Politik und Gesellschaft
Online International Politics and Society 2/2001 |
|
Andreas Ufen Islam und Politik in Indonesien Obwohl der indonesische Archipel mit seinen
etwa 210 Mio. Einwohnern das viertbevölkerungsreichste und
mit etwa 180-190 Mio. Muslimen das größte islamische Land
der Erde ist, konzentriert sich die journalistische und die
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Islamisierung zumeist
auf den nahöstlichen Raum. Dabei hat der Islam - sowohl als
way of life als auch als politische Lehre - eine ungeheure
Aufwertung in Südostasien, insbesondere in Malaysia und Indonesien,
erfahren. Schon in den 70er Jahren nahm in Indonesien
das Interesse an der islamischen Lehre zu. Seit Ende der 80er
Jahre sah sich das Suharto-Regime genötigt, Muslime zunehmend
zu kooptieren. Mit der Einführung der parlamentarischen Demokratie
seit dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) und der Gründung
neuer islamischer Parteien und Organisationen ist der Islam
zu einer bedeutenden politischen Größe geworden. In diesem Aufsatz soll der Aufstieg orthodox-islamischer
Gruppen beschrieben und die mögliche weitere Entwicklung bewertet
werden.[1]
Aus der Untersuchung ergibt sich die These, dass zwar die
Entstehung eines gesamtindonesischen Islamstaates sehr unwahrscheinlich,
dass aber der Zusammenbruch der jungen parlamentarischen Demokratie
durch das Zusammenwirken von reaktionären Kräften, Sezessionisten,
gewaltbereiten Islamisten und populistischen Politiker sehr
wohl möglich ist. Frühe
Entwicklungen Während
eine aus Indien stammende Mixtur hinduistischer und buddhistischer
Elemente schon seit dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. die
existierenden animistischen Vorstellungen ergänzte und umformte,
drang der Islam erst etwa seit dem 13. Jahrhundert in den
Archipel vor. Entlang der Handelsrouten in die Molukken entstand
in den folgenden Jahrhunderten eine Reihe von islamischen
Fürstentümern. Erst im 17. Jahrhundert konnte der Islam in
nennenswertem Umfang in das javanische Binnenland vordringen.
Über die Handel treibenden Ausländer der Nordküste Javas gelangte
eine von persischen und indischen mystischen Elementen bereicherte
Variante in die javanischen Patrimonialreiche. Diese „sufistischen“
Lehren konnten in die bestehenden hindubuddhistischen Glaubenssysteme
relativ leicht integriert werden. König Agung von Mataram
durfte Mitte des 17. Jahrhunderts mit offizieller Bestätigung
aus Mekka den Sultanstitel tragen, aber zugleich hielt er
an vielen hindubuddhistischen Ideen, Zeremonien und Herrschaftsinsignien
fest. Im Mataram-Reich wurden also Teile der islamischen Doktrin
integriert und Enklaven der Orthodoxie, oft in und um die
Islaminternate (Pesantren), geduldet. Grundsätzlich galten
die Ulama, die Islamgelehrten, aber als subversiv. Amangkurat
I. ließ im 17. Jahrhundert 5.000-6.000 von ihnen ermorden,
wodurch die Stellung der orthodoxen Muslime für lange Zeit
geschwächt wurde. Deshalb schreibt Anderson über die Bedeutung
des Islam in jener Zeit und danach: "To use Gramsci's
term, at no point did a ‘hegemonic’ Islamic culture develop
in Java. The
self-consciousness of pious Muslims remained strictly ‘corporate’.
Political and cultural subordination went hand in hand."[2] Anfang des
17. Jahrhunderts hatten niederländische Kaufleute der Vereinigten
Ostindischen Kompanie (VOC), begonnen, den Gewürzhandel gewaltsam
zu monopolisieren. Die Handelsgesellschaft übte auf die einheimischen
Reiche aber noch keinen nachhaltigen Einfluss aus. Erst Anfang
des 19. Jahrhunderts übernahm die niederländische Krone die
VOC. In der Folge danach wurde die Kolonialherrschaft systematisiert.
Schon bald sah die neue niederländische Verwaltungselite in
einem Bündnis zwischen den kooptierten „Priyayi“, den Beamtenaristokraten,
und den Ulama eine große Gefahr. Ein solches Bündnis führte
1825-30 zum außerordentlich verlustreichen Java-Krieg. Die
Niederländer setzten aus Sorge vor den orthodoxen Muslimen
überwiegend synkretistische Muslime, „Abangan“, in der kolonialen
Verwaltung ein.[3] Auf diese Weise blieb
den orthodoxen Muslimen, den „Santri“, der Zugang zum Staatsapparat
versperrt. Trotzdem
gewannen die orthodoxen Muslime seit Ende des 19. Jahrhunderts
unter den Einheimischen an Einfluss, weil die Priyayi wegen
ihrer Abhängigkeit von den Niederländern zunehmend an Macht
und Legitimität einbüßten und weil zur gleichen Zeit reformistische
bzw. modernistische Strömungen aus dem Nahen Osten den indonesischen
Islam zu beleben begannen. Erst um 1900 war der Abangan-Santri-Gegensatz
völlig entwickelt. Der Santrismus wurde zu einer religiösen
und politischen, d.h. antikolonialen Doktrin ausgearbeitet
und zunehmend von den klassischen, hindubuddhistischen Traditionen
Indonesiens abgegrenzt.[4]
Um 1910
setzte sich der Modernismus unter den Händlerschichten der
größeren Städte mehr und mehr durch. Es kam zur Gründung des
Sarekat Islam, der ersten großen nationalistischen Vereinigung,
und der Muslimorganisation Muhammadiyah. 1926 wurde als Reaktion
auf den aufkeimenden Modernismus die Nahdatul Ulama (NU, "Renaissance
der Ulama"), eine Interessenvertretung der traditionalistisch
orientierten Islamgelehrten, die ihre Basis in den javanischen
Dörfern haben, gegründet.
Der Gegensatz
zwischen Abangan und Santri und zwischen Traditionalisten
und Modernisten prägte den indonesischen Islam über Jahrzehnte,
und z.T. lassen sich diese Spaltungen, wenn auch in modifizierter
Form, bis heute verfolgen. Es gab nur für kurze Zeit eine
gewisse Einigung islamischer Gruppen, etwa 1937 durch den
antikolonial orientierten Obersten Indonesischen Islamrat
MIAI[5] und durch den
während der japanischen Besetzung (1942-45) gegründeten Masyumi[6] (1943). Die
Spaltungen innerhalb des indonesischen Islam blieben aber
auch in der Hochphase des antikolonialen Kampfes bestehen.
