachtet, die Türkei durch eine kompromißlose Verwestlichung zu retten. Andere werden an seinen stolzen Ausdruck erinnern, daß sich glücklich schätzen könne, wer von sich sagen könne, Türke zu sein. Für diese Redner der Rechten und des Militärs kommt der Selbstbehauptungswille und der Nationswerdungsprozeß, der sich mit dem Namen Atatürks verbindet, an erster Stelle. Schließlich werden die proislamischen Vertreter der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei ihre kühne These erneuern, ein heute noch lebender Atatürk wäre Anhänger ihrer Bewegung und Gegner des nach ihm benannten Kemalismus.

Westlicher und demokratischer Staat bedeuten nicht dasselbe. Die von Atatürk und seinen Gefolgsleuten aufgestellten Staatsprinzipien reflektierten die westliche Welt im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ging um die dauerhafte Abwehr der Kolonialmächte Frankreich und England und der Hegemonialansprüche Mussolinis, Hitlers und Stalins. Der damals entstandene Staat symbolisiert die erfolgreiche Selbstbehauptung gegen die Übermacht des Westens. In der Türkei rangiert daher das nationalstaatliche Projekt weit vor dem demokratischen Umbauprogramm, das einige Jahre nach dem Tod des Staatsgründers begonnen wurde.

Die Europäische Union möchte die Vereinigung der Demokratien Europas sein. Die Türkei will an diesem Projekt gleichberechtigt mitwirken, ringt aber selbst noch um das Primat einer zivilgesellschaftlichen Demokratie. Der Vorrang der kemalistischen Institutionen bestimmt die aktuellen Gesellschaftskonflikte. Islamismus und kurdischer Nationalismus steigen als Reaktion darauf an, daß in Mißachtung der Vorgeschichte der Republik und der Dynamik offener, demokratischer Gesellschaften rigide Normen beibehalten werden, die für einen anderen Zweck geschaffen worden waren. Scheinbar zeitlos schwebt der Staatsapparat über den gesellschaftlichen Kräften und zieht den Trennstrich zwischen legitimen Konflikten, die eine Demokratie auszeichnen, und illegitimen, die von gewalttätigen Feinden des Staates ausgehen. In Wahrheit gerät der Apparat leicht außer Kontrolle. Zu viele zwergenhafte Atatürks sind bereit, den Staat vor seinen inneren und äußeren Feinden zu retten. Teile des Sicherheitsapparates sind dazu übergegangen, ihren enormen Freiraum auf eigene Rechnung für persönliche Strafaktionen auszunutzen. Hinzu kommt eine schwer berechenbare Handhabung der gelegentlich biegsamen Rechtsinstitutionen durch die Justiz.

Viele Staaten Europas stehen auf den Trümmern von Vielvölkerreichen. Die außerhalb des Balkans nach 1918 entstandenen Staaten wirken 1998 konsolidiert. Die türkische Nation ist nicht geeint. Zwischen der Titularnation, die zugleich als ideologisches Fundament für einen Einheitsstaat dienen soll, und dem türkischen Staatsvolk, dessen gelebte Nationalität auch von nationalistischen Ideologen gern als ethnisches Mosaik dargestellt wird, besteht ein erhebliches Spannungsverhältnis. Nicht eingelöst wird daher Atatürks Weisheit: "Frieden zu Hause heißt Frieden in der Welt." Vor allem Kurdistan, tief im Hinterland des Osmanischen Reiches gelegen und seit 1923 Grenzgebiet der Türkei, des Iran und des Irak, bringt die Türkei immer wieder an den Rand eines Bürgerkriegs. Für die Gralshüter des Kemalismus ist das türkische Kurdengebiet Teil des "nationalen Grals": Niemals wieder sollen Minderheitenprivilegien den Staat schwächen oder gar zur Sezession führen: Jeder Landesteil muß also in jeder Hinsicht türkisch werden.

Hätten Atatürk und seine Mitstreiter auf das obere Mesopotamien verzichtet, wäre ihnen der neue Staat zu klein erschienen. Im Anschluß an den Lausanner Frieden verhinderten sie erfolgreich eine Integration aller osmanischen Kurden im britischen Mandat Irak. Das Gebiet um Diyarbakir ging an die Türkei. Kurz darauf, am 13. Oktober 1923, verlegte Atatürk die Hauptstadt vom europäischen Istanbul ins kleinasiatische Ankara. Der geografische Schritt erwies sich als unzureichend für die geplante Verwestlichung des neuen Staates. Entwicklungsökonomisch wanderte Europa nicht mit. Heute herrscht im Kurdengebiet ein Grad an Rückständigkeit vor, der den vom angrenzenden Anatolien noch übertrifft. Ankaras Hinterland insgesamt steckt mitten in jener Unterentwicklung, die zu überwinden die Kemalisten angetreten waren.

Der miteinander verwobene Kampf um türkisches Staatsgebiet und Rechte der Türken ist noch immer nicht entwirrt. Der in Lausanne geregelte Bevölkerungsaustausch zwischen christlich-orthodoxen (griechischen) und muslimischen (türkischen) Bewohnern der Ägäis und Kleinasiens fand auf eine große Gruppe von Muslimen in Rumelien (Bulgarien und Ostgriechenland) und auf der damals britischen Insel Zypern keine Anwendung. Ethnische Türken, die in ihrer Heimat von einer nichttürkischen Staatsmacht oder Mitbevölkerung drangsaliert wurden, dienten als Argument für Militäraktionen des türkischen Staates. Im Ägäis- und Zypernkonflikt und in der Sandschakfrage, die das Verhältnis zu Syrien bis heute belastet, können einzelne Provokationen hohe nationale Emotionen auslösen, wie sie für junge Nationalstaaten typisch sind. Auch wenn die Konfliktursachen oft nicht ethnisch sind, sind doch die inselnahen Seegrenzen und die europäischen Landgrenzen der Türkei bis heute Spannungsgebiet. Ein periodisches Aufeinanderprallen des griechischen und türkischen Nationalismus zerstört bis heute die Anläufe zum friedlichen Zusammenleben am südosteuropäischen Rand der EU. 1974 setzte sich die gewaltsame Bevölkerungsseparierung sogar noch fort, als in Zypern mehrere Konfliktursachen aufeinandertrafen und zur Teilung führten.

Die Frage seiner äußeren Sicherheit löste der junge Staat sehr erfolgreich. Seit 75 Jahren mußte er keinen Krieg führen oder Gebietsverluste hinnehmen. Bündnispolitisch gab die Türkei nach 1945 ihre Neutralität auf. Stalin war so mächtig geworden, daß der Rückhalt der mindestens ebenso mächtigen USA gesucht und in Form des Beitritts zur NATO 1952 und zur CENTO gefunden wurde. Seit 1949 ist die Türkei Mitglied des Europarates. Sie ist später außerdem Mitglied zweier Organisationen geworden, in denen kein europäisch-westlicher Staat vertreten ist: Der Organisation Islamischer Staaten OIC und der mehr wirtschaftlich orientierten ECO. 1992 initiierte sie die Gründung der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation. Die drei letztgenannten Organisationen haben bisher nur begrenzte Bedeutung, zeigen aber drei Alternativen zum EU-Europa auf: Islamische Welt (OIC), turanisch-iranischer Mittlerer Osten (ECO) und Neo-Osmanismus (Schwarzes Meer).

