Der amerikanische Präsident verkörpert dieses spezifisch „Amerikanische“
geradezu beispielhaft. Seine Reaktion auf die Anschläge von New
York und Washington spiegelte die amerikanische Entschlossenheit
wider, auf die Herausforderung in angemessener Weise zu reagieren.
Es war angemessen, die Anschläge als das zu werten, was sie tatsächlich
sind: eine kriegerische Handlung, die Amerika zentral treffen sollte,
die ökonomische Macht (World Trade Center), die militärische Macht
(Pentagon) und die politische Macht (der Anschlag auf das Weiße
Haus wurde, soviel heute bekannt ist, durch die Passagiere des vierten
gekaperten Flugzeuges verhindert). Es war angemessen, nicht sofort
zuzuschlagen, blind und auf Verdacht. Die amerikanische Politik
handelte nicht unilateral, sie suchte und fand die Unterstützung
der UNO, des Sicherheitsrates. Sie erbat und erhielt die Unterstützung
der NATO, die erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall feststellte
– eine Feststellung, die die Bündnispartner zur Hilfeleistung gegenüber
dem angegriffenen Land Amerika verpflichtet. Damit aber nicht genug.
Amerika bemühte sich um die Unterstützung einer möglichst großen
Zahl von Ländern rund um den Erdball, die in vielen Bereichen unterschiedliche,
sogar gegensätzliche Meinungen/Politiken vertreten, die aber nahe
beieinander liegen in der Einschätzung des internationalen Terrors.
Amerika hat lange gewartet,
hat sich viel Zeit genommen für die notwendige politische und militärische
Vorbereitung, ehe es mit den Bombardierungen in Afghanistan begann.
Es führt die militärischen Operationen im Wesentlichen allein aus.
Wichtig ist aber, dass andere Länder – Mitgliedsländer der NATO
vor allem – den Amerikanern politische und militärische Unterstützung
zugesichert haben. Zu diesen Ländern gehört auch die Bundesrepublik
Deutschland, deren Kanzler mit der Formel von der „uneingeschränkten“
Solidarität die Richtung vorgab. Was das bedeutete, wurde manchem
Beobachter sogar im Inland erst allmählich klar. Die NATO – das
wollte der Kanzler offenbar ein für alle Mal klar stellen – bleibt
auch in veränderter weltpolitischer Konstellation das militärische
und politische Handlungsinstrument, das Amerika und Europa miteinander
verbindet. Und die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, unter
bewusstem Einschluss von Risiken, politische und militärische Verantwortung
zu übernehmen, nicht mehr nur als Sicherheitskonsument zu agieren,
sondern als Sicherheitsproduzent, in gleichem Umfang wie andere
große europäische Länder auch. Die politische Debatte über Bundeswehreinsätze
„out of area“, die sich Schritt für Schritt vom nein über nein/aber
zum ja/aber entwickelte, ist endlich beim ja angekommen. Dass diese
Entwicklung, die seinerzeit unter einer nicht sehr entschlossenen
christlich-liberalen Bundesregierung begann, unter einer rot-grünen
Bundesregierung fortgesetzt und vollendet wurde, mag nur den seltsam
anmuten, der kein Gespür hat für die Weisheit der Geschichte, die
dem Zufall einer Wahlentscheidung bisweilen mehr verdankt als dem
Vollzug eines großen Planes.
Es ist erstaunlich
und ermutigend zugleich, dass die Neujustierung der deutschen Außen-
und Sicherheitspolitik von der nationalen und internationalen Öffentlichkeit
eher unaufgeregt zur Kenntnis genommen wurde. Dazu trägt sicher
bei, dass deutsche Politik im Stil moderat und kooperativ geblieben
ist. Wir handeln als Partner in der NATO und halten fest an der
europäischen Grundorientierung. Wenn der deutsche Außenminister
sich in Zentralasien oder im Nahen Osten umsieht und seine guten
Dienste als Dialogpartner anbietet, dann geschieht das immer in
enger Abstimmung mit der EU, mit Frankreich vor allem, und das ist
gut so; denn allein ist Deutschland zwar eine ökonomisch starke,
militärisch aber eher kleine Macht, deren Politik nur im Verbund
mit anderen EU-Staaten Gewicht und Einfluss hat. Auf diesen Fakt
hinzuweisen, macht Sinn, wenn anderenorts in den Kategorien von
nationalem Ehrgeiz und Prestige gedacht wird.
Die deutsch-amerikanischen
Beziehungen haben sich durch die Erklärung der uneingeschränkten
Solidarität deutlich verbessert. Während die erste Begegnung zwischen
Präsident und Kanzler eher reserviert verlief, war die zweite (nach
Beginn der Luftangriffe auf die Taliban) geprägt von Sympathie und
wechselseitigem Respekt. Der Kanzler traf auf einen Präsidenten,
der zugleich rational und entschlossen agierte, und der Präsident
erkannte in dem deutschen Bundeskanzler einen Mann, auf dessen Wort
man sich verlassen konnte, der bereit war, eine als richtig erkannte
Politik auch gegen innenpolitische Widerstände durchzusetzen. Dass
der stellvertretende Außenminister der USA, Richard Armitage, den
deutschen Beitrag“absolut erstklassig“ nannte, war mehr als nur
diplomatische Höflichkeit; er drückte aus, was in Washington gedacht
und geredet wird: dass Deutschland ein Partner ist, der fest an
der Seite der USA steht und dass die NATO insgesamt mehr ist als
ein Zweckbündnis.