Seit 1945,
also seit Erlangung der Unabhängigkeit, wurde über die Frage
diskutiert, welchen Stellenwert die Scharia in der Verfassung
haben und ob die Republik Indonesien ein islamischer Staat
sein sollte. Mit der Formulierung der Jakarta-Charta einigten
sich die säkularistisch orientierten Nationalisten und die
islamischen Führer in dem Komitee für die Vorbereitung der
Verfassung vom 22. Juni 1945 auf einen Kompromiss.[7]
Mit der Charta wurde die Anordnung der fünf Prinzipien der
Staatsphilosophie, der „Pancasila“[8]
verändert und das nun an erster Stelle stehende Prinzip des
Glaubens an den einen Gott um den Zusatz erweitert, dass Muslime
die Scharia anzuwenden hätten. Allerdings sorgte Mohammad
Hatta, damals nach Sukarno die einflussreichste Persönlichkeit
in Indonesien, dafür, dass dieser Passus in der dann gültigen
Fassung der Präambel und des Verfassungstextes nicht mehr
auftauchte. Hatta fürchtete Widerstand insbesondere von christlichen
Ostindonesiern. Diese Änderung wurde später von vielen Muslimen
als Betrug gewertet.[9] Indonesien
wurde endgültig im Jahre 1949 unabhängig. Zuvor waren die
1945 zurückgekehrten Niederländer in einem blutigen Krieg
an der Wiedererrichtung ihrer Kolonialherrschaft gehindert
worden. Erst sechs Jahre später, im Jahre 1955, fanden die
ersten freien Wahlen statt. Die islamischen Parteien erreichten
zusammen nur 43,5% der Stimmen. Der Vorstellung, einen Islamstaat
errichten zu können, erwies sich als Illusion, da die Abangan
sich zur großen Enttäuschung der orthodoxen Muslime den nichtislamischen
Parteien (der Partai Nasional Indonesia, PNI, und der Partai
Komunis Indonesia, PKI) zuwandten.[10] Auch in
der Konstituante, die 1956-59 eine neue Verfassung ausarbeiten
sollte, waren die Verhandlungen von den Streitigkeiten zwischen
orthodoxen Muslimen und ihren Widersachern geprägt. Zum Zeitpunkt
der Auflösung dieser Versammlung durch Sukarno (1959) sprachen
sich 48% der Abgeordneten für den Islam als Wertebasis der
Republik Indonesien aus, 52% stimmten für die Pancasila. Nach der
Einführung der Gelenkten Demokratie, einer populistischen
Scheindemokratie, durch Sukarno im Jahre 1959 und dem Verbot
vom Masyumi ein Jahr später (wegen der Beteiligung einiger
Masyumi-Politiker an regionalistischen Bewegungen) war der
modernistische Islam als parteipolitische Kraft entscheidend
geschwächt. Die NU wurde in eine fragile Allianz von Nationalisten,
religiösen Gruppen und Kommunisten eingebunden.[11]
Die Bürokratie und das Militär waren weiterhin von Abangan
beherrscht. 1964/65
steigerten sich die Spannungen zwischen den meist grundbesitzenden
Santri und der ländlichen Abangan-Unterschicht, da die PKI
in "einseitigen, eigenmächtigen Aktionen" (aksi
sepihak) begann, die 1960 vom Parlament beschlossene Landreform
durchzusetzen. Die wohlhabenden Bauern konnten die Landbesetzungen
verhindern und rächten sich zu Beginn der Neuen Ordnung mit
Massakern an den Kommunisten und ihren Sympathisanten. Der Islam in der frühen und mittleren Phase der Neuen Ordnung Die Muslime (etwa der NU-Jugendorganisation Ansor oder des Studentenverbandes HMI) hatten erheblichen Anteil an der Zerschlagung der Kommunistischen Partei und der politischen Linken überhaupt. Trotzdem blieben sie aus den Zentren der „Orde Baru“, der „Neuen Ordnung“, unter Suharto (1965-98) weitgehend ausgeschlossen. Die Neue
Ordnung war eine von Präsident Suharto dominierte Militärdiktatur.
Das Militär legitimierte sich mit der Doktrin der „dwifungsi“,
d.h. der Doppelfunktion im militärischen Bereich einerseits,
im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich andererseits.
Die drei offiziell zugelassenen Parteien gaben dem Regime
einen demokratischen Anstrich. Die Regierungspartei Golkar
(Golongan Karya = funktionale Gruppen[12])
konnte die weitgehend manipulierten Wahlen immer zu ihren
Gunsten entscheiden. Die beiden anderen, allenfalls halboppositionellen
Parteien, die 1973 von der Regierung per Gesetz geschaffen
und danach ständig beaufsichtigt wurden, nämlich die PDI (Partai
Demokrasi Indonesia=Demokratische Partei Indonesien) und die
islamische PPP (Partai Persatuan Pembangunan=Vereinigte Entwicklungspartei),
hatten bis zum Ende der Neuen Ordnung mit ihrem schlechten
Image als Legitimationsbeschaffer zu kämpfen. In der Frühphase des Suharto-Regimes (von 1965 bis Ende der
60er Jahre) gehörten noch viele muslimische Führer zur neu
geschmiedeten Regimekoalition. Danach, bis Ende der 80er Jahre,
war diese Beziehung von einer großen Ambivalenz gekennzeichnet:
Einerseits gab es weiterhin viele Muslime, die als Mitglieder
der großen Muslimorganisationen Nahdatul Ulama und Muhammadiyah
sowie der PPP das Regime unterstützten, andererseits existierten
einzelne Gruppierungen, die die Regierungspolitik bekämpften
oder zumindest kritisierten. Viele Muslime fühlten sich sogar
diskriminiert. Von Natsir, der früher Masyumi-Vorsitzender
und lange einer der führenden islamischen Intellektuellen
in Indonesien war, stammt der häufig zitierte Ausspruch, die
Muslime seien vom Staat wie "cats with ringworms"
behandelt worden.[13] Trotz oder gerade wegen dieser Diskriminierung kam es seit
den 70er, verstärkt aber seit den 80er Jahren zu einer allgemeinen
Islamisierung. Es wurde mehr und regelmäßiger gebetet, die
Moscheen waren an den Freitagen gefüllt, man benutzte häufig
arabische Ausdrücke, begrüßte sich in dieser Sprache, und
Gebetsnischen wurden in fast jedem Büro und jedem Geschäft
eingerichtet.
Die so genannte "Normalisierung des Campus-Lebens"
im Jahre 1978 (ein Euphemismus für die verschärfte Kontrolle
der Universitäten), die Schwächung der politischen Parteien,
insbesondere der islamischen, und die Depolitisierung sämtlicher
Organisationen, zumal die Durchsetzung der Pancasila als „azas
tunggal“, d.h. als der einzig zugelassenen ideologischen Grundlage
von Parteien und Massenorganisationen, bewirkten zwar eine
Privatisierung der Religion, nicht aber ihre Depolitisierung.
Der Islam wurde zu einer Lehre des Widerstandes gegen reiche
Sinoindonesier und gegen korrupte Politiker, Bürokraten und
Militärs. Auch die westlich orientierte, urbane Mittelklasse
artikulierte selbstbewusst ihre Interessen unter Berufung
auf islamische Gedanken. Von anderen wiederum wurde die Lehre
als konservativer, traditionalistischer Aufruf zur Abkehr
von der moralischen Verkommenheit des okzidentalen Liberalismus
und modernen Kapitalismus gedeutet. Der allgemeine
Trend zur Rückbesinnung auf den Islam ist auch vor dem Hintergrund
globaler Veränderungen zu sehen. Die in vielen Ländern zu
beobachtende Repolitisierung des Islam dürfte eine Reaktion
auf die - von vielen Muslimen so wahrgenommene - globale Vorherrschaft
der okzidentalen, christlich-jüdischen Kultur sein. Der Islam
ist deshalb in den 80er Jahren zunehmend zu einer gegen die
Verwestlichung gerichteten "Defensiv-Kultur" geworden.[14]
Eine weitere Ursache der Wiederbelebung der Religion ist der
enorme wirtschaftliche Wandel, der zur Entstehung einer neuen
Mittelklasse führte. Diese Mittelklasse, bestehend aus zumeist
in Städten lebenden Professionals sowie kleinen und mittleren
Unternehmer, interpretierte die islamische Lehre neu.[15]
Die staatliche Kooptationsstrategie in den 90er Jahren war
vor allem auf diese Gruppe gerichtet.
Die Stärkung des Islam in den letzten Jahren der Neuen Ordnung Im Jahre
1988 verschärfte sich der Konflikt zwischen Suharto und einer
Gruppe von Militärs um Benny Murdani, dem christlichen Kommandeur
der Streitkräfte, der über ein Netzwerk von Geheimdiensten
verfügte. Suharto versuchte, die Armee zu schwächen und die
Führung stärker unter seine Kontrolle zu bringen. Ein Mittel
dafür war seine Annäherung an islamische Gruppen. Dadurch
änderte sich das Verhältnis der Regimekoalition zum Islam
und umgekehrt die Haltung vieler Muslime zum Staat. Der Präsident
begann seine Reden mit einem "assalamulaikum". Er
pilgerte nach Mekka und nannte sich seitdem "Muhammad
Haji". Er wollte offenbar eine Art stiller Koalition
mit Muslimgruppen eingehen, um den Murdani-Flügel des Militärs,
der 1989 im Parlament eine Debatte über eine politische Öffnung
(keterbukaan) begonnen und forciert hatte, besser kontrollieren
zu können. Murdani wurde schließlich im Jahre 1993 vollends
entmachtet. Die größere
Bedeutung des Islam in Indonesien seit Mitte/Ende der 80er
Jahre hat aber nicht nur in der Hinwendung des Präsidenten
zur Santri-Variante des Islam, sondern auch in verschiedenen
gesetzlichen Veränderungen und politischen Maßnahmen[16]
ihren Niederschlag gefunden: ·
Die
Regierungsausgaben für den Bau von Moscheen, für die Verbreitung
der islamischen Lehre und die finanzielle Unterstützung der
staatlichen Islam-Universitäten wurden deutlich erhöht. ·
Ein
neues Bildungsgesetz legte einen obligatorischen Religionsunterricht
in den staatlichen und privaten Bildungseinrichtungen fest. ·
Die
islamischen Gerichte wurden bei Fragen von Heirat, Scheidung
und Erbschaft gesetzlich gestärkt; außerdem wurde das islamische
Recht systematisiert. ·
Die
Indonesische Vereinigung islamischer Intellektueller ICMI
(Ikatan Cendekiawan Muslim Se-Indonesia) wurde 1990 gegründet. ·
Musliminnen
durften seit 1990 in Schulen den jilbab, ein das Gesicht frei
lassendes, bis auf die Schultern reichendes Kopftuch, tragen. ·
Islamische
Kulturfestivals wurden veranstaltet. ·
Eine
Islambank (Bank Muamalat) wurde errichtet. ·
Die
staatliche Lotterie wurde nach anhaltenden Protesten verboten.