Für ihre Sicherheitspolitik zahlte die Türkei allerdings einen hohen Preis. Sie geriet mit allen Nachbarstaaten immer wieder in begrenzte Konflikte, wenn auch nicht gleichzeitig. Gegenwärtig ist die besonders enge Zusammenarbeit mit den USA, die über die NATO-Strukturen hinausgeht, nicht nur gegen Rußland gerichtet. Zusätzlich zur NATO-Rolle sehen die USA in der Türkei ein Gegengewicht zur Islamischen Republik Iran und zum Irak Saddam Husseins. Die türkisch-syrische Gegnerschaft trägt zu einer besseren Verständigung der Türkei mit Israel bei. Die US-Bindung isoliert die Türkei nach Osten und Süden, während der EU-Staat und NATO-Partner Griechenland Anlaß zu ständigen Spannungen an der Westgrenze ist. Über die Zypern- und die Ägäisfrage sind die beiden NATO-Staaten heillos zerstritten.

In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Westverankerung der Türkei am tiefsten. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner, und die Türkei ist mit ihr 1996 eine Zollunion eingegangen. Im westtürkischen Dreieck Istanbul-Bursa-Izmir wird über die Hälfte des Bruttosozialprodukts erzeugt. Das Pro-Kopf-Einkommen entspricht hier etwa dem griechischen. Einige Privatunternehmen der Istanbuler Geschäfts- und Medienwelt bewegen sich in wirtschaftlichen Größenordnungen, die in kleineren europäischen Ländern durch keinen Konzern erreicht werden. Fünf gegensätzliche Parteien haben in den letzten 20 Jahren die Oberbürgermeister Istanbuls gestellt, ohne die Stadt wirklich zu regieren. Das urbane Leben dominiert seit langem die Stadtpolitik und diktiert einen kosmopolitischen Rhythmus der Verwestlichung.

Mit dem sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Erfolg haben 75 Jahre Republik einen großen gesellschaftlichen Wandel bewirkt. Aus dem von Sultan und Militärbürokratie autoritär beherrschten Agrarstaat ist ein typisches Schwellenland geworden, das ein hohes Maß an rechtsstaatlichen Prinzipien und an demokratischem Pluralismus aufweist. Bildungs- und Gesundheitswesen werden als staatliche Aufgaben verstanden, deren Ausbau die Bevölkerung von den Politikern fordert. "Gläserne Polizeidienststellen" und "Wohlstand für alle" bewähren sich zumindest als Wahlkampfthemen. Negativ zu vermerken und ebenfalls typisch für ein Schwellenland ist das gemessen an den reicheren OECD-Staaten unvergleichlich hohe innerstaatliche Gefälle der regionalen Wirtschafts- und Sozialentwicklung. Im Hinterland befinden sich noch ganze Landstriche unter der Vormundschaft von Grundherren, und stammesartige Gemeinschaften genießen dort noch oberste Loyalität. In den Millionenstädten Ankara und Adana, Istanbul und Izmir prallen städtische Individualität und ländliche Werteordnung quer durch die Familien aufeinander. Die Ballungszentren bieten ein Bild der Schnellebigkeit und Dynamik. Weniger als die sozialen Gegensätze bestimmt der soziale Umbruch die urbane Türkei. Dies spiegelt sich auch in der Welt der Gläubigen wieder, die ihr Verständnis vom Islam mit der "Modernität" und insofern auch mit dem republikanischen Nationalstaat sehr gut, gar nicht oder eben doch irgendwie vereinbaren können. Deshalb ist auch die These keineswegs erhellend, die Bürger der Türkei gehörten einem anderen Kulturkreis an als die Bürger der EU. Analog müßte man sonst, was niemand bisher tut, einen bestimmten Katholizismus der Polen oder Teile der Orthodoxie auf dem Balkan und in Osteuropa auf den Prüfstand der Kulturverträglichkeit stellen.

Wirtschaft, Politik und Gesellschaft spiegeln also die Nachbarschaft zu Europa wieder. Der eben skizzierte Standort der Türkei ist, so soll im folgenden gezeigt werden, dauerhafter als vielfach angenommen wird.

Das Projekt der Europäischen Union

Eine große und eher zunehmende Zahl von EU-Bürgern beklagt, die Union sei schwerfällig und bürgerfern. Viel kleiner ist die Zahl derjenigen, die die Unionsidee als solche ablehnen. Neben nationalen Identitäten existiert ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein gewachsenes Vertrauen in die Möglichkeiten friedlicher Zusammenarbeit unter Europäern. Die Ordnung dieser Idee zum politischen Projekt begann zwar zeitgleich mit dem Kalten Krieg, als Europa machtpolitisch zerschnitten wurde. Aber über defensive Zwecke ging die Vision weit hinaus. Die westeuropäischen Demokratien wollten nach 1945 zwei Tendenzen außer Kraft setzen: Daß europäische Staaten aufgrund geopolitischer Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig rivalisieren und daß der europäische Frieden immer ein Paktsystem verlangt, das ein Kräftegleichgewicht rivalisierender Staaten darstellt. Die Instabilität der Bündnispolitik hatte zu zwei Weltkriegen geführt. Der Gleichgewichtslogik war außerdem der Boden entzogen, da die dafür notwendige Definition der Grenzen Europas im Kalten Krieg rein akademisch war.

Dem Geist der Römischen Verträge entsprach kein militärisches Bündnisdenken - eine Aufgabe, die anstelle der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft der NATO zukam. Die Gemeinschaft sollte nicht gegen andere gerichtet sein. Sie sollte offen sein für alle europäischen Demokratien mit derselben Vision kollektiver Sicherheit in Freiheit. Für das Konzept eines europäischen Friedens durch freiwillige Zusammenarbeit aller Nationen, die eine damit vereinbare nichttotalitäre Staatsform haben, war mit dem besonderen Rückhalt der Bürger zu rechnen, weil auf dem Gebiet der Gründerstaaten die Schlachtfelder zweier Weltkriege lagen.

Der große Erfolg des Projekts half lange Zeit über zwei Engpässe hinweg: Die Vision durch Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik praktikabel zu machen und die Unionsdisparitäten in wirtschaftlicher, sozialer und bürgerrechtlicher Hinsicht abzubauen. Die eine Schwierigkeit wurde durch die bipolare Welt des Kalten Krieges verdeckt. Die Führungsrolle der Vereinigten Staaten war unbestritten, und die strategischen Planungen im Rahmen der NATO galten als prioritär. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs brach die Sowjetunion zusammen, und EU-Europa mußte sich neu positionieren. Spätestens jetzt stellte sich die Frage nach der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit aller Dringlichkeit. Vor allem mußte eine handlungsfähige Integrationspolitik formuliert werden, die die europäische Vision mit der begrenzten Integrationskraft der Mitgliedsstaaten und mit ihrer unterschiedlichen Bereitschaft zum Umbau der EU in Einklang brachte. Bevor man über europäische Interessen außerhalb Europas einig werden konnte, mußte man darüber einig werden, was konkret mit "europäisch" gemeint war. Man brauchte dazu eine präzisere Definition der Grenzen Europas. Auf dieser Basis konnten neue Sicherheitsüberlegungen gemacht werden, die das transatlantische Bündnis und Zustände außerhalb Europas betrafen.