Ähnlich optimistisch
und in gleicher Richtung hatte sich Tage zuvor Brent Scowcroft,
ehemaliger Sicherheitsberater der Präsidenten Ford und Bush senior
geäußert. Der Krieg gegen die Taliban, gegen Al Qaida und den internationalen
Terrorismus könne nur mit einer großen Koalition von vielen Staaten
gewonnen werden. Wenn es aber gelinge, eine solche Koalition aufzubauen
und beieinander zu halten, dann könne das mehr bewirken: es könne
Länder zusammenbringen, mit denen Amerika derzeit Schwierigkeiten
habe (Russland, China, Iran); es könne helfen, politische Probleme
zu lösen, die derzeit unlösbar schienen; und es könne mit Blick
auf Europa „provide the opportunity to re-establish the kind of
co-operative warmth that used to characterize our relations“ (International
Herald Tribune, 17.10.01).
Gegen solche bei aller
Unsicherheit und Besorgnis doch eher optimistische politische Einschätzungen
stehen andere, die die Lage skeptisch bis düster beschreiben. Skeptisch
wird die Durchhaltefähigkeit von demokratischen Gesellschaften bei
einem lang andauernden Kampf gegen den Terrorismus eingeschätzt.
Es muss unterstellt werden, dass alles, was überhaupt vorstellbar
und machbar erscheint an weiteren ungeheuerlichen Anschlägen, irgendwann
auch versucht, bzw. gemacht wird. Es wird keine demokratische Regierung
geben, die – wenn es geschieht – dann bereit wäre, klein beizugeben.
Die außerordentlichen Verluste an Menschenleben und materiellen
Werten werden es andererseits den Regierungen immer schwerer machen,
konsequent zu handeln. Das hat sich in Deutschland schon bei der
Diskussion über die sogenannten Sicherheitspakete der Bundesregierung
gezeigt. Wenige Wochen nach Beginn der Luftangriffe scheint die
Kritik an möglichen Einschränkungen von Freiheitsrechten lauter
zu werden, die Unterstützung für die Bundesregierung, allen voran
für den Bundesinnenminister dagegen leiser.
Bemerkenswert und besorgniserregend
ist zudem, dass schon relativ kurze Zeit nach Beginn der Luftschläge
gegen die Taliban die Forderung nach Unterbrechung der Bombardierungen
erhoben wurde. Vielleicht in guter Absicht: um Zeit zu gewinnen,
notwendige Versorgungsgüter für die notleidende afghanische Bevölkerung
ins Land zu schaffen; aber gegen alle Erkenntnis der Außenpolitiker,
dass es die Taliban waren und sind, die Versorgungslieferungen nach
Afghanistan ver- oder behindern. Also müsste das eigentliche Anliegen
derer, die sich um die afghanische Bevölkerung sorgen, die Forcierung
und Beschleunigung militärischer Maßnahmen sein, um die Behinderungen
durch die Taliban auszuschalten. Durch die Forderung nach (zeitweiliger)
Einstellung der Bombardierungen wird dagegen der Eindruck erweckt,
sie seien Schuld an der Notlage der Bevölkerung (was an die Argumentation
im Kosovo-Krieg erinnert; damals hieß es, die Bombardierungen der
NATO, nicht die Verfolgungspolitik von Milosevic seien es gewesen,
die die Massenflucht der Albaner ausgelöst haben). Zu vermuten ist
jedenfalls, dass der Widerstand gegen den Militäreinsatz in Afghanistan
aus “humanitären” Gründen zunehmen wird, je länger der Krieg dauert
und je mehr zivile Opfer es gibt.
Wie lange wird der
Militäreinsatz dauern? Lange, sehr viel länger jedenfalls, als erhofft.
Ohne Bodentruppen geht es nicht; ohne Verbündete im Land selbst
auch nicht. Wie verlässlich sind aber die gegen die Taliban kämpfenden
Soldaten der sogenannten Nordallianz? Wie viele Bodentruppen der
NATO bzw. der Koalition werden benötigt, um die Kämpfer der Taliban
und die von Osama Bin Laden zu überwinden? Wie viele tote Soldaten
werden in Zinksärgen in ihre Heimat zurückkehren? Wie wird die Bevölkerung
dies verkraften? Wird die Koalition halten, wenn der Militäreinsatz
lange andauert und schnelle Erfolge ausbleiben?
Pakistan ist ein Schlüsselland
in der laufenden Kampagne. General Musharaf, der vom Putschisten
zum Präsidenten mutierte, zeigt beachtlichen Mut mit seiner Unterstützung
Amerikas. Ob er die Bevölkerung hinter sich hat, ob er auf Dauer
dem Druck der Straße standhalten kann, ob die Armee auf seiner Seite
bleibt – das sind die entscheidenden und offenen Fragen. Es muß
jedenfalls Ziel der außenpolitischen Akteure in Amerika und Europa
sein, Musharaf zu stabilisieren, ihm zu helfen. Die beste Hilfe
wäre eine schnelle Lösung des Kashmir-Problems. Es gibt aber keine
schnelle und einfache Lösung für einen Konflikt, der Pakistan und
Indien schon wiederholt in den Krieg gezogen hat. Wer wäre bereit,
einer Teilung Kashmirs entlang zu vereinbarender religiöser Grenzen
das Wort zu reden und eine solche Lösung durchzusetzen? Nur so könnte
das Gewaltpotenzial des Konfliktes (vielleicht) abgebaut werden;
nicht aber durch eine Volksabstimmung auf der Grundlage einer über
50 Jahre alten, durch die Realitäten überholten UN-Resolution.
Schwierig ist auch
die Lage in den arabischen Ländern. Die Regierungen kennen und fürchten
die fundamentalistische Gefahr, die ihnen ohne Ausnahme droht. Ein
Ziel von Al-Qaida ist doch, nach deren eigener Aussage, der Sturz
der „korrupten“ Regierungen in Saudi-Arabien, Ägypten und anderswo.
Je länger der Krieg in Afghanistan dauert und je auswegloser die
Lage im Nahen Osten sich entwickelt, desto umfangreicher wird das
Potenzial des Umsturzes, desto größer der Einfluss von Osama Bin
Laden. Dennoch: die Fortdauer des Nahostkonfliktes bedroht den Fortbestand
der Koalition gegen den Terrorismus, weil Amerika nicht als fairer
Moderator, sondern als einseitig festgelegter Unterstützer für Israel
angesehen und verantwortlich gemacht wird für alles Leid und Unrecht,
das den Palästinensern seit Jahrzehnten zugefügt worden ist.
Der Antiamerikanismus,
den es unbestreitbar in vielen arabischen Ländern gibt, hat viele
Ursachen. Der Nahostkonflikt gehört dazu, an prominenter Stelle.
Diesen Konflikt zu lösen, ist eine vordringliche Aufgabe, die nur
gelingen kann, wenn der Einfluss der Fundamentalisten auf israelischer
und palästinensischer Seite, zurückgedrängt wird. Gegenwärtig geschieht
aber das Gegenteil: die Fundamentalisten bestimmen den Gang der
Dinge und verhindern, dass gemäßigte Kräfte eine Lösung vorbereiten,
die von beiden Seiten als gerecht empfunden wird. Es gibt keinen
Frieden in Nahost, ohne die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaates.
Es gibt keinen unabhängigen Palästinenserstaat, wenn alle israelischen
Siedlungen im Westjordanland und in Ghaza bleiben. Es gibt keinen
gesicherten jüdischen Staat, wenn die Palästinenser auf dem vollen
Rückkehrrecht aller Palästinenser nach Israel beharren. Und es gibt
keinen religiösen Frieden, wenn nicht beide Seiten die heiligen
Stätten der jeweils anderen Seite respektieren. In Nahost kann man
studieren, dass die Konfliktlinien in Wahrheit nicht zwischen „Kulturen“,
sondern zwischen Fundamentalismen verlaufen, die es in allen Kulturen
gibt - Fundamentalisten auf der einen, Aufklärer auf der anderen
Seite.
Besteht die Gefahr,
dass wir dennoch in einen „clash of civilizations“ hineingezwungen
werden? Niemand im Westen, der alle Sinne beisammen hat, will einen
solchen Krieg. Wie lange wird der Westen die Argumentation durchhalten,
dass er keinen Krieg führt gegen den Islam, auch nicht gegen das
afghanische Volk, sondern gegen fundamentalistische Terroristen
und deren Unterstützer? Wenn Al-Qaida offen erklärt, jetzt habe
der Krieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen begonnen, wenn es weitere Anschläge gibt, wenn
sich der fundamentalistische Untergrund rührt, den es auch in aufgeklärten
westlichen Gesellschaften gibt
– was dann? Werden die demokratisch gewählten politischen
Führer weise und stark genug sein, um ihre Länder und die Menschen
auf Kurs zu halten? Was, wenn die ökonomische Lage sich als Folge
der terroristischen Bedrohung verschlechtert?
Es ist gewiss richtig,
dass nach den Anschlägen von New York und Washington nichts mehr
so ist, wie es vorher war. Wie aber wird es werden? Verantwortliche
Politik ist verpflichtet, alles zu tun, um die analysierten Risiken
zu mindern und die Chancen zu mehren. Die Schwierigkeit der Politik
liegt nach dem 11. September 2001 darin, dass sie, um ihre Chancen
zu mehren, große Risiken in Kauf nehmen muss. In dieser Schwierigkeit
muss sich auch deutsche Politik bewähren.