·
Es
kam zu einer "Vergrünung" (penghijauan) der Parlamente,
der Kabinette, des Golkar-Vorstandes[17] und der Militärführung.
Das heißt, die Anzahl der orthodoxen Muslime in Spitzenpositionen
nahm sprunghaft zu. So hatte, um nur ein Beispiel zu nennen,
Suharto bis Anfang der 90er Jahre die Santri aus den höheren
Rängen des Militärs ausgeschlossen, weil er den Aufstieg der
Muslime zu einer mächtigen politischen Gruppierung verhindern
wollte. Die Generäle Feisal Tanjung und Try Sutrisno waren
dann die ersten orthodoxen Muslime, die in die höchsten Militärränge
vorstoßen konnten. Es vertiefte
sich im Zuge dieser staatlich geförderten "Vergrünung",
die auch eine Reaktion auf eine genuine Belebung des Islam
als "way of life" und als politische Lehre war,
die bestehende Spaltung zwischen den modernistischen Muslimen,
die sich um Amien Rais u.a. sammelten, und den "säkularen
Nationalisten", die u.a. durch Abdurrahman Wahid[18]
und durch Megawati Sukarnoputri, die Tochter des hoch geachteten
ehemaligen Präsidenten Sukarno, vertreten wurden. Insbesondere
die Gründung der Intellektuellenorganisation ICMI verstärkte
diese Polarisierung. Für viele modernistische Muslime war
mit der Etablierung dieser Organisation der jahrzehntelangen
Unterdrückung durch säkularistisch orientierte, häufig christliche
Militärs, die mit sinoindonesischen, ebenfalls häufig christlichen
Industriebossen zusammenarbeiteten, ein Ende bereitet. Viele
ICMI-Mitglieder wollten eine "proportionale" - ihrem
prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechende
- Vertretung der orthodoxen Muslime im Militär, in der Verwaltung,
in den Ministerien und in der Regierungspartei Golkar erreichen.
Einige von ihnen hofften sogar darauf, die wirtschaftliche
Übermacht der Sinoindonesier zu brechen und die „Pribumi“,
die indigenen Indonesier, nach malaysischem Muster durch "affirmative
actions" zu ebenbürtigen Unternehmern zu machen. Doch nicht
alle muslimischen Führer waren bereit, sich ICMI anzuschließen.
Abdurrahman Wahid, der charismatische, hoch angesehene NU-Vorsitzende,
der als liberaler Intellektueller an der Spitze einer in vielen
Fragen konservativ-traditionalistischen Organisation ohnehin
eine Reizfigur war, warf ICMI "sektiererische" Absichten
vor. Er gründete das "Demokratieforum" (Forum Demokrasi),
das allerdings aufgrund dauernder Repressalien der Militärs
nie mehr als ein Intellektuellenzirkel war. Anders als ICMI
stellte das Forum die Demokratisierungsfrage in den Vordergrund
und nahm auch angesehene Nichtmuslime auf. Für Wahid[19] war ICMI eine
Organisation, die die ohnehin schon gespannten Beziehungen
zu den religiösen Minderheiten durch eine skripturalistisch-modernistische
Korandeutung noch weiter verschlechterte. Die von den Nicht-Santri
deutlich wahrgenommene Gefahr einer die Minderheiten diskriminierenden
Islamisierung sei mit ICMI größer geworden. Auch liberale
Muslime wie Johan Effendi, Aswab Mahasin und Nurcholish Majid
teilten einige dieser Vorbehalte. Der eigentliche Zweck von
ICMI war es - so meinten einige Kritiker - zu einer islamischen
Partei, einer Neo-Masyumi, zu werden. Von den Nichtmuslimen
in Indonesien wurde ICMI mit Argwohn betrachtet, weil es einen
Flügel in dieser Organisation gab, dessen Angehörige offen
von Kristenisasi, also der übermäßigen Besetzung von Machtpositionen
durch Christen sprachen. Für Suharto war ICMI in erster Linie ein weiteres Machtinstrument.
Er wollte seinen Forschungs- und Technologieminister Habibie
zu seinem Vizepräsidenten, vielleicht sogar zu seinem Nachfolger
aufbauen. Habibie war Herr über eine Reihe von Staatsunternehmen
(Flugzeugbau, Schiffbau, Munitionsherstellung etc.), verfügte
aber bis zu diesem Zeitpunkt nur über eine unzureichende Hausmacht.
Suharto machte ihn zum ICMI-Vorsitzenden und räumte ihm in
der Regierungspartei Golkar eine zentrale Stellung ein. Da
Anfang der 90er Jahre im Militär einige orthodoxe Muslime
(und Habibie-Vertraute) in höchste Ämter gelangten, stieg
auch Habibie in der Hierarchie immer weiter nach oben. 1993
konnten jene Militärs, die eine Zivilisierung und Islamisierung
befürchteten, noch die Ernennung des Forschungs- und Technologieministers
zum Vizepräsidenten verhindern. 1998 aber konnte die Habibie-Gruppe
die Wahl ihres Patrons zum Vizepräsidenten durchsetzen. Zu dieser
Zeit, im März 1998, befand sich Indonesien bereits in der
größten wirtschaftlichen und politischen Krise seit 1965.
Die Asienkrise hatte seit dem August 1997 zu einem Verfall
der Rupiah, zur Entlassung mehrerer Millionen Arbeiter und
zu zeitweise dreistelligen Inflationsraten geführt. Im Februar
1998 rief der Indonesische Ulama-Rat MUI (Majelis Ulama Indonesia)
zum Dschihad gegen Spekulanten und Waren hortende Geschäftsleute
- gemeint waren Sinoindonesier - auf. Außerdem forderte Suharto
einige Dutzend „Tycoons“ öffentlich auf, ihre im Ausland angelegten
Gelder nach Indonesien zu transferieren. Die aufgeheizte antichinesische
Stimmung begünstigte Plünderungen und Ausschreitungen in ganz
Indonesien.[20] Zur gleichen
Zeit versuchte der führende Militär und Suharto-Schwiegersohn
Prabowo, die Kontakte zu islamistischen Gruppen - darunter
die tendenziell fundamentalistische KISDI[21]-Gruppe
- auszubauen.[22]
Im Januar trafen sich 4.000 muslimische Aktivisten, u.a. von
KISDI und vom ebenfalls z.T. fundamentalistischen Dewan Dakwah
Islamiyah Indonesia[23],
mit mehreren Tausend Kopassus-Soldaten (der Sondereinsatztruppe
unter dem Befehl Prabowos) im Kopassus-Hauptquartier zu einem
Fest am Ende des Ramadan. Jene islamischen
Gruppen, die seit jeher eine ambivalente Haltung zur Neuen
Ordnung eingenommen hatten, zeigten sich auch in den ersten
Monaten des Jahres 1998 unschlüssig. Die NU war in der Phase
vor dem Sturz Suhartos (am 21.5.1998) gespalten. A. Wahid
z.B. wollte um fast jeden Preis die Präsidentschaft Habibies
verhindern. Nur ein Flügel um Generalsekretär Ahmad Bagdja,
der von NU-Studentenorganisationen bestärkt wurde, scheint
die Demokratiebewegung deutlich unterstützt zu haben. Im April
forderte die NU die Streitkräfte auf, die Reformen zu unterstützen,
aber erst am 15. Mai gab es Verlautbarungen aus der NU-Zentrale,
wonach der von Suharto erwogene Rücktritt begrüßt wurde. Sogar
noch am 19. Mai soll Wahid bei dem Treffen der islamischen
Führer mit dem noch amtierenden Präsidenten die halbherzigen
Reformpläne Suhartos gebilligt haben.[24] Der Amien-Rais-Flügel
von Muhammadiyah war demgegenüber deutlich auf Seiten der
Demokratiebewegung, wenngleich auch Rais der Wiederwahl Suhartos
zum Präsidenten im März 1998 schweren Herzens zustimmte. Seit
er Ende 1997 von Suharto aus einer Führungsposition bei ICMI
gedrängt worden war, hatte er sich an die Spitze der Reformbewegung
gesetzt. Im Gegensatz zu A. Wahid und eher noch als die zurückhaltend
auftretende Megawati Sukarnoputri wurde er zum Idol der Studentenbewegung.
Nach einem Bericht des Magazins D&R im September 1998
soll Suharto sogar einen Mordanschlag auf Rais erwogen haben. Der ICMI-Generalsekretär
Adi Sasono trat schon im Januar mit dem Plan, einen "Nationalen
Dialog" zu führen, an die Öffentlichkeit. Die damit angestrebte
informelle Allianz zwischen A. Rais, Megawati und A. Wahid
scheiterte aber am Widerstand Wahids. Als sich abzeichnete,
dass Habibie Vizepräsident werden würde, hielten sich die
kritischen ICMI-Mitglieder wieder etwas stärker zurück. Unter
der Führung von Ahmad Tirtosudiro und Adi Sasono emanzipierte
sich ICMI aber nach der Wahl Habibies zunehmend von ihrem
Patron. Tirtosudiro forderte eine Sondersitzung des Volkskongresses
(MPR), und die ICMI-Führung sprach von einer politischen Krise
und kritisierte die bisherigen Reformvorschläge der Regierung
als vage und verspätet. Zuletzt
waren es neun von Suharto zu einem Gespräch eingeladene islamische
Führer, unter ihnen insbesondere der neomodernistische[25]
muslimische Intellektuelle Nurcholish Majid, die den Präsidenten
davon überzeugten, dass er keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung
hatte.[26] Der Islam nach dem Sturz Suhartos Mit dem
Sturz Suhartos und der Ernennung Habibies zu seinem Nachfolger
setzte am 21. bzw. 22. Mai 1998 eine Übergangsphase ein, in
der Habibie und sein neues mit Gefolgsleuten besetztes Kabinett
notgedrungen eine Reihe von Reformen durchführten. Sie wurden
vom Flügel um Militärkommandeur Wiranto, der sich gegen den
reaktionären Prabowo-Flügel durchgesetzt hatte, unterstützt.
Sowohl die internationalen Kapitalgeber als auch die außerparlamentarische
Opposition, also vor allem die jederzeit zu Protestaktionen
bereiten Studenten und die sich schon seit dem Mai 1998 neu
konstituierenden politischen Parteien, waren in der Lage,
den Liberalisierungskurs der neuen Regierung und der noch
amtierenden Parlamentarier wesentlich mitzubestimmen. Obwohl die
neu entstehenden Parteien verpflichtet waren, sich zu den
Pancasila als einziger Grundlage zu bekennen, beriefen sich
einige wie die PBB (Partai Bintang Bulan = Partei des Halbmondes),
die PPP (Partai Persatuan Pembangunan = Vereinigte Entwicklungspartei)
und die PK (Partai Keadilan = Gerechtigkeitspartei) unmittelbar
auf den Islam. Andere Parteien, obschon sie deutlich erkennbare
islamische Wurzeln hatten, öffneten sich explizit auch für
Nichtmuslime. Zu ihnen gehörten die von Abdurrahman Wahid
dominierte NU-Partei PKB (Partai Kebangkitan Bangsa = Partei
des Volkserwachens) sowie die PAN (Partai Amanat Nasional
= Partei des Nationalen Mandats) unter dem Vorsitz von Amien
Rais. Von 141 neu gegründeten Parteien waren etwa 40 islamisch.
Von den zu den Wahlen zugelassenen 48 Parteien waren es 20. In der Gerechtigkeitspartei
PK verbinden sich ausgesprochen demokratische Grundüberzeugungen
mit Vorstellungen von einem tugendhaften Leben gemäß rigide
interpretierter islamischer Lehren. So vermeiden Männer und
Frauen in dieser Partei jeglichen Körperkontakt. Diese Rückkehr
zu den (vermeintlichen) Ursprüngen der islamischen Gemeinschaft
bedeutet jedoch keine Abkehr von Wissenschaft und Rationalität.
Der Parteivorsitzende ist promovierter Agrarwissenschaftler. Die Partei
des Halbmondes PBB ist eine modernistische Partei, die sich
für eine Islamisierung der Gesellschaft einsetzt. Für eine
solche Islamisierung wird die Benachteiligung anderer religiöser
Gemeinschaften in Kauf genommen. Politische Maßnahmen werden
ausdrücklich unter Berufung auf die islamische Lehre begründet.
Ähnlich ist die Haltung der Vereinigten Entwicklungspartei
PPP, die bereits seit 1973 existiert und in der Neuen Ordnung
zu den drei legalen Parteien gehörte. Sie war
früher von den Modernisten beherrscht (weshalb die NU 1984
aus der PPP austrat), öffnete sich aber mit der Wahl von Hamzah
Haz, einem NU-Mitglied, zum Parteivorsitzenden stärker den
Traditionalisten. Auch die bisherige Regierungspartei Golkar,
die nach dem Mai 1998 zu einer Partei von vielen wurde, näherte
sich stärker dem modernistischen Lager.[27] Die Partei
des nationalen Mandats PAN ist die Partei von Amien Rais,
dem populärsten islamischen Modernisten, der bis 1998 Vorsitzender
der 28 Millionen Mitglieder zählenden Muhammadiyah war. Er
verfolgte lange ähnliche politische Ziele wie die meisten
PBB- und PPP-Mitglieder. Beide Parteien wollten ihn anfänglich
sogar aufnehmen. Rais entschied sich aber dann dafür, eine
eigene Partei zu gründen und sich auch der nichtmuslimischen
Wählerschaft zu öffnen.[28]
Die PAN,
die PBB, die PPP und die PK gelten als überwiegend modernistische
Parteien. Das modernistische Lager war also anders als 1955,
als der Masyumi über 20% der Stimmen auf sich vereinigen konnte,
gespalten. Die Traditionalisten im Umfeld der Nahdatul Ulama
hingegen wurden vorrangig von der Partei des Volkserwachens
PKB repräsentiert. Die von der Habibie-Regierung gewährte
Versammlungs-, Assoziations- und Pressefreiheit führte innerhalb
weniger Wochen zu einer Aktivierung der jahrzehntelang zum
Schweigen verurteilten Zivilgesellschaft. Dennoch war die
Neue Ordnung noch nicht beseitigt. Nur wenige der besonders
korrupten und Suharto-nahen Angehörigen der alten Machteliten
wurden ausgewechselt. Selbst die große Mehrheit der Parlamentarier,
die in der Zeit des Suharto-Regimes die Politik der Regierung
abgesegnet hatten, konnte vorerst im Parlament bleiben. Es
ergab sich also eine seltsame Auseinandersetzung zwischen
den noch amtierenden Status-quo-Kräften, die notgedrungen
Reformen verabschieden mussten, und den in diese Ämter drängenden
Mitgliedern der neu gegründeten Parteien. Erst mit den Beschlüssen
des Volkskongresses (MPR)[29]
- eines zweiten Parlamentes, das den Präsidenten wählt und
über Verfassungsänderungen beschließt - im November 1998 und
mit den vom nationalen Parlament (DPR)[30] im Januar
1999 verabschiedeten neuen Gesetzen war der Weg zu nationalen
Wahlen endgültig frei.
Diese Wahlen im Juni 1999, die von indonesischen
und internationalen Wahlbeobachterorganisationen als im Wesentlichen
fair und frei eingestuft wurden, bestätigten die Machtsteigerung
der islamischen Gruppierungen und Parteien. Von den sieben Parteien mit dem größten Stimmenanteil
sind fünf muslimisch. Die meisten Stimmen unter ihnen erhielt
die traditionalistische PKB (12,6%, 51 Parlamentssitze), gefolgt
von den eher modernistischen Parteien PPP (10,7%, 58 Sitze),
der PAN (7,1%, 34 Sitze), der PBB (1,9%, 13 Sitze) und der
PK (1,4%, 7 Sitze). Die beiden mit großem Abstand stärksten
Parteien im nationalen Parlament sind aber die PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan = Demokratische
Partei Indonesien - Kampf, mit 153 Sitzen bei 33,8% der Stimmen), die von der Sukarno-Tochter
Megawati Sukarnoputri geführt wird, und das ehemalige Vehikel
der Neuen Ordnung, die Partai Golkar (22,5%, 120 Sitze). Die
PDI-P, die auch von vielen Nichtmuslimen gewählt wird, und
Golkar sind tendenziell säkularistisch orientiert und gegen
eine Politisierung der Religion. Die Wahl des neuen Präsidenten Nach den
Wahlen vom Juni 1999, vor allem aber nach Bekanntgabe der
Wahlergebnisse und der Neukonstituierung des nationalen Parlaments
(DPR), begannen die informellen Verhandlungen über die Zusammenarbeit
bei der Präsidentenwahl. Zunächst war die Frage, ob sich Megawati
(PDI-P) gegen Habibie (Golkar) durchsetzen könnte. Amien Rais,
der eine der populärsten Politiker in Indonesien war und bei
einer Direktwahl des Präsidenten sicherlich wesentlich besser
abgeschnitten hätte als seine eigene Partei, war plötzlich
ebenso ins zweite Glied gerückt wie der gebrechliche, fast
blinde NU-Führer Abdurrahman Wahid. Megawati galt als die
strahlende Siegerin und als die aussichtsreichste Kandidatin
für den Präsidentschaftsposten. Die orthodoxen
Muslime im Volkskongress verband das Interesse an einer wie
auch immer gearteten Islamisierung der indonesischen Gesellschaft.
Sie bildeten deshalb eine lockere Koalition, die den Namen
„poros tengah“ (Mittelachse) erhielt. Die "Mittelachse"
bestand aus den modernistischen Parteien PAN, PKB, PBB und
PK sowie kleineren Parteien. Ihnen standen die Kräfte um Megawatis
PDI-P gegenüber, die etwa über so viele Stimmen im Volkskongress
verfügte wie die poros tengah. Mit dieser Blockbildung war
eine Konstante der indonesischen Politik im 20. Jahrhundert
wieder sichtbar geworden - die Auseinandersetzung zwischen
orthodoxen Muslimen und solchen Gruppierungen, die der Religion
im politischen Bereich keine wichtige Funktion zumessen und
die Gleichberechtigung der in den Pancasila aufgeführten Religionen
und ihrer Anhänger hervorheben. Da weder
die poros tengah noch die Megawati-Anhänger über genügend
Stimmen verfügten, konnte sich überraschend der liberale Muslimführer
Abdurrahman Wahid, unterstützt von der poros tengah, durchsetzen.
Am 20. Oktober 1999 wählte der Volkskongress Wahid mit 373
zu 313 Stimmen zum vierten Präsidenten der Republik Indonesien.
Damit setzte sich eine große Koalition muslimischer Parteien
mit Unterstützung der Konservativen, einem dritten Lager im
Parlament, gegen die säkular-nationalistischen Megawati-Anhänger
durch. Für viele Muslime war eben eine Frau im höchsten Staatsamt
undenkbar, zumal sie nicht als orthodoxe Muslimin galt. A.M.
Saefuddin, ein hoch angesehener PPP-Politiker, Minister im
Habibie-Kabinett und lange möglicher Präsidentschaftskandidat
seiner Partei, bezeichnete Megawati während des Wahlkampfes
sogar als Hinduistin, weil sie an einer hinduistischen Zeremonie
in Bali teilgenommen hatte. Megawati wurde aber von den orthodoxen
Muslimen vor allem unter Verweis auf ihr Geschlecht die Fähigkeit
zur Führung des Landes abgesprochen.[31]
Mehrere Spitzenpolitiker und führende Organisationen beriefen
sich auf den Koran und meinten, dass eine Frau nicht Präsidentin
in einem mehrheitlich muslimischen Land werden könne. Selbst
A. Wahid, der sich in den Wochen vor den Präsidentschaftswahlen
als intriganter Machtpolitiker erwies, äußerte sich - anders
als in all den Jahren zuvor - in diesem Sinne. Nach den
Wahlen ergaben sich im nationalen Parlament (und damit auch
im ähnlich zusammengesetzten Volkskongress) zwei Konfliktlinien,
an denen sich die politischen Auseinandersetzungen zunehmend
orientierten. Zum einen war es der Gegensatz zwischen den
konservativen oder gar reaktionären Kräften (große Teile Golkars,
die Militär/Polizei-Fraktion, Teile der muslimischen Parteien,
insbesondere der PPP und der PBB) und den prodemokratischen
Kräften, zum anderen der zwischen den muslimischen und den
nichtmuslimischen Parteien. Berücksichtigt man, dass es auch
in der Militär/Polizei-Fraktion, besonders in der Partai Golkar
und - weniger deutlich - in der PDI-P muslimische Flügel gibt,
ist eine einfache Gegenüberstellung von muslimischen und nichtmuslimischen
Parteien aber nicht möglich. Außerdem spalten sich die muslimischen
Parteien in traditionalistische und modernistisch orientierte
auf, und für die dominierenden Flügel der PAN und der PKB
ist in vielen Politikbereichen eine Demokratisierung Indonesiens
und eine Entmachtung der alten Regimekoalition wichtiger als
eine Stärkung des Islam.[32] Neuere Entwicklungen in der Ära Abdurrahman Wahid Indonesien
befindet sich gegenwärtig in einem turbulenten Übergang vom
Autoritarismus zur parlamentarischen Demokratie. Das Land
wurde am stärksten und nachhaltigsten von der Asienkrise getroffen,
und noch immer zeigen einige der wichtigsten ökonomischen
Indikatoren (Pro-Kopf-Einkommen, Armutsquote, Arbeitslosenrate,
Investitionsvolumen, Außenhandelsvolumen etc.), dass das Niveau
des Jahres 1997 noch längst nicht wieder erreicht ist. Indonesien,
das vor wenigen Jahren von einigen Beobachtern als Schwellenland
beschrieben wurde, ist im Moment wieder zu den Niedrigeinkommensländern
zu rechnen. Trotzdem
ist der Inselstaat heute wesentlich offener und demokratischer
als vor ein paar Jahren. Eine lebhafte und kritische Presse
übernimmt ihre Funktion als "vierte Gewalt" und
die wichtigsten Grund- und Menschenrechte werden seit dem
August 2000 zumindest verfassungsrechtlich anerkannt.[33]
Nach den weitgehend freien und fairen Wahlen beginnen die
neuen Parlamente ihre genuinen Funktionen zu erfüllen. Allerdings
existieren viele der alten Netzwerke und Mechanismen noch.
Die alten Konglomerate, deren meist sinoindonesischen Bosse
von dem Korruptionssystem profitierten, werden jetzt mit Steuergeldern
vor dem Konkurs gerettet, um eine Verschärfung der wirtschaftlichen
Krise zu verhindern. Die jahrzehntelange Militärherrschaft
hat zur Bildung informeller, nepotistischer Abhängigkeitsbeziehungen
und zur Unterminierung des ohnehin kaum entwickelten Rechtssystems
beigetragen. Das Militär hat sich nur zögerlich und halbherzig
von der Doktrin der Doppelfunktion (dwifungsi) distanziert
und eine wirkliche Beendigung dieser alle gesellschaftlichen
Bereiche einbeziehenden zweiten, "soziopolitischen"
Funktion ist mittelfristig, d.h. in den nächsten zehn Jahren,
nicht zu erwarten. Besonders einige Gebiete außerhalb Javas
wie Aceh, Timor, Papua und die Molukken werden immer noch
vom Militär und von paramilitärischen Banden beherrscht. Es hat also
kein umfassender Elitenwechsel stattgefunden. In dem ersten
Kabinett, das A. Wahid im Oktober 1999 zusammenstellte, wurden
einige Militärs, Vertreter Golkars, Führer der muslimischen
Parteien und Mitglieder der PDI-P berücksichtigt. Megawati
hat als Vizepräsidentin keine deutlich formulierten Rechte,
ist aber als mögliche Nachfolgerin Wahids weiterhin eine der
wichtigsten Persönlichkeiten. Der Zwang zur Rücksichtnahme
auf die konservativen Kräfte, z.T. auch die eigene Verstrickung
in das Macht- und Korruptionssystem der Neuen Ordnung, lähmen
den Reformprozess. Die Muslime - sowohl die Traditionalisten
als auch die Modernisten - gehören häufig selbst zu den Blockierern.
Das beste Beispiel dafür ist der Umgang mit der eigenen Vergangenheit.
Während viele Muslime vehement für die Aufdeckung verschiedener,
vom Militär begangener Massaker - etwa das an Dutzenden, vielleicht
Hunderten demonstrierenden Muslimen in Jakarta (Tanjung Priok)
im Jahre 1984 - eintreten, wehren sie sich gegen eine Aufdeckung
der Ereignisse in den Jahren 1965/66. Damals wurden mehrere
Hunderttausend wirkliche und vermeintliche Kommunisten von
Militärs und islamischen Paramilitärs in einem Blutrausch
niedergemetzelt. Als A. Wahid
die Aufhebung eines Dekretes, das die kommunistische
Partei und die Verbreitung kommunistischen Gedankengutes verbietet,[34]
forderte, stieß er auf den erbitterten Widerstand der Konservativen
und der meisten Muslime.[35] Muslime haben in der parlamentarischen Demokratie zusätzliche Anreize erhalten, den politischen Diskurs zu islamisieren, d.h. verstärkt auf islamische Moralbegriffe und Politikkonzepte zurückzugreifen. Anhänger eines politisierten Islam bzw. einer islamisierten Politik streben danach, die Sonderstellung des Islam zu institutionalisieren. So wurden während der Sitzung des Volkskongresses im August 2000 wieder Stimmen laut, die 1945 zwischen Nationalisten und Islamisten ausgehandelte Jakarta-Charta in die Verfassung aufzunehmen. Dabei betonten führende Vertreter der PBB und der PPP, dass ein solcher Zusatz nur natürlich sei, da etwa 90% der Indonesier Muslime seien. Außerdem unterstrichen sie, dass ihre Absichten nicht sektiererisch seien, da gerade die Aufnahme der Jakarta-Charta eine jahrzehntelange Debatte beenden und religiöse Konflikte mildern würde. Die größten Fraktionen im Parlament lehnten den Vorschlag jedoch ab. Immer wieder
kommt es zu hitzigen politischen Debatten zwischen Islamisten
und ihren Widersachern. Es fällt auf, dass diese Auseinandersetzungen
sehr häufig nicht die zentralen Entscheidungen, die die Zukunft
des Landes wesentlich bestimmen, betreffen. Eine fundierte
alternative Wirtschafts- und Finanzpolitik z.B. haben die
Islamisten nicht formuliert. Meistens geht es um politische
Fragen von sekundärer Bedeutung: Darf eine Frau Präsidentin
werden? Soll Indonesien Handelsbeziehungen zu Israel aufnehmen?
Wie ist mit dem japanischen Hersteller eines Geschmacksverstärkers
zu verfahren, der bei der Produktion ein Schweine-Extrakt
verwendet hat? Man gewinnt bei solchen mit großer Vehemenz
geführten politischen Kämpfen den Eindruck, dass der Islam
häufig für eine ganz irdische Machtpolitik instrumentalisiert
wird. Besonders
die kleineren muslimischen Parteien - die PPP, die PBB, die
PK und zum Teil die PAN - zeigen sich ambivalent im Umgang
mit radikal-islamistischen Gruppierungen. Ein Beispiel dafür
ist die Reaktion auf den blutigen Konflikt zwischen Christen
und Muslimen auf den Molukken, insbesondere auf Ambon.[36] Bei einem Treffen von Zehntausenden Muslimen Anfang
2000 in Jakarta - unter ihnen befanden sich viele radikale,
gewaltbereite Islamisten - bei dem zum Dschihad aufgerufen
wurde, war u.a. auch der PAN-Vorsitzende Amien Rais anwesend.
Rais distanzierte sich auch in späteren Interviews nicht von
diesem Treffen und benutzte den Dschihad-Begriff bewusst mehrdeutig.[37] Er machte
vor kurzem für die Krise in den Molukken sogar zionistische
Einflüsse verantwortlich.[38] Es kursieren
immer noch viele solcher Verschwörungstheorien, wonach die
Konflikte in den Molukken, in Papua und in Aceh[39]
auf das Wirken irgendwelcher äußerer Mächte zurückzuführen
sind. Mehrfach tat sich Verteidigungsminister Mahfud MD mit
aggressiven antiamerikanischen Äußerungen hervor. Die Amerikaner
schlossen auf dem Höhepunkt der Krise eine Zeit lang ihre
Botschaft und rieten ihren Landsleuten von einem Indonesienaufenthalt
ab, da muslimische Fundamentalisten etwa in Solo (Mitteljava)
Hotels nach amerikanischen Touristen absuchten. In dieser
aufgeheizten Stimmung bekommen radikale Gruppierungen, die
einen Islamstaat Indonesien (Negara Islam Indonesia, NII)
fordern, Oberwasser.[40]
So wurden mehrere Tausend Mitglieder der Front Pembela Islam
(FPI), der Front der Verteidiger des Islam, auf die Molukken
entsandt, um sich auf Seiten ihrer Glaubensbrüder am Bürgerkrieg
zu beteiligen. Da das Militär und die in Bedrängnis geratenen
Reaktionäre an einer Destabilisierung der parlamentarischen
Demokratie interessiert sind, gibt es zahlreiche Spekulationen
über eine Finanzierung der FPI durch Teile des Militärs oder
gar durch die mit Suharto immer noch verbundenen Gruppierungen.
Die FPI,
die allein in Jakarta mehrere Zehntausend Mitglieder in militärisch
organisierten Gruppen haben soll, wird auch für Überfälle
auf Vergnügungsstätten verantwortlich gemacht. Und als im
Oktober 2000 während der neuerlich ausgebrochenen Straßenkämpfe
zwischen Israelis und Palästinensern eine internationale Konferenz
von Parlamentariern in Jakarta stattfand, drohte die Front
damit, die Mitglieder der israelischen Delegation umzubringen.
Der FPI-Anführer Riza Pahlevi kündigte sogar an, die Hotels
in Jakarta nach Israelis absuchen zu lassen. Daraufhin mussten
die israelischen Delegierten ihren Besuch absagen. Viele muslimische
Parlamentarier distanzieren sich zwar vom Terror der FPI,
sind aber nicht bereit, die Front in toto zu verurteilen. Das Beispiel
Israel zeigt, dass Wahid in seiner Außenpolitik darauf achten
muss, dass er den Islamisten keine Angriffsfläche bietet.
Seine Annäherung an die "Schurkenstaaten" Irak und
Libyen[41] könnte eine Strategie
sein, um seine innenpolitischen Gegner zu beruhigen. Die Irak-
und Libyen-Politik, die von den USA mit Missbehagen beobachtet
wird, dürfte auch die extremen Nationalisten zufrieden stellen.[42] Fazit Bei der Einführung der islamischen Lehre
entwickelte sich im Laufe mehrerer Jahrhunderte ein Gegensatz
zwischen synkretistischen und orthodoxen Muslimen, zwischen
Abangan und Santri. Die Santri spalteten sich seit Anfang
des 20. Jahrhunderts zunehmend in Modernisten und Traditionalisten.
Diese Brüche lassen sich auch gegenwärtig in Indonesien beobachten.
Im politischen Bereich ist heute aber insbesondere die Auseinandersetzung
zwischen Säkularisten, das sind Nicht-Muslime, die
große Mehrheit der Abangan, viele NU-Traditionalisten, aber
auch die Mehrheit der Modernisten, und Islamisten (die
meisten von ihnen sind Modernisten) von Bedeutung. Bei den
Islamisten sind moderate, prodemokratische von antidemokratischen,
häufig gewaltbereiten zu unterscheiden.
In der Zeit von 1950-57, in der ersten parlamentarischen
Demokratie, entwickelten sich drei die indonesische Politik
prägende Hauptkonflikte: Nämlich der zwischen zivilen und
militärischen, zwischen säkularistischen und islamistischen
sowie zwischen kommunistischen und antikommunistischen Gruppen.
Durch den Autoritarismus der Gelenkten Demokratie und der
Neuen Ordnung wurden die Islamisten (seit 1965 auch die Kommunisten)
ausgeschaltet. Allerdings näherte sich das Suharto-Regime
seit Ende der 80er Jahre wieder den Vertretern eines politisch
verstandenen Islam an. Der Hauptkonflikt bis 1998 war aber
jener zwischen dem Regime und den prodemokratischen Kräften.
Seit dem Sturz Suhartos sind zwei Lagerbildungen von essentieller
Bedeutung: Nämlich die zwischen den Demokraten und den Reaktionären
sowie die zwischen Säkularisten und Islamisten. Wenn sich die parlamentarische Demokratie
in den nächsten Jahren konsolidieren sollte, wäre eine Mäßigung
der radikalen Gruppierungen, vor allem aber der im Parlament
vertretenen islamischen Parteien, denkbar. Einiges deutet
sogar darauf hin, dass die Faktionen in den muslimischen Parteien,
die bereit sind, Megawati zu unterstützen, wegen der Enttäuschung
über den inkonsistenten Regierungsstil Wahids größer werden.[43] Es bleibt
zu bedenken, dass die große Mehrheit der indonesischen Muslime
nicht an der Errichtung eines Islamstaates interessiert ist.
Sollte aber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten die
sezessionistischen Bewegungen und die Kämpfe in den Molukken
eine weitere politische Destabilisierung bewirken, könnte
eine allgemeine Auflösung der Staatsgewalt die islamistischen
Kräfte stärken. Es könnte dann zu einer Koalition zwischen
Islamisten und reaktionären Gruppen kommen. Diese Koalition
bahnte sich bereits seit Ende der 80er Jahre an. Prabowo radikalisierte
die Zusammenarbeit Anfang 1998, und im November 1998 führte
sie zu dem Pam-Swakarsa-Einsatz gegen demonstrierende Studenten
in Jakarta. Gegenwärtig arbeiten u.a. die Front Pembela Islam
und die Laskar Jihad - wahrscheinlich finanziert von den Reaktionären
- an der Wiedererrichtung eines autoritären, die islamistischen
Gruppierungen privilegierenden Regimes.
[1] Teile dieses Aufsatzes überschneiden
sich mit einzelnen Passagen meiner Dissertation: Ufen, A.
(2001): Herrschaftsfiguration und Demokratisierung in
Indonesien (1965-2000); Hamburg, i.E. Die beste neuere
Darstellung der Entwicklung des indonesischen Islam bis
1998: Hefner, R.W. (2000): Civil Islam: Muslims and democratization
in Indonesia; Princeton, New Jersey. [2] Anderson, B.R.O'G (1972): "The Idea of Power in Javanese Culture";
in: Holt, C. (Hg.): Culture and Politics in Indonesia;
Ithaca, S.1-69; hier S. 59. [3] Zum besseren Verständnis des
indonesischen Islam unterscheidet man im Anschluss an Clifford
Geertz (Geertz 1960:
The Religion of Java; London) zwischen
den orthodoxen Muslimen, den Santri, und den synkretistischen
Muslimen, den Abangan. Die - häufig kleinbäuerlichen - Abangan
glauben an javanische Götter meist indischen Ursprungs (nach
einer Berechnung waren es Ende des 19. Jahrhundert über
1000), an eine Unzahl von Geistern und an die magischen
Kräfte von „dukun“, die als Zauberer, Hexer, Medizinmänner
und/oder Wahrsager auftreten.
[4] Geertz, C. (1991): Religiöse
Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien;
Frankfurt/Main; hier S.100ff. [5] Majelis Islam A'la Indonesia. [6] Majelis Syuro Muslimin Indonesia = Konsultativrat der Indonesischen Muslime. [7] Die Jakarta-Charta ist bis
heute in ihrem Gehalt umstritten. Der Kernsatz "dengan
kewajiban menjalankan syari'at Islam bagi pemeluk-pemeluknya"
bedeutet in der Übersetzung: "mit der Verpflichtung
für die Muslime, die Scharia auszuführen/anzuwenden". [8] Zu den fünf Prinzipien der
Staatsphilosophie, den Pancasila, zählen: der Glaube an
den Alleinigen Gott (Ketuhanan Yang Maha Esa); die gerechte
und zivilisierte Menschlichkeit (Kemanusiaan yang adil dan
beradab); die Einheit Indonesiens (Persatuan Indonesia);
die weise geführte Demokratie, beruhend auf allgemeiner
Beratung und Volksvertretung (Kerakyatan yang dipimpin oleh
hikmat kebijaksanaan dalam permusyawaratan/perwakilan) und
die soziale Gerechtigkeit für das gesamte indonesische Volk
(Keadilan sosial bagi seluruh rakyat Indonesia); vgl. Wandelt,
I. (1989): Der Weg zum Pancasila-Menschen; Frankfurt/Main
[usw.]. [9] Ramage, D. E. (1995): Politics in Indonesia: Democracy, Islam and the
Ideology of Tolerance; London; hier S.16f. [10] Vor den Wahlen hatte sich
der Gegensatz zwischen den Traditionalisten der NU (die
sich Anfang der 50er Jahre aus dem Masyumi zurückgezogen
und eine eigene Partei gegründet hatte) und den beim Masyumi
bleibenden Modernisten wieder etwas verstärkt. [11] Sukarno bezeichnete diese
Allianz mit dem Akronym "Nasakom". Die drei Silben
stehen für Nationalismus (Nasionalisme), Religion
(agama) und Kommunismus (komunisme). [12] Hinter dem Konzept der funktionalen
Gruppen verbirgt sich die auch vom ehemaligen Präsidenten
Sukarno propagierte Ideologie, wonach in einer wirtschaftlich
unterentwickelten Gesellschaft wie der indonesischen, in
der sich noch keine Klassenstrukturen gebildet haben, gerechte
Entscheidungen unter Berücksichtigung sämtlicher Interessengruppen
getroffen werden können. Die funktionalen Gruppen (Frauen,
Jugendliche, Lehrer, Ärzte usw.) unterscheiden sich nicht
aufgrund ihrer Klassenlage voneinander, sondern aufgrund
ihrer Funktion in der arbeitsteiligen Gesellschaft. Golkar
nahm für sich in Anspruch, alle wichtigen gesellschaftlichen
Gruppen angemessen zu repräsentieren. [13] Es gibt Staaten, deren Rechtssysteme
auf islamischem Recht, der Scharia, aufbauen und deren politische
Gremien in ihrer Struktur und ihren Entscheidungsbefugnissen
ausdrücklich von dieser Scharia abgeleitet sind. Andere
Staaten erheben den Islam zur Staatsreligion, sind aber
fast vollständig säkularisiert. In der Orde Baru (Neuen
Ordnung) waren durch die Pancasila mehrere monotheistische
Religionen als gleichberechtigt anerkannt. Das waren neben
dem Islam der Protestantismus, der Katholizismus, der Buddhismus
und der Hinduismus. Indonesien ist somit ein de facto weitgehend
säkularisierter Sondertypus. [14] Vgl. Tibi, B. (1991): Die
Krise des modernen Islams - Eine vorindustrielle Kultur
im wissenschaftlich-technischen Zeitalter; Frankfurt/Main.
In Indonesien sind die orthodoxen, konservativen Muslime
i.d.R. antiwestlich eingestellt. Diese Haltung richtet sich
besonders gegen den vermeintlich unmoralischen Lebenswandel,
gegen den angeblich besonders brutalen Kapitalismus und
gegen die "Gottlosigkeit" in den westlichen Ländern.
In Indonesien konnte islamische Orthodoxie aber auch ein
Zeichen der Opposition gegen das - zumindest teilweise "verwestlichte"
- Suharto-Regime sein. [15] Deswegen wird häufig von „neo-Santri“
gesprochen, vgl. Hefner 2000, 105 und 119. Aus der umfangreichen
Literatur zu diesem Thema sei nur erwähnt: Hasbullah, M.
(2000): "Cultural Presentation of the Muslim Middle
Class in Contemporary Indonesia"; in: Studia Islamika.
Indonesian Journal for Islamic
Studies; Vol. 7, no. 2, S.1-57. [16] Thaba, A.A. (1996): Islam dan negara dalam politik Orde Baru (1966-1994);
Jakarta; S.278ff. [17] Auch im Volkskongress MPR (Majelis Permusyawaratan Rakyat) wurde Golkar
seit 1993 zunehmend durch bekannte und geachtete islamische
Führer bzw. Intellektuelle vertreten (siehe: Mas'oed, M./Arfani,
R.N. (1994): "SU-MPR dan Pembentukan Kabinet VI";
in: Profil Indonesia, Jurnal Tahunan CIDES, No.1,
Jakarta ). [18] Wahid ist Enkel des NU-Gründers und Sohn eines ehemaligen Religionsministers.
Er wurde 1940 im ostjavanischen Jombang geboren. 1959-63
unterrichtete er dort an einer Madrasah (islamische Schule).
Von 1964 bis 1970 studierte an der al-Azhar-Universität
in Kairo (zwei Jahre) und an der Universität von Bagdad
(vier Jahre). Er arbeitete als Dekan der Theologie-Fakultät
der kleinen Hasyim-Asyari-Universität in Jombang und als
Generalsekretär eines Islaminternates. Er war außerdem als
Kolumnist und als Berater im NGO-Bereich tätig. 1984 wurde
er Vorsitzender der NU. [19] Wahid, A. (1995): "Intelektual
di Tengah Eksklusivisme"; in: Ali-Fauzi, N. (Hg.):
ICMI - Antara Status Quo dan Demokratisasi; Bandung;
S.70-75. [20] Sidel, J.T. (1998): "Macet Total: Logics of Circulation and Accumulation
in the Demise of Indonesia's New Order"; in: Indonesia
66; S.159-194; hier S.182ff. [21] KISDI = Komite Indonesia untuk
Solidaritas Dunia Islam = Indonesisches Komitee für die
Solidarität der Islamischen Welt; gegründet 1990 von Moh.
Natsir mit Unterstützung von K.H. Abdul Rosyid, H. Husein
Umar, H.A. Sumargono. [22] Far Eastern Economic Review, 12.2.1998.
[23] Indonesischer Rat für islamische
Missionierung. [24] Vgl.: Mietzner, M. (1998): "Between pesantren and palace:
Nahdlatul Ulama and its role in the transition"; in:
Forrester, G./May, R.J. (Hg.): The fall of Soeharto;
Bathurst und London, S.179-199. [25] Zum Neomodernismus, einer spezifisch indonesischen, liberalen Verknüpfung
modernistischer und traditionalistischer Denkfiguren: Barton,
G. (1995): "Neo-Modernism: A Vital Synthesis of Traditionalist
and Modernist Islamic Thought in Indonesia"; in: Studia
Islamika; Vol.2, No.3; S.1-75. [26] Eine detailliertere Darstellung
der jüngsten Ereignisse findet sich in: Ufen, A.: "Grundzüge
der politischen Entwicklung in Indonesien von 1997-2000";
in: Südostasien aktuell 4/2000, 5/2000, 6/2000 und
1/2001. [27] Die Militärs, die lange Golkar
beherrscht und in den 90er Jahren zumindest noch im Hintergrund
von Bedeutung waren, zogen sich aus der Partei mehr und
mehr zurück. Die Suharto-Familie wurde entmachtet, und beim
Parteikongress im Juli 1998, bei dem die Weichen für die
nächsten Jahre gestellt wurden, konnte sich der Flügel um
Habibie und Akbar Tanjung (beide gelten als modernistische
Muslime) gegen einen nationalistisch, Pancasila-orientierten
Flügel um Ex-General Edi Sudrajat durchsetzen. [28] Manche Beobachter interpretierten
das als den Versuch, Sinoindonesier als Finanziers zu gewinnen. [29] Während die in der Mehrheit
eher konservativen Parlamentarier über die Gesetzesänderungen
berieten, kam es unweit des Parlamentsgeländes zu bürgerkriegsähnlichen
Kämpfen zwischen Sicherheitskräften, demonstrierenden Studenten
und so genannten Pam-Swakarsa-Truppen (Pengamanan Swakarsa
= autonome Sicherheitskräfte). Die etwa 100.000-125.000-Mann
starken Truppen bestanden aus muslimischen Jugendlichen,
die leicht bewaffnet waren und die Aufgabe hatten, den Volkskongress
vor den Protesten der Studenten zu schützen. [30] Dewan Perwakilan Rakyat. [31] Vgl.: Platzdasch, B. (2000): "Islamic Reaction
to a Female President"; in: Manning, C. / van Diermen,
P. (Hg.): Indonesia in transition: social aspects of
reformasi and crisis; Singapore; S.336-350. [32] Die PKB-Fraktion hat anfänglich
sogar Megawati bei den Präsidentschaftswahlen unterstützen
wollen. Erst im letzten Moment wurde sie aber auf Abdurrahman
Wahid eingeschworen. [33] Eine kritische Auseinandersetzung
mit der Menschenrechtspolitik der letzten Jahre findet sich
bei: Beittinger, V. (2001): "Indonesiens Reformregierungen
und die Menschenrechte: Anspruch und Realität"; in:
Hasse, J./Müller, E./Schneider, P.: Menschenrechte, Baden-Baden,
i.E. [34] Und das, obwohl die Jugendorganisation
der NU selbst zusammen mit Militäreinheiten an den Massakern
beteiligt gewesen war. [35] Eine Umfrage der Zeitschrift
Tempo enthüllte, dass die Mehrheit der indonesischen
Bevölkerung immer noch die offizielle Version des Suharto-Regimes
vom Machtwechsel von Sukarno zu Suharto für bare Münze nimmt.
Danach wollte die kommunistische Partei damals die Macht
in Indonesien übernehmen. [36] In Zeiten der wirtschaftlichen
und politischen Krise oder wenn eine alte Hegemonialmacht
verschwunden ist und kurzfristig neue Konfliktlösungsmechanismen
entwickelt werden müssen, können religiöse Bindungen in
hohem Maße politisiert werden. Blutige Konflikte, die eigentlich
nichtreligiöse Ursachen haben, werden dann mit religiösen
Begriffen erklärt und u.U. durch religiöse Organisationen
angeheizt. So stellt sich der Bürgerkrieg auf den Molukken,
bei dem seit Anfang des Jahres 1999 mehrere Tausend Menschen
ums Leben kamen, als Konflikt zwischen Christen und Muslimen
dar. [37] Der eine Politisierung des
Islam eindeutig ablehnende PAN-Flügel betrachtet die Teilnahme
von Amien Rais als großen Fehler (Interview mit dem Parlamentsabgeordneten
Alvin Lie, einem Sinoindonesier und Christen, am 4.10.2000
in Jakarta). [38] "Indeed I don't have the proof, but the conflicts in Aceh, Maluku,
West Irian and other places are related to Zionism",
South China Morning Post, 11.11.2000. [39] In Papua und in Aceh sind
nach dem Sturz Suhartos sehr starke sezessionistische Bewegungen
entstanden. Im Dezember 2000 führte Präsident Wahid in der
sumatraischen Provinz Aceh eine milde Form der Scharia ein,
das war ein Zugeständnis an die orthodox-muslimischen Separatisten.
Indonesien und seine Nachbarn fürchten, dass ein Islamstaat,
etwa unter der Führung des islamistischen Flügels der "Bewegung
für ein freies Aceh" (Gerakan Aceh Merdeka = GAM),
entstehen und für Unruhe sorgen könnte. Schon jetzt gibt
es Beziehungen zwischen acehnesischen und malaysischen Fundamentalisten.
[40] Siehe dazu: Tempo,
23.1. und 5.3.2000. [41] Xinhua News Agency, 20.7.2000. [42] Saddam Hussein ist in Indonesien
in weiten Kreisen - bei den Islamisten wie bei den Nationalisten
etwa der PDI-P - hoch geschätzt. Er verkörpert - wie in
den frühen 60er Jahren Sukarno - für viele Indonesier den
Widerstand der "Dritten Welt" gegen die Weltmacht
USA. [43] Interview mit Alvin Lie am
4.10.2000 in Jakarta. Anfang Februar 2001 wurde fast ein
Impeachmentverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet.
Das Parlament beschränkte sich jedoch darauf, ihn wegen
einiger undurchsichtiger Finanztransaktionen zu rügen (Jakarta
Post, 5.2.2001). |
|
© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 5/2001 |