Die andere Schwierigkeit wurde lange Jahre durch eine glänzende sozioökonomische Entwicklung verdeckt. Heute ergehen Beitrittsangebote an sozioökonomisch schwache Wirtschaftsräume, deren Stabilisierung erhebliche EU-Anstrengungen verlangt, während die Union sich in einer nicht absehbaren Wirtschaftskrise mit wachsender Massenarbeitslosigkeit befindet. Die EU-Bürger sind immer weniger davon zu überzeugen, daß die Ressourcenabflüsse in Richtung zukünftiger Beitrittsstaaten überhaupt notwendig sind und weitere Beitritte ihrer Ursprungsidee von Europa wirklich entsprechen. Eine erfolgreiche Integrationspolitik braucht bürgernahe Erfolge auch und besonders in den alten Mitgliedsstaaten. Man muß den Gegenwert für die Verminderung nationaler Souveränitätsrechte bei der Vertiefung der politischen Institutionen spürbar genug gestalten, damit für das Gesamtprojekt einer erweiterten Union das erforderliche Maß an demokratischer Zustimmung erhalten bleibt. Mindestvoraussetzungen dürften dabei sein, daß es für die Unionsbürger zu keiner wirtschaftlichen Schlechterstellung und zu einer erkennbaren Besserstellung in nichtwirtschaftlichen Bereichen kommt. Dieser Gegenwert wird unter anderem darin bestehen müssen, daß die Regelung von Alltagsrisiken des Zusammenlebens besser gelingt und der EU-Bürgerstatus umfassendere Handlungsfreiheiten schafft. Die Ausdehnung des Geltungsbereichs sozialer Rechte und Schutzbestimmungen sind Teil dieses Gegenwerts. Und die EU-Bürger verlangen, daß sie sich in jedem Winkel der Union immer "harmonischer" ähnlich wie ein Inländer bewegen und gleiche Rechtssicherheit erwarten können. Das Vertrauen in das Gefühl muß wachsen, Europa habe die besseren Antworten auf den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel als jeweils der eigene Nationalstaat allein.

Eine große und eher zunehmende Zahl von EU-Bürgern beklagt, daß die Union diese Antworten schuldig bleibt. Hinsichtlich der Erweiterung sieht man die Vorteile einseitig bei den beitretenden Staaten und die Lasten bei der bestehenden Union. Das EU-Projekt zeigt Sättigungserscheinungen. Es umreißt keine Festung Europa mit endgültigen Grenzen und abweisenden Frontlinien. Aber es kann nur wirksam bleiben, wenn es auf seine regionale Begrenztheit Rücksicht nimmt.

Sicherheitsüberlegungen, die der Vollmitgliedschaft entgegenwirken

Bei Sicherheitsfragen denkt man zunächst an die NATO, an das Ende des Kalten Krieges, an die Krisen im Nahen und Mittleren Osten und an geopolitische Aspekte. Gegenwärtig verlagern sich die Kräfte so gewaltig, daß die EU nicht mehr länger ohne eine gemeinsam vertretene Strategie auskommt, wenn sie den Weg zu einer neuen Weltordnung mitgestalten will. Europa muß mit einer Stimme sprechen können, Sicherheitsfragen eingeschlossen.

Für die gemeinsame Sicherheit und für den strategischen Konsens, wie sie aufrechtzuerhalten ist, könnte die Aufnahme der Türkei in die EU ein Gewinn für beide Seiten, für nur eine Seite oder für keine der beiden Seiten sein. Auch wenn diese Feststellung trivial ist, weist sie auf die Notwendigkeit hin, zu begründen, weshalb die EU ohne die Türkei weniger Sicherheit haben sollte. Wenn es bisher ein Sicherheitsdefizit gegeben hat, so führte dieser Faktor jedenfalls nicht zur EU-Mitgliedschaft. Die Türkei war ja schon NATO-Partner einiger europäischer Staaten, als es die EU noch gar nicht gab. Trotzdem wurde sie weder Gründungsmitglied noch Mitglied bei einer der Erweiterungsrunden danach. Es bleibt auch in Zukunft möglich, daß durch ihre Aufnahme im Beitrittsraum entweder gar keine oder nicht genügend zusätzliche Sicherheit entsteht, um andere Beitrittshindernisse zu überwinden.

Das Hauptproblem besteht allerdings darin, daß die EU bis vor die Jahrtausendwende noch gar nicht über fest umrissene sicherheitspolitische Ziele mit entsprechender gemeinsamer Strategie verfügen wird. Die Debatte ist in Gang gekommen, nachdem die Teilung Europas durch das Abkommen zwischen den Alliierten und Deutschland beendet, die sowjetischen Truppen abgezogen und die Abrüstung in Europa fortgesetzt wurde. Wofür und gegen wen überhaupt weitere Verteidigungsanstrengungen gemacht werden sollen, sind für die alten und die neuen Staaten Europas offene Fragen. Die Notwendigkeit einer solchen Debatte zeigt sich auch darin, daß mit Schweden, Finnland und Österreich bündnisneutrale Staaten EU-Mitglieder geworden sind und die NATO-Neumitglieder Polen, Tschechien und Ungarn vorrangige EU-Beitrittskandidaten darstellen. Das Versagen der EU, im Balkankonflikt rechtzeitig mit einer nachhaltigen Strategie aufzuwarten, hat zwar den Einigungsdruck dafür erhöht. Die Basis für das derzeitige Vorgehen auf dem Balkan ist aber noch zu schmal, Einigung auf ein durchschlagendes EU-eigenes Handlungskonzept so schnell noch nicht in Sicht. Die Aufnahme der Türkei würde in diesem Stadium die Komplexität der Aufgabe ganz erheblich erhöhen. Den Zugewinn an Sicherheit zu kalkulieren, wenn man innerhalb der bestehenden EU noch gar keinen sicherheitspolitischen Konsens hergestellt hat, ist kaum möglich.

Tatsächlich würde die Türkei im Gegensatz zu den NATO-Neumitgliedern Polen, Tschechien und Ungarn eine Reihe von konfliktbeladenen Themen in die EU hineintragen. Bei jedem dieser Probleme bestehen Zweifel, ob deren Lösung hohe Priorität für Europa hat und wenn ja, ob sie durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei einfacher zu lösen sind.

Es ist dieser Zweifel selbst, weniger die Berechtigung dazu im Einzelfall, der zur Verschiebung der EU-Mitgliedschaft der Türkei beiträgt. Darum sollen hier nur einige Probleme aufgezählt, nicht analysiert werden.

  • Die Türkei hat ihre Südgrenze 1920-39 auf Kosten der britischen und französischen Mandatsgebiete Irak und Syrien verschieben können. Syrien nennt diesen Gebietsverlust ein Unrecht, das rückgängig gemacht werden müsse. Zudem verlangt Syrien vertragliche Regelungen hinsichtlich des Atatürk-Staudamms und anderer Wasserprojekte auf türkischer Seite, die mit dem Euphrat eine Lebensader Syriens betreffen. Um Druck ausüben zu können, gewährt Syrien kurdischen Separatisten Unterschlupf.

