VOLKER PERTHES:
Orientalische Promenaden.
Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch


 
       
    Heft 3/2006  
     
  München 2006
Siedler Verlag, 400 S.
  
 

Näher am Leben als die übliche Literatur zum Nahen und Mittleren Osten bewegt sich »Orientalische Promenaden« von Volker Perthes. Der Nahost- Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik bietet keine Gesamtanalyse der politischen Lage der Region (das hat er in seinem Buch »Geheime Gärten. Die neue arabische Welt« bereits getan), sondern einen »politischen Streifzug« durch sechs ihrer Länder und Gebiete: Ägypten, Israel und die palästinensischen Gebiete, Saudi-Arabien, Irakisch-Kurdistan und Iran. »Streifzug« ist dabei wörtlich gemeint: Perthes fängt vor allem Stimmen und Stimmungen ein, er spricht mit den Menschen auf den Straßen, in Parks und Geschäften, in wissenschaftlichen und politischen Einrichtungen. Seine Gesprächspartner sind so unterschiedlich wie die orientalischen Gesellschaften vielfältig sind: konservativ oder liberal, religiös oder säkular. Oft sind es Jugendliche, was nahe liegt in einer Region, in denen die Unterdreißigjährigen einen hohen Anteil der Bevölkerung ausmachen.

Er konzentriert sich auf wesentliche gesellschaftliche Bruchstellen, wo der Diskurs in Universitäten, Cafés und auf der Straße oft schon weiter fortgeschritten ist als auf der Ebene der politischen Administration. Die »Promenaden« vermitteln so das Bild einer Region im Umbruch, deren Konflikte durch den Irak-Krieg an Virulenz gewonnen haben. Die Forderung nach Demokratisierung hat – auch durch die Diskussion um den »Greater Middle East« – Nachdruck erhalten. Allerdings wird »Demokratisierung« nicht als revolutionärer Umsturz der bestehenden Ordnung verstanden. Es geht vielmehr um praktische Fragen: die Garantie von Menschenrechten, Meinungsfreiheit, freie Wahlen und ein Ende der Korruption.

Die Reise beginnt in Ägypten, wo die Hoffnung auf Reformen weit verbreitet ist. Doch die politische Konkretisierung von Alternativen fällt schwer. Dafür ist nicht zuletzt der »pluralistische Autoritarismus« des Mubarak-Regimes verantwortlich, der durch das Zugeständnis begrenzter persönlicher Freiräume an die Mittelschichten kluge und pragmatische Köpfe einbindet und auf diese Weise sicherstellt, dass die tatsächlichen Machtverhältnisse unverändert bleiben. Der Aderlass, den die liberale Opposition dadurch hinnehmen muss, führt zu ihrer politischen und inhaltlichen Stagnation. Als Alternative bleiben die islamistischen, aber pragmatisch ausgerichteten Muslimbrüder und eine Gruppe jüngerer, wirtschaftlich erfolgreicher Aktivisten um Präsidentensohn Gamal Mubarak, die keine Verankerung in der Bevölkerung zu besitzen scheint. Von den einfachen Sorgen der Menschen, etwa um die Trinkwasserversorgung, die hohe Arbeitslosigkeit oder die mangelhafte Ausbildung, wirken diese beiden Gruppen weit entfernt.

Von hier aus reist Perthes nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. In beiden Gesellschaften wird die Frustration über das Scheitern des Friedensprozesses deutlich, das die Hoffnung auf einen nahen und stabilen Endstatus begraben hat. An die Stelle einer Gesamtlösung tritt in den Gesprächen das Provisorium, besonders die Perspektive eines Waffenstillstands. Dennoch haben die Oslo- Abkommen insofern Fakten geschaffen, als eine Zwei-Staaten-Lösung kaum noch bezweifelt wird. Die Mehrheit der Palästinenser, das wird deutlich, hat die Existenz Israels akzeptiert. Es bleiben die ungeklärten Fragen: der Grenzverlauf, der Status Ostjerusalems und die Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge. Vor allem aber sind die Grenzen eines zukünftigen palästinensischen Staates noch nicht gezogen. Die Mauer bzw. der Zaun, mit dem Israel sich umgibt, antizipiert sie in weiten Teilen – doch die Anlage kann in einigen Abschnitten noch verschoben werden. Der Autor widmet diesem Thema mit Recht viel Aufmerksamkeit, nicht nur, weil es die Lebenssituation vieler Menschen unmittelbar betrifft, sondern auch, weil sich an ihm die Verhärtung und gleichzeitig die Vorläufigkeit zeigt, in der das israelisch-palästinensische Verhältnis steckt.

Denkbar groß ist der Kontrast zu Saudi-Arabien, dem dritten Abschnitt der »Promenaden«. Hier, wo die öffentliche Langeweile zum Staatsthema geworden ist, entdeckt Perthes eine überraschend politisierte und fortschrittliche Gesellschaft. In der Diskussion um Frauenrechte wird dies offensichtlich: Das saudische Regime ist argumentativ schon so weit in die Defensive geraten, dass es den Ausschluss der weiblichen Bevölkerung von den Kommunalwahlen nur noch mit organisatorischen Schwierigkeiten rechtfertigen kann. Die schwerfällige saudische Herrschaftsclique, zusätzlich verlangsamt durch die strikte Ideologie des Wahabitismus, die jeden echten Diskurs ablehnt, kann in ihrem politischen Handeln kaum noch den Anschluss an gesellschaftliche Reformforderungen finden.

Die Aufbruchstimmung, die dagegen in den kurdischen Gebieten des Irak herrscht, scheint in der Region einzigartig zu sein. Das Ende der Gewaltherrschaft Saddam Husseins und die Garantie einer quasi-nationalen Selbstbestimmung in der irakischen Verfassung ermutigen die Kurden dazu, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Hinter der Forderung nach Autonomie und Föderalismus für die kurdische Region steht, das wird aus fast allen Gesprächen deutlich, die Utopie eines eigenen Staates – