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International Politics and Society 1/2002

 

 
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Risiken in Kauf nehmen, um Risiken zu mindern
Hans-Ulrich Klose:*

In den USA, dem von den Terroranschlägen des September 2001 direkt betroffenen Land, reagierten Bevölkerung und Politik in jeder Hinsicht bemerkenswert - nicht hysterisch und hilflos oder nur schockiert, sondern mit einer Entschlossenheit, die sich mit gebündelter Kraft darauf konzentriert, die Herausforderung anzunehmen. Wer Amerika kennt und amerikanische Mentalität versteht, sieht sich einmal mehr bestätigt in seinem Urteil: Amerika ist anders, ist jünger und vitaler als Europa; es ist – in gewisser Weise – noch immer ein „Pioneer Country“, durchdrungen von einem Durchsetzungs- und Selbstbehauptungswillen, der dem alten Europa bisweilen fehlt.

Der amerikanische Präsident verkörpert dieses spezifisch „Amerikanische“ geradezu beispielhaft. Seine Reaktion auf die Anschläge von New York und Washington spiegelte die amerikanische Entschlossenheit wider, auf die Herausforderung in angemessener Weise zu reagieren. Es war angemessen, die Anschläge als das zu werten, was sie tatsächlich sind: eine kriegerische Handlung, die Amerika zentral treffen sollte, die ökonomische Macht (World Trade Center), die militärische Macht (Pentagon) und die politische Macht (der Anschlag auf das Weiße Haus wurde, soviel heute bekannt ist, durch die Passagiere des vierten gekaperten Flugzeuges verhindert). Es war angemessen, nicht sofort zuzuschlagen, blind und auf Verdacht. Die amerikanische Politik handelte nicht unilateral, sie suchte und fand die Unterstützung der UNO, des Sicherheitsrates. Sie erbat und erhielt die Unterstützung der NATO, die erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall feststellte – eine Feststellung, die die Bündnispartner zur Hilfeleistung gegenüber dem angegriffenen Land Amerika verpflichtet. Damit aber nicht genug. Amerika bemühte sich um die Unterstützung einer möglichst großen Zahl von Ländern rund um den Erdball, die in vielen Bereichen unterschiedliche, sogar gegensätzliche Meinungen/Politiken vertreten, die aber nahe beieinander liegen in der Einschätzung des internationalen Terrors.

Amerika hat lange gewartet, hat sich viel Zeit genommen für die notwendige politische und militärische Vorbereitung, ehe es mit den Bombardierungen in Afghanistan begann. Es führt die militärischen Operationen im Wesentlichen allein aus. Wichtig ist aber, dass andere Länder – Mitgliedsländer der NATO vor allem – den Amerikanern politische und militärische Unterstützung zugesichert haben. Zu diesen Ländern gehört auch die Bundesrepublik Deutschland, deren Kanzler mit der Formel von der „uneingeschränkten“ Solidarität die Richtung vorgab. Was das bedeutete, wurde manchem Beobachter sogar im Inland erst allmählich klar. Die NATO – das wollte der Kanzler offenbar ein für alle Mal klar stellen – bleibt auch in veränderter weltpolitischer Konstellation das militärische und politische Handlungsinstrument, das Amerika und Europa miteinander verbindet. Und die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, unter bewusstem Einschluss von Risiken, politische und militärische Verantwortung zu übernehmen, nicht mehr nur als Sicherheitskonsument zu agieren, sondern als Sicherheitsproduzent, in gleichem Umfang wie andere große europäische Länder auch. Die politische Debatte über Bundeswehreinsätze „out of area“, die sich Schritt für Schritt vom nein über nein/aber zum ja/aber entwickelte, ist endlich beim ja angekommen. Dass diese Entwicklung, die seinerzeit unter einer nicht sehr entschlossenen christlich-liberalen Bundesregierung begann, unter einer rot-grünen Bundesregierung fortgesetzt und vollendet wurde, mag nur den seltsam anmuten, der kein Gespür hat für die Weisheit der Geschichte, die dem Zufall einer Wahlentscheidung bisweilen mehr verdankt als dem Vollzug eines großen Planes.

Es ist erstaunlich und ermutigend zugleich, dass die Neujustierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik von der nationalen und internationalen Öffentlichkeit eher unaufgeregt zur Kenntnis genommen wurde. Dazu trägt sicher bei, dass deutsche Politik im Stil moderat und kooperativ geblieben ist. Wir handeln als Partner in der NATO und halten fest an der europäischen Grundorientierung. Wenn der deutsche Außenminister sich in Zentralasien oder im Nahen Osten umsieht und seine guten Dienste als Dialogpartner anbietet, dann geschieht das immer in enger Abstimmung mit der EU, mit Frankreich vor allem, und das ist gut so; denn allein ist Deutschland zwar eine ökonomisch starke, militärisch aber eher kleine Macht, deren Politik nur im Verbund mit anderen EU-Staaten Gewicht und Einfluss hat. Auf diesen Fakt hinzuweisen, macht Sinn, wenn anderenorts in den Kategorien von nationalem Ehrgeiz und Prestige gedacht wird.

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen haben sich durch die Erklärung der uneingeschränkten Solidarität deutlich verbessert. Während die erste Begegnung zwischen Präsident und Kanzler eher reserviert verlief, war die zweite (nach Beginn der Luftangriffe auf die Taliban) geprägt von Sympathie und wechselseitigem Respekt. Der Kanzler traf auf einen Präsidenten, der zugleich rational und entschlossen agierte, und der Präsident erkannte in dem deutschen Bundeskanzler einen Mann, auf dessen Wort man sich verlassen konnte, der bereit war, eine als richtig erkannte Politik auch gegen innenpolitische Widerstände durchzusetzen. Dass der stellvertretende Außenminister der USA, Richard Armitage, den deutschen Beitrag“absolut erstklassig“ nannte, war mehr als nur diplomatische Höflichkeit; er drückte aus, was in Washington gedacht und geredet wird: dass Deutschland ein Partner ist, der fest an der Seite der USA steht und dass die NATO insgesamt mehr ist als ein Zweckbündnis.

Ähnlich optimistisch und in gleicher Richtung hatte sich Tage zuvor Brent Scowcroft, ehemaliger Sicherheitsberater der Präsidenten Ford und Bush senior geäußert. Der Krieg gegen die Taliban, gegen Al Qaida und den internationalen Terrorismus könne nur mit einer großen Koalition von vielen Staaten gewonnen werden. Wenn es aber gelinge, eine solche Koalition aufzubauen und beieinander zu halten, dann könne das mehr bewirken: es könne Länder zusammenbringen, mit denen Amerika derzeit Schwierigkeiten habe (Russland, China, Iran); es könne helfen, politische Probleme zu lösen, die derzeit unlösbar schienen; und es könne mit Blick auf Europa „provide the opportunity to re-establish the kind of co-operative warmth that used to characterize our relations“ (International Herald Tribune, 17.10.01).

Gegen solche bei aller Unsicherheit und Besorgnis doch eher optimistische politische Einschätzungen stehen andere, die die Lage skeptisch bis düster beschreiben. Skeptisch wird die Durchhaltefähigkeit von demokratischen Gesellschaften bei einem lang andauernden Kampf gegen den Terrorismus eingeschätzt. Es muss unterstellt werden, dass alles, was überhaupt vorstellbar und machbar erscheint an weiteren ungeheuerlichen Anschlägen, irgendwann auch versucht, bzw. gemacht wird. Es wird keine demokratische Regierung geben, die – wenn es geschieht – dann bereit wäre, klein beizugeben. Die außerordentlichen Verluste an Menschenleben und materiellen Werten werden es andererseits den Regierungen immer schwerer machen, konsequent zu handeln. Das hat sich in Deutschland schon bei der Diskussion über die sogenannten Sicherheitspakete der Bundesregierung gezeigt. Wenige Wochen nach Beginn der Luftangriffe scheint die Kritik an möglichen Einschränkungen von Freiheitsrechten lauter zu werden, die Unterstützung für die Bundesregierung, allen voran für den Bundesinnenminister dagegen leiser.

Bemerkenswert und besorgniserregend ist zudem, dass schon relativ kurze Zeit nach Beginn der Luftschläge gegen die Taliban die Forderung nach Unterbrechung der Bombardierungen erhoben wurde. Vielleicht in guter Absicht: um Zeit zu gewinnen, notwendige Versorgungsgüter für die notleidende afghanische Bevölkerung ins Land zu schaffen; aber gegen alle Erkenntnis der Außenpolitiker, dass es die Taliban waren und sind, die Versorgungslieferungen nach Afghanistan ver- oder behindern. Also müsste das eigentliche Anliegen derer, die sich um die afghanische Bevölkerung sorgen, die Forcierung und Beschleunigung militärischer Maßnahmen sein, um die Behinderungen durch die Taliban auszuschalten. Durch die Forderung nach (zeitweiliger) Einstellung der Bombardierungen wird dagegen der Eindruck erweckt, sie seien Schuld an der Notlage der Bevölkerung (was an die Argumentation im Kosovo-Krieg erinnert; damals hieß es, die Bombardierungen der NATO, nicht die Verfolgungspolitik von Milosevic seien es gewesen, die die Massenflucht der Albaner ausgelöst haben). Zu vermuten ist jedenfalls, dass der Widerstand gegen den Militäreinsatz in Afghanistan aus “humanitären” Gründen zunehmen wird, je länger der Krieg dauert und je mehr zivile Opfer es gibt.

Wie lange wird der Militäreinsatz dauern? Lange, sehr viel länger jedenfalls, als erhofft. Ohne Bodentruppen geht es nicht; ohne Verbündete im Land selbst auch nicht. Wie verlässlich sind aber die gegen die Taliban kämpfenden Soldaten der sogenannten Nordallianz? Wie viele Bodentruppen der NATO bzw. der Koalition werden benötigt, um die Kämpfer der Taliban und die von Osama Bin Laden zu überwinden? Wie viele tote Soldaten werden in Zinksärgen in ihre Heimat zurückkehren? Wie wird die Bevölkerung dies verkraften? Wird die Koalition halten, wenn der Militäreinsatz lange andauert und schnelle Erfolge ausbleiben?

Pakistan ist ein Schlüsselland in der laufenden Kampagne. General Musharaf, der vom Putschisten zum Präsidenten mutierte, zeigt beachtlichen Mut mit seiner Unterstützung Amerikas. Ob er die Bevölkerung hinter sich hat, ob er auf Dauer dem Druck der Straße standhalten kann, ob die Armee auf seiner Seite bleibt – das sind die entscheidenden und offenen Fragen. Es muß jedenfalls Ziel der außenpolitischen Akteure in Amerika und Europa sein, Musharaf zu stabilisieren, ihm zu helfen. Die beste Hilfe wäre eine schnelle Lösung des Kashmir-Problems. Es gibt aber keine schnelle und einfache Lösung für einen Konflikt, der Pakistan und Indien schon wiederholt in den Krieg gezogen hat. Wer wäre bereit, einer Teilung Kashmirs entlang zu vereinbarender religiöser Grenzen das Wort zu reden und eine solche Lösung durchzusetzen? Nur so könnte das Gewaltpotenzial des Konfliktes (vielleicht) abgebaut werden; nicht aber durch eine Volksabstimmung auf der Grundlage einer über 50 Jahre alten, durch die Realitäten überholten UN-Resolution.

Schwierig ist auch die Lage in den arabischen Ländern. Die Regierungen kennen und fürchten die fundamentalistische Gefahr, die ihnen ohne Ausnahme droht. Ein Ziel von Al-Qaida ist doch, nach deren eigener Aussage, der Sturz der „korrupten“ Regierungen in Saudi-Arabien, Ägypten und anderswo. Je länger der Krieg in Afghanistan dauert und je auswegloser die Lage im Nahen Osten sich entwickelt, desto umfangreicher wird das Potenzial des Umsturzes, desto größer der Einfluss von Osama Bin Laden. Dennoch: die Fortdauer des Nahostkonfliktes bedroht den Fortbestand der Koalition gegen den Terrorismus, weil Amerika nicht als fairer Moderator, sondern als einseitig festgelegter Unterstützer für Israel angesehen und verantwortlich gemacht wird für alles Leid und Unrecht, das den Palästinensern seit Jahrzehnten zugefügt worden ist.

Der Antiamerikanismus, den es unbestreitbar in vielen arabischen Ländern gibt, hat viele Ursachen. Der Nahostkonflikt gehört dazu, an prominenter Stelle. Diesen Konflikt zu lösen, ist eine vordringliche Aufgabe, die nur gelingen kann, wenn der Einfluss der Fundamentalisten auf israelischer und palästinensischer Seite, zurückgedrängt wird. Gegenwärtig geschieht aber das Gegenteil: die Fundamentalisten bestimmen den Gang der Dinge und verhindern, dass gemäßigte Kräfte eine Lösung vorbereiten, die von beiden Seiten als gerecht empfunden wird. Es gibt keinen Frieden in Nahost, ohne die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaates. Es gibt keinen unabhängigen Palästinenserstaat, wenn alle israelischen Siedlungen im Westjordanland und in Ghaza bleiben. Es gibt keinen gesicherten jüdischen Staat, wenn die Palästinenser auf dem vollen Rückkehrrecht aller Palästinenser nach Israel beharren. Und es gibt keinen religiösen Frieden, wenn nicht beide Seiten die heiligen Stätten der jeweils anderen Seite respektieren. In Nahost kann man studieren, dass die Konfliktlinien in Wahrheit nicht zwischen „Kulturen“, sondern zwischen Fundamentalismen verlaufen, die es in allen Kulturen gibt - Fundamentalisten auf der einen, Aufklärer auf der anderen Seite.

Besteht die Gefahr, dass wir dennoch in einen „clash of civilizations“ hineingezwungen werden? Niemand im Westen, der alle Sinne beisammen hat, will einen solchen Krieg. Wie lange wird der Westen die Argumentation durchhalten, dass er keinen Krieg führt gegen den Islam, auch nicht gegen das afghanische Volk, sondern gegen fundamentalistische Terroristen und deren Unterstützer? Wenn Al-Qaida offen erklärt, jetzt habe der Krieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen  begonnen, wenn es weitere Anschläge gibt, wenn sich der fundamentalistische Untergrund rührt, den es auch in aufgeklärten westlichen Gesellschaften gibt  – was dann? Werden die demokratisch gewählten politischen Führer weise und stark genug sein, um ihre Länder und die Menschen auf Kurs zu halten? Was, wenn die ökonomische Lage sich als Folge der terroristischen Bedrohung verschlechtert?

Es ist gewiss richtig, dass nach den Anschlägen von New York und Washington nichts mehr so ist, wie es vorher war. Wie aber wird es werden? Verantwortliche Politik ist verpflichtet, alles zu tun, um die analysierten Risiken zu mindern und die Chancen zu mehren. Die Schwierigkeit der Politik liegt nach dem 11. September 2001 darin, dass sie, um ihre Chancen zu mehren, große Risiken in Kauf nehmen muss. In dieser Schwierigkeit muss sich auch deutsche Politik bewähren.

Hans-Ulrich Klose

*1937; Jurist; SPD-Fraktion, Deutscher Bundestag, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses Berlin; hans-ulrich.klose@bundestag.de


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