  • Zwar hat die Türkei mit dem Irak, wie auch mit dem Iran, das gemeinsame Interesse, kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen niederzuhalten. Andere bilaterale Rivalitäten dieser Staaten führen jedoch periodisch dazu, die Kurden gegen den jeweils anderen Staat in Stellung zu bringen. Nach der irakischen Niederlage im Krieg um Kuwait sind türkische Truppen immer wieder in den kurdischen Nordirak vorgedrungen. Wiederholt sprachen Armee und Staatsführung von der Möglichkeit, größere Gebiete aus Sicherheitsgründen zu annektieren
  • Obwohl der Iran und die Türkei seit Jahrhunderten nicht mehr in großen Kriegen um die regionale Vorherrschaft gekämpft haben, haben sich auch keine freundschaftlichen Beziehungen entwickelt, und die Wirtschaftsbeziehungen sind schwach.
  • Georgien, Armenien und Aserbaidschan sind anstelle der Sowjetunion neue Grenznachbarn in Transkaukasien. Jeder dieser Staaten wird durch separatistische Bewegungen destabilisiert, die bis in die Russische Föderation hineinreichen oder von dort Rückhalt beziehen. Die Türkei ist als altes Nachbarland vielfach betroffen und hat Mühe, nicht in die Konflikte hineingezogen zu werden. Besonders schwierig ist das Verhältnis zu Armenien, das mit dem turksprachigen Aserbaidschan einen massiven Territorialkonflikt um den Berg Karabach austrägt. Geopolitisch gilt der Kaukasus seit jeher als das Tor zu Mittelasien. Die ethnische Vielfalt seiner Bevölkerung und seine schwer überwindlichen Bergketten bilden zugleich einen gewaltigen Riegel und haben ihn zu einer typischen Konfliktregion werden lassen.

  • Trotz vieler Jahrhunderte der Trennung von den politischen Entwicklungen in Mittelasien versteht sich die Türkei als Brücke zu den turksprachigen Völkern in Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan und Kirgisistan. Diese postsowjetischen Staaten bilden den dünn besiedelten Raum zwischen dem Kaspischen Meer und Westchina. Die Türkei möchte dort eine stabilisierende Rolle spielen, wo sonst ein Machtvakuum entstehen könnte. Dafür braucht sie wirtschaftsstarke strategische Partner, die noch nicht gefunden wurden. Zentralasien birgt aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Schwäche seiner autoritär geführten Staaten und seiner Lage zwischen Rußland und China Risiken. Die regionale Instabilität zeigt sich aktuell am südlichen Rand als Bürgerkrieg in Tadschikistan und in Afghanistan.

Zum asiatischen Problemkreis kommen innereuropäische Konflikte, an denen die Türkei beteiligt ist. Auf dem Balkan, in der Ägäis und hinsichtlich Zypern könnte die Türkei zu Lösungen beitragen. Zum Beispiel wäre ein Handel denkbar, bei dem die Türkei für ihre Vollmitgliedschaft im Gegenzug den entscheidenden Beitrag zur Beilegung der griechisch-türkischen Gegensätze beisteuert. Um dadurch für alle mehr Sicherheit einzutauschen, müßte der türkisch-griechische Konflikt allerdings relativer Natur und nicht fundamental sein. Ein solcher unüberbrückbarer Interessenkonflikt galt in der nordatlantischen Allianz bisher als Grund dafür, daß keine Lösung gefunden werden konnte. Kann Griechenland zusammen mit der EU der Türkei trotzdem Garantien geben und kann die Türkei daraufhin eine Gegenleistung machen, so daß der Dauerkonflikt mit der EU-Mitgliedschaft verschwindet? Eine Entspannung im Ostmittelmeerraum hängt von dieser Frage ab, nicht von der EU-Mitgliedschaft als solcher.

Am deutlichsten zeigt das die Zypernfrage. Weder die mehrfachen Verhandlungsrunden unter Federführung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen noch die Bemühungen innerhalb der NATO konnten den Konflikt aus der Welt schaffen. Alle Bemühungen der EU waren ebenfalls vergeblich. Die Türkei, eine der drei Garantiemächte für die Unabhängigkeit des Inselstaates und für ein friedliches Zusammenleben der beiden Volksgruppen Zyperns, gibt neben ihrer Schutzrolle eigene vitale Sicherheitsinteressen an, die gegen alle bisherigen Lösungsmodelle stehen. Ein feindliches oder für Feinde der Türkei zugängliches Zypern würde die Einschnürung der Türkei vom Mittelmeer her perfekt machen. Die Seemeilenzonen um Zypern und um die griechischen Inseln decken das Wasser und den Luftraum vor der Landmasse der Türkei ab. Die Inseln gelten als vorgeschobene Basen eines potentiellen Feindes. Wenn dieser Feind auch der NATO-Partner Griechenland sein kann, wäre dieses Problem durch EU-Mitgliedschaft nicht einfach vom Tisch.

Bedauerlicherweise hat die EU 1997 den Konflikt durch die Luxemburger Entscheidung zugespitzt, Zypern in die erste Reihe der Beitrittskandidaten aufzunehmen und die Türkei überhaupt nicht mehr als Beitrittskandidat zu erwähnen. Sie bringt die Inseltürken zwischen zentrifugale Kräfte. Sie verschärft den Druck auf sie, mit den Inselgriechen zu kooperieren, da diese andernfalls die Beitrittsverhandlungen allein in der Hand hätten. Sie verschärft andererseits den Druck Ankaras auf sie, sich jeder EU-Annäherung zu verweigern, solange Interessen der Türkei davon negativ betroffen sein könnten. Das absurde Ergebnis dürfte wahrscheinlich ein entschiedenes Vorgehen Ankaras gegen ein Heranrücken der EU an die türkische Südgrenze sein, das mit der Aufnahme Zyperns verbunden wäre. Die Überlegung, daß ein Zusammenrücken von EU und Türkei sicherheitsstabilisierend ist, wird somit in ihr Gegenteil verkehrt.

Andere Faktoren, die einer Mitgliedschaft entgegenwirken

Die EU kennt kein festes Aufnahmestatut. Es gibt aber zweifellos Kernanforderungen, die sich wie folgt benennen lassen:

  • Im Beitrittsstaat herrschen parlamentarische Demokratie und politischer Pluralismus.

  • Minderheitenrechte, freie Medien und grundlegende Bürgerrechte werden geschützt.

  • Die wirtschaftliche Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit ist ausreichend.

  • Die Übereinstimmung mit den Zielen und die Integrationsfähigkeit in die europäischen Einrichtungen sind hoch. Nicht dazu gehört "die Verankerung in der christlichen Kultur des Abendlandes". EU-kritische Stimmen aus der Türkei stellen aber mit Recht fest, daß dieser schillernde Begriff bei einigen Europäern unterschwellig eine Rolle spielt.

Ankara ist nicht nur bereit, sich diesen Anforderungen zu stellen, sondern auch der Auffassung, sie in hohem Maße zu erfüllen. Folgende Faktoren wirken dem entgegen und schieben die Vollmitgliedschaft hinaus:

  1. Seit 50 Jahren praktiziert man in der Türkei politischen Parteienwettbewerb und ist damit eine der älteren Demokratien Südosteuropas. Die dennoch ständig wiederkehrende Kritik der EU am Demokratiedefizit der Türkei hat eine paradoxe Ursache. Dieselben Kräfte, die sich als Hüter von Atatürks Westorientierung betrachten, gelten in Europa als Verkörperung des Defizits: Der türkische Sicherheitsapparat mit der Führung der Streitkräfte an der Spitze. Sie definieren den Rahmen und das Ausmaß für Demokratie. Sie haben seit 1960 mehrfach interveniert und wollen nach eigenem Selbstverständnis auch in Zukunft so handeln, wenn die demokratisch legitimierten Politiker vom Pfad der Tugend abkommen. Die Folgen der Militärdiktatur 1980-83 mit der Verfassung von 1982 sind umfangreiche Gängelungen demokratischer Prozesse und Akteure, wie sie in Europa nicht hinnehmbar erscheinen. Besonders unbehaglich ist die Aussicht, daß auch verfassungsändernde Parlamentsmehrheiten belanglos werden, sobald sich damit für das Militär ein Irrweg abzeichnet. Einem derart labilen politischen System ist nicht zuzutrauen, die immer wieder angekündigte Demokratisierung aus eigener Kraft durchzusetzen
  2. In der Türkei gibt es gewachsene wirtschaftliche Freiheiten, die sich günstig auswirken. Die Medien enwickeln sich mit hohem Tempo und sind der staatlichen Kontrolle bereits weitgehend entglitten. Die Meinungsfreiheit ist größer geworden, die Macht der Zensoren und Staatsanwälte hat abgenommen. Am Beispiel des Kurdenproblems zeigt sich allerdings, daß der Schutz grundlegender Bürgerrechte nach EU-Vorstellungen noch lange Zeit unzureichend sein wird. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung und der Parlamentsabgeordneten ist sich keiner Menschenrechtsverletzungen bewußt, wenn von entsprechenden Vorfällen in den Kurdengebieten und in manchen Großstadtvierteln berichtet wird. Sie rechtfertigen das Vorgehen des Staates und sind der Ansicht, es gäbe gar kein Kurdenproblem, sondern allein ein Problem mit Terroristen. Das ist auch die Auffassung aller Regierungen seit 1980. Sie unterstützen die Linie der Streitkräfte, den Terror mit allen Mitteln zu bekämpfen und damit billigend in Kauf zu nehmen, auch unbeteiligten Personen Schaden zuzufügen. Kriegsrecht und Ausnahmezustand setzen schon jahrzehntelang die Bürgerrechte in den kurdischen Provinzen außer Kraft. Die gesamte Bevölkerung hat dort die Last des Konflikts zu tragen. Eine der Folgen ist ein Anschwellen der Binnenmigration in die Westtürkei und die Flucht vor Armut und Verfolgung nach Europa. Nicht wenige Gerichte in den EU-Staaten werten das Vorgehen Ankaras als Krieg gegen die eigenen Staatsbürger und gewähren daher politisches Asyl. Es ist die unhaltbare Situation entstanden, daß ein Staat um EU-Mitgliedschaft nachsucht, dessen Staatsbürger in der EU um politisches Asyl nachsuchen. Das nach Meinung Ankaras nicht vorhandene Kurdenproblem trägt auch durch türkische Vorwürfe zur Entfremdung bei, die Europäer wollten die Türkei destabilisieren. Der Terror wäre längst besiegt, wird als Verdacht geäußert, fänden die kurdischen Separatisten in Europa nicht Unterstützung.
  3. Wirtschaftlich hat die Türkei gegenüber einigen Nachbarstaaten, wie Bulgarien und Rumänien, einen Vorsprung. Sie versteht sich als so wettbewerbsfähig, daß sie 1996 die Zollunion mit der EU eingegangen ist. Die außenwirtschaftliche Verflechtung ist mit den EU-Staaten am höchsten. Deutschland ist für die Türkei das mit Abstand wichtigste Exportland, und die Türkei steht bei der deutschen Warenausfuhr an elfter Stelle. Trotzdem gibt es volkswirtschaftliche Faktoren, die nicht nur kurzfristig den EU-Anforderungen entgegenwirken. Erstens ist die durch das Pro-Kopf-Einkommen gemessene Wirtschaftskraft der Türkei um ein vielfaches unter dem EU-Durchschnitt und kann nicht deutlich schneller als in EU-Europa wachsen, solange das hohe Bevölkerungswachstum in der Türkei anhält. Es ist eine dauerhafte Umverteilung des EU-Haushalts in Richtung Türkei zu erwarten - mit beträchtlichem Finanzvolumen aufgrund des Bevölkerungsgewichts. Verstärkt wird die Umverteilungswirkung durch das dramatische regionale Entwicklungsgefälle innerhalb der Türkei. Kein EU-Land weist derart hohe Einkommensdisparitäten auf. Drittens weist das System der öffentlichen Finanzen Mängel auf, die die Schattenwirtschaft besonders stark begünstigen und zu einem chronischen Haushaltsdefizit beitragen. Die Folge sind eine zweistellige Inflation seit dreißig Jahren, eine Unterversorgung mit öffentlichen Gütern und eine unterentwickelte Zahlungsmoral bei Steuern und Abgaben. In einem solchen Stadium erzeugt hohe wirtschaftliche Dynamik hohe Mobilität und damit viertens Migrationsströme der Menschen von den ländlichen und wirtschaftsschwachen Provinzen in die städtischen Ballungsräume. Bei Freizügigkeit wandern sie weiter in die Wachstumszentren der EU. Export von Arbeitslosigkeit führt nur unter Vollbeschäftigungsbedingungen zu Mehrbeschäftigung im Zuzugsgebiet, Bedingungen, die für die absehbare Zukunft fehlen. Dies weiß man in Ankara und bietet an, die freie Wahl von Arbeitsplatz und Wohnort außerhalb der Türkei oder aber den Fortzug aus der Türkei zu beschränken. Doch beschädigte eine solche Regelung EU-Recht und damit die Integrationskraft. Sie würde die EU zurückwerfen.
  4. Man sollte meinen, die Integrationsbereitschaft der Türkei und ihre Zustimmung zu den Zielen der EU sei über jeden Zweifel erhaben. Sie hat 1963 ein Assoziierungsabkommen geschlossen, 1987 die Vollmitgliedschaft beantragt und ist 1996 in die Zollunion eingetreten. Sie hat sich damit auf eine "Mitgliedschaft ohne Stimmrecht" eingelassen. Die Bereitschaft zur Integration kann also gar nicht bestritten werden, höchstens die Fähigkeit, an derselben Wertegemeinschaft mit entsprechenden politischen Zielen teilzuhaben. Für einen solchen angeblichen Mangel hat die EU aber kein Kriterium. Man kann sich auf das einigende Band der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte beziehen, wenn man die EU-Verträge um einige Grundlagen erweitern möchte, die den vertraglichen Zielen vorausgegangen sind. Man sollte aber Hitler und Stalin nicht dabei vergessen. Die Negation europäischer Barbarei ist ebenso Teil der EU-Werteordnung wie Römisches Recht oder Lateinisches Christentum. Andere Elemente kommen hinzu. Wer die christliche Orthodoxie oder den Islam auf dem Balkan und in Osteuropa nicht als Bestandteile europäischer Identität anerkennen kann, wendet sich gegen die politische Vision der EU. Die EU-Grenzen haben nichts mit Religionsgrenzen zu tun, genau so wenig wie die Geschichte der Christenheit zwangsläufig auf Demokratie hinauslaufen mußte. Die europäischen Institutionen sind nicht als Christenklub gestaltet, die Türkei ist aber auch kein islamischer Staat. Für die Türkei sind die kemalistischen Institutionen stärker richtungsweisend als die Moschee. In allen Weltgegenden, auch innerhalb von EU-Demokratien, findet ständig "Kulturkampf" statt, obwohl in Frankreich weniger heftig als in der Türkei. Die französische Demokratie kann man eher als gereifteren Verwandten der türkischen Demokratie umschreiben, sie bilden kein kulturelles Gegensatzpaar. Wenn man schon die europäische Kultur- und Wertegemeinschaft als den entscheidenden Faktor betrachtet, der das Zusammenwachsen zu einer politischen Union ermöglicht, so wirkt dieser nicht für sich genommen einer Vollmitgliedschaft der Türkei entgegen. Es sind die weiter oben genannten Faktoren.


Grenzen des Auseinanderdriftens von Europäischer Union und Türkei

Es gibt nicht nur Faktoren, die einer stärkeren Integration der Türkei entgegenwirken. Auch eine mögliche Desintegration stößt auf Grenzen.

Die Sicherheitsfrage steht in der türkischen Politik ganz obenan, und sie wird seit über 40 Jahren mit der NATO-Mitgliedschaft beantwortet. Eine zunehmende Entfremdung von Europa könnte zum NATO-Austritt führen mit der Folge, daß sich die Türkei ihre Sicherheit allein oder mit neuen Partnern verschaffen müßte. Auf sich allein gestellt würde die Türkei eines der folgenden Szenarien anstreben müssen:

  • neutrale Regionalmacht mit allseitiger Brückenfunktion;
  • Integration des Wirtschaftsraums um das Schwarze Meer;
  • Verbund der Turkvölker;
  • Union der islamischen Nachbarstaaten;
  • Tigerklub mit Fernasien;
  • außereuropäische Bündnismacht der USA.

Option neutrale Regionalmacht. Um die Rolle einer strikt neutralen Regionalmacht zu erfüllen, muß Ankara die Brücken nach Rußland, in den Kaukasus und nach Mittelasien, in den Iran und nach Arabien ohne Unterstützung von EU und NATO ausbauen. Zweifellos sind mit dem Ende des Kalten Krieges die Möglichkeiten gewachsen, nach allen Seiten Neutralitäts- und Freundschaftsabkommen zu schließen. Eine Distanzierung von EU und NATO könnte diese Möglichkeiten noch verbessern. Damit sind aber erhebliche Stabilitätsrisiken verbunden, die Ankara zur Vorsicht anhalten werden. Der Schutzschild und die Rüstungshilfe der NATO entfallen, obwohl das türkische Militär nicht einfach abgebaut werden kann. Als Regionalmacht braucht die Türkei sowohl militärische Stärke als auch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Andernfalls bildet sie einen hohlen Zwischenraum zwischen anderen Mächten der Region, der von ihnen eingedrückt werden könnte. Eine Stärkung der Wirtschaft auf Kosten der militärischen Anstrengungen würde sich das türkische Militär im übrigen wohl kaum mit dem Argument abhandeln lassen, alle Kraft müsse in den nichtmilitärischen Wirtschaftsaufbau gesteckt werden. Im Endeffekt wäre Ankara so oder so auf eine Schaukelpolitik angewiesen. Die Aussicht, aus Schwäche zwischen dem postsowjetischen Raum und dem Nahen und Mittleren Osten hin und her zu pendeln, bremst die Neigung, sich von Europa abzuwenden.

Option Schwarzmeerunion. Eine Schwarzmeerunion könnte man sich ähnlich wie die EU auf der Basis einer politischen Vision vorstellen, die die bitteren Erfahrungen vergangener Kriege in einem wirtschaftlichen Kooperationsprojekt überwindet. In Istanbul unterzeichneten elf Staaten 1992 eine Erklärung in dieser Richtung. Die Fortentwicklung des Projekts eröffnete eine interessante Perspektive. Statt mit der EU würde die Türkei mit dem Erbfeind Rußland eine besondere Allianz bilden und die anderen Staaten der Region integrierend mit hineinziehen. Inzwischen hat sich die Anfangsbegeisterung gelegt. Die türkisch-russische Verständigung kam nicht voran, und keines der regionalen Probleme wurde gelöst. Gegen den mittelfristigen Erfolg sprechen nicht nur aktuelle Konflikte zwischen den Partnerstaaten, an erster Stelle der Karabachkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, sondern vor allem der geopolitische Widersinn, die gesamte eurasische Landmasse Rußlands an den Schwarzmeerraum zu binden. Rußlands Interessen zwischen Pazifik und Atlantik lassen sich nicht einer Binnenmeerregion unterordnen. Man könnte nun daran denken, die Russische Föderation gänzlich oder bis auf unbedeutende Provinzdistrikte auszugrenzen. Man hätte dann eine neoosmanische Union von muslimischen und christlichen Völkern des untergegangenen Osmanenreichs. Ohne stabile EU-Bindung ist diese kleinere Gruppierung aber ebenso widersinnig, weil sie die notwendige Allianz der beiden wichtigsten Anrainerstaaten des Schwarzen Meers unterbindet. Die Anziehungskraft der Türkei allein ist entschieden zu niedrig, um Griechenland aus der EU oder die Ukraine aus der russischen und mitteleuropäischen Einflußzone herauszuziehen. Daher ist die Schwarzmeerunion keine Option, die besondere Anreize für eine wachsende Distanzierung von der EU schafft.

Option Turkverbund. Der großtürkische Ansatz orientiert sich am zentralasiatischen Herkunftsgebiet der türkischen Sprache und an den Turkvölkern als Kulturgemeinschaft. Die damit verbundene Abwendung von Europa wird von mehreren Faktoren gebremst. Erstens verursachen die Ungereimtheiten der pantürkischen Idee nicht anders als beim Pangermanismus oder Panslawismus Spannungen im großtürkischen Raum. In "Turkestan" (Südkasachstan, Xinjiang, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan) und im Kaukasus (Aserbaidschan) erinnert man sich an kein großtürkisches Reich, das unter der Führung Ankaras oder jemals unter irgendeiner anderen Macht bestanden hätte. Man möchte russische nicht gegen türkische Bevormundung eintauschen. Der Annäherungsprozeß nach 1990 ist auch aus diesen Gründen zum Stillstand gekommen. Zweitens fühlen sich andere Staaten und Völker in diesem Raum bedroht - das kleine Armenien ebenso wie das große Rußland oder der Iran. China will Xinjiang nicht verlieren. Drittens würde der innerstaatliche Konflikt zwischen Kurden und Türken angeheizt. Auch viele "nichtkurdische" Türken würden schon deshalb die Hinwendung nach Mittelasien ablehnen. Viertens würde der Türkei als dem wirtschaftsstärksten Teilstaat die Aufgabe zufallen, die großtürkische Union mithilfe zusätzlicher Ressourcen zu stützen. Würde sich Ankara nur der Bodenschätze im postsowjetischen Raum bedienen, wäre die Union schnell zerfallen. Da andererseits die Türkei bisher nicht einmal ihr innerstaatliches Entwicklungsgefälle abbauen konnte, wäre die zusätzliche Integrationsaufgabe in Wirklichkeit ein Sprengsatz. Deshalb dürfte eine Abkehr von Europa auf der Grundlage großtürkischer Pläne auf massive politische Gegenkräfte stoßen.

Option Islamische Regionalallianz. Auch gegen eine zunehmende Annäherung an Nachbarstaaten mit dem Ziel einer Union, die sich auf den Islam beruft, sprechen eine Reihe von Gründen. Die kemalistische Staatsdoktrin müßte zusammenbrechen. Die proislamischen Kräfte müßten den türkischen Nationalismus erfolgreich auf die Vision eines muslimischen Internationalismus umlenken. Die Neuorientierung müßte auf konkrete Partnerstaaten ausgerichtet werden. Die potentiellen Partner müßten ihrerseits auf die Türkei zugehen. Trifft irgendeine dieser Entwicklungen nicht ein, bleibt der islamische Integrationsprozeß stecken. Weder die islamische Geschichtsepoche des Nahen und Mittleren Ostens noch die gegenwärtigen Beziehungen der Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit lassen erkennen, daß ein erfolgreicher Integrationsprozeß bevorsteht. Die Türkei ist Mitglied in der Organisation der islamischen Staatenwelt OIC, die sich von Nigeria und Mali über Saudiarabien und Afghanistan bis Bangladesch und Indonesien spannt. Es besteht wenig Aussicht, daß die bisher schwache Integrationskraft der OIC durch verstärkte türkische Anstrengungen merklich steigen kann. Die Türkei ist außerdem Mitglied der ECO mit den Kernstaaten Iran, Pakistan und Türkei, die nach der Aufnahme einer Reihe postsowjetischer Republiken eine iranisch-turanische Prägung hat. Was ursprünglich ein Instrument US-amerikanischer Eindämmungspolitik gewesen war, könnte nun eine islamische Mittelmacht zwischen der arabischen Welt und Indien werden. Voraussetzung dafür wäre die endgültige Überwindung der Rivalität des Iran mit der Türkei und Turkestan einerseits, Afghanistan und Pakistan andererseits. Unter islamischen Vorzeichen wären die Voraussetzungen dazu besonders ungünstig. Die Zerteilung des sunnitischen Raums durch Schah Ismail I. vor 500 Jahren, dessen schiitische Glaubensauffassung zur Staatsreligion des Iran wurde, hat bis heute Bestand. Die schon 1555 im Frieden von Amasya gezogene scharfe Trennlinie nach Westen ist noch heute die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran. Sie ist damit Ausdruck eines Kräftegleichgewichts regionaler Rivalen. Die überwiegend aus Armeniern, Aseris und Kurden zusammengesetzte Grenzbevölkerung stellt eine "ethnisch-religiöse Zwischenzone" dar. Gewissermaßen als Gegenstück sind die multiplen Konflikte im Osten Irans in Afghanistan und Tadschikistan Ausdruck eines Ungleichgewichts. Die Machtkämpfe sind weder durch die postsowjetischen Staaten noch die USA, weder durch die Islamische Republik Iran noch durch die Islamische Republik Pakistan unter Kontrolle zu bringen. Insofern bietet der ECO-Raum keinen Anhaltspunkt für den Islam als einigendes Band der Völker. Ähnliche Überlegungen ergeben sich in bezug auf den arabischen Raum. Anders als der Iran waren die heutigen arabischen Staaten Teil des Osmanischen Reiches. Mit dieser Zeit verbinden die Araber negative Erinnerungen, die eine Reintegration unter dem Banner des Islam erheblich behindern. Die Arabische Liga ist in den letzten Jahrzehnten wenig vorangekommen. Eine Islamische Liga aus den muslimischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches dürfte auf noch größere Schwierigkeiten stoßen.

Option Tigerclub. Daß das politökonomische Modell Südkoreas oder von "Tigerstaaten" wie Malaysia und Thailand auch für die Türkei anziehend sei, hat seit der ostasiatischen Finanzkrise 1997 eine gesunkene Anhängerschaft. Nun war die Türkei in der Vergangenheit gar nicht so weit entfernt von einer kapitalistischen Entwicklungsdiktatur, in der Demokratisierung erst vorgesehen war, wenn sich der volkswirtschaftliche Wachstumserfolg zufriedenstellend eingestellt haben würde. Sie hat den Weg zur Demokratie aber frühzeitiger eingeschlagen als die "Tigerstaaten". Um auf deren Kurs zu wechseln, bräuchte sie im übrigen keine Verbindung dorthin, da solche Staaten keine Bindung untereinander suchen. Nötig wäre ein türkischer Sonderweg zurück in die Entwicklungsdiktatur. Ob das Militär, der wohl einzig mögliche Träger dafür, genügend Partner in der Wirtschaft findet, muß stark bezweifelt werden, und nach 50 Jahren Demokratisierung würde es aus allen Schichten starken Widerstand geben.

Option Sonderbündnis mit den USA. Theoretisch könnte sich die Türkei auch ohne NATO-Mitgliedschaft strategisch an die USA binden. Mit einer Sicherheitsgarantie der USA im Rücken könnte sie als Polizist des Nahen Ostens auftreten. Ohne Einbindung in die NATO-Strukturen dürfte dies jedoch für beide Seiten unattraktiv sein. Die Türkei müßte in der gegenwärtigen Konstellation für Israel und gegen die eigenen Nachbarstaaten in Stellung gehen. Diese würden enger zusammenrücken, um der zusätzlichen Front besser gewachsen zu sein. Möglicherweise würden sie ihrerseits feindliche Aktionen in Richtung Türkei unternehmen, wenn sie Israel oder die USA nicht direkt treffen wollen oder können. Die schon bestehenden direkten Konflikte zwischen der Türkei und ihren Nachbarn kommen hinzu. Dadurch wachsen die Möglichkeiten, daß die USA ungewollt in Regionalkonflikte hineingezogen werden. Die Spannungen würden wahrscheinlich auch bezüglich Zypern und Griechenland steigen, da die Türkei frei von NATO-Verpflichtungen und EU-Rücksichtsnahmen wäre. Letztlich sind die destablisierenden Wirkungen sowohl für den "US-Schlagstock" Türkei als auch für die Garantiemacht USA unkalkulierbar.

So zeigt sich am Beispiel der Sicherheitsfrage und der internationalen Beziehungen, daß der Desintegration deutliche Grenzen gesetzt sind. Bei einer politischen Entwicklung, die diese Grenzen zu überschreiten droht, ist mit starken Gegenkräften zu rechnen. Letztlich wäre die Gesamtwirkung ungewiß, aber eine zunehmende Entfernung von Europa muß als unwahrscheinlich gelten.

Die europäische Perspektive der Türkei

Es wurde argumentiert, die Türkei werde weder bald EU-Mitgliedsstaat noch werde sie sich stark von der EU entfernen. Daraus ergibt sich eine unbestimmte Nähe, die nicht mit guter Nachbarschaft oder gleichberechtigter Partnerschaft verwechselt werden darf. Die konkrete Politik der Regierungen entscheidet mit darüber, welche nachbarschaftlichen und partnerschaftlichen Beziehungen sich einstellen.

Es liegt im Interesse der Union, die europäische Perspektive für die Türkei ständig zu verbessern. Auf Faktoren, die sie beeinflussen kann und die dieser Perspektive entgegenstehen, sollte sie daher abschwächend einwirken. Neben den in diesem Artikel genannten Faktoren sollte eine protürkische Politik die Risiken "innerer Befindlichkeit" bekämpfen. Sie sollte sowohl aktiv gegen Blockadestimmungen in den Unionsstaaten vorgehen als auch angemessen auf die antiwestlichen Aspekte der Reislamisierung in der Türkei reagieren. Unbedingt sollte sie etwas gegen den falschen Eindruck unternehmen, die EU täte nichts für die Türkei, weil sie deren Westorientierung ohnehin für unumstößlich halte.

Die europäische Perspektive gerät durch EU-interne Stimmungen in Gefahr, die von sozialer Deklassierung und sozialer Konkurrenz, Xenophobie und Angst vor Fremdbestimmung hervorgerufen werden. EU-Ausländer könnten zunehmend zum Sündenbock für alle möglichen Fehlentwicklungen werden. Den EU-Erweiterungsplänen könnte entgegengerufen werden: "Erst kommen wir!" Würde der stetig wachsende Anteil muslimischer Europäer zu vermehrten Bürgerkonflikten führen, wäre auch die Partnerschaft mit der Türkei gefährdet. Abseits von Katastrophenszenarien steht die EU-Innenpolitik hierbei vor einer lösbaren Aufgabe. Das Paradox wachsender Entfremdung durch engere Nachbarschaft, welches die muslimische Diaspora in der Union hervorrufen könnte, hat nur bedingten Realitätsgehalt. Das Zusammenleben hat zu mehr Toleranz beigetragen und die Zivilgesellschaft vielerorts gestärkt. Auch kulturphilosophische Debatten, ob die Gegensätze zwischen islamischer und westlicher Zivilisation unüberbrückbar seien oder nicht, laufen ins Leere. In der EU frei leben, aber auch EU-Mitgliedsstaat werden kann nur, wer sich den geltenden gesetzlichen Standards anpaßt. Dieser Maßstab taugt besser als die Ideengeschichte. Im übrigen ist die westliche Zivilisation weit verteilt über Raum und Zeit entstanden. Ihre Werte waren einmal in Spanien weniger präsent als in der Türkei. Darum ist die Herleitung der europäischen Identität aus abendländischen Werten, zu welchen der islamische Kulturkreis sich antagonistisch verhalte, historisch und soziologisch kaum zu begründen. Europas Arroganz in bezug auf den Islam ist ein Risikofaktor, und Phobie aus Unkenntnis ist eine tiefere Ursache dafür.

Auf der anderen Seite trifft es zu, daß in der Türkei gegenwärtig die Propagandisten eines angeblichen Antagonismus der Zivilisationen Zulauf haben und die europäische Perspektive gefährden. In der Wahrnehmung mancher westlicher Beobachter wird dieser Zulauf auf die Formel eines im Trend steigenden islamischen Fundamentalismus verkürzt. Reagiert die EU auf die an diese Beobachtung geknüpfte "Reislamisierung" unangemessen, destabilisiert sie die Partnerschaft mit der Türkei. Im Grunde besteht die durchaus vorhandene Gefahr nicht im Islam, sondern in der Politisierung des Spannungsverhältnisses von Tradition und Moderne. Die Wurzeln des Aufstiegs der proislamischen Wohlfahrtspartei sind sicherlich komplex, sichtbar entwickelte sich aus ihnen eine Anti-Establishment-Bewegung. Die sich in Ängsten und Enttäuschungen, wirtschaftlicher Not und Entfremdung von vertrauten Verhaltensmustern geprägte "innere Befindlichkeit" wird in die einfache Formel umgemünzt, der vom türkischen Staat unterdrückte Islam biete die Lösung. Man darf die antimodernen, antipluralistischen Kräfte in der Wohlfahrtspartei bei der Beurteilung ihres Erfolgs nicht gering schätzen, sollte aber auch nicht folgende Einschränkungen außer acht lassen. Der Glaube und politische Parteien, die mit dem Glauben werben, sind auseinanderzuhalten. Christentum und eine christliche Volkspartei leben in einem ähnlichen Spannungsverhältnis wie Islam und eine proislamische politische Bewegung. Man muß demgemäß Islam und Islamismus unterscheiden. Der Islam kennt unzählige Ausprägungen, so daß selbst innerhalb der Türkei scharfe Glaubensgegensätze bestehen, insbesondere zwischen Sunniten und Alewiten. Der Islamismus zeigt sich in politischen Programmen, welche ihre Antworten in selbstgewählten Islaminterpretationen finden. Insofern ist es wenig verwunderlich, daß der türkische Islamismus nicht geeint ist. Ein Teil ist nationalreligiös auf die große osmanische Vergangenheit "unter dem Banner des Islam" fixiert und hauptsächlich traditionellen Werten verpflichtet. Ein Teil ist großtürkisch auf die glorreichen Leistungen der Turkvölker fixiert und dem Islam nur als der "Religion der Türken" verpflichtet. Ein Teil ist sozialkulturell und antinational auf die "universalen Werte" des Morgenlandes fixiert und hauptsächlich antikemalistisch orientiert. Erbakan hat diese Teile mit großem Geschick zusammenhalten können; ohne ihn wird die Bündelung noch schwieriger. Eine andere wichtige Einschränkung betrifft nämlich die politischen Akteure. Wie die Parteien- und Parlamentsgeschichte zeigt, stellen ideologische Positionen nicht die einzige Triebfeder türkischer Politik dar. Die Politiker nutzen durchaus Opportunitäten.

Schließlich sollte auch nicht übersehen werden, daß die Politisierung des türkischen Islams ein lang zurückreichender Prozeß ist. Die jüngsten Wahlerfolge der Wohlfahrtspartei verdecken, daß dieser Prozeß aufgrund häufiger Parteiverbote in der Türkei über längere Zeitabschnitte nicht offen zu Tage trat. Islamisten waren immer ein wesentlicher Faktor in anderen Parteien und operierten mit Erfolg gegen das kemalistische Ziel, den Islam aus Staat und Gesellschaft zu verdrängen. Die staatlich verordnete Säkularisierung mußte auf diese Gegenkräfte stoßen; denn sie forciert den von der Säkularisierung geschaffenen Gegensatz von Tradition und Moderne. Die Islamisten sind in der türkischen Demokratie ein Gegenspieler der Säkularisten, aber es gibt andere Dimensionen der Politik. Deshalb finden sich in den Mitte-Rechts-Parteien beide Gruppen, sowohl Säkularisten als auch Islamisten. Die gegenwärtige Aufsplitterung der politischen Mehrheit, die seit 1950 außerhalb der Partei Kemal Atatürks angesiedelt war, hat den islamistischen Faktor gestärkt. Er bestimmt aber deshalb noch lange nicht die türkische Identität.

Kemalisten sprechen von einer Identitätskrise, in die das Land durch innertürkische Feinde der Westorientierung, durch den von äußeren Feinden angestachelten kurdischen Nationalismus und durch die abweisende Haltung EU-Europas gestürzt worden sei. Diese Stimmung hat sich auf große Teile der national gesinnten Öffentlichkeit ausgedehnt. Die nationalistischen Töne nehmen zu, wobei die Beschlüsse des Luxemburger Gipfels vom Dezember 1997 als Beweismittel dienen. Die Türkei dürfe nicht hinnehmen, nur noch ein Erfüllungsgehilfe westlicher Sicherheitspolitik zu sein; sie müsse daher ihrerseits EU-Europa die Tore schließen. Demgegenüber sollten die EU-Staaten unmißverständlich klarstellen, daß sie an einer destabilisierten oder antiwestlichen Türkei keinerlei Interesse haben können und daß eine EU-Politik mit solchen Folgen töricht wäre. Abgesehen von der Klarstellung, daß es nicht diskriminierend ist, ein gemeinsames sicherheitspolitisches Interesse zu teilen, aber unterschiedliche europäische Integrationsauffassungen zu haben, sollte die EU ihren Willen zur Verbesserung der Beitrittsperspektive durch aktive Türkeipolitik anhand bestehender Beitrittskriterien demonstrieren. Statt der Sprachlosigkeit von Luxemburg sollte die EU einen offenen Dialog über die Defizite führen und verbindlich festmachen, auf welche Weise sie sich an der Beseitigung der Defizite beteiligen will. Ein glaubwürdiger Dialog muß den Vergleich mit den Staaten Ostmitteleuropas einschließen, die in Luxemburg eine bessere Beitrittsperspektive erhielten als die Türkei. Deren zweifellos hohe Dialogbereitschaft ist ebensowenig hinreichend für ihren Beitritt wie ihre derzeitige wirtschaftliche Lage. Auch darum ist der Dialog mit der Türkei so wichtig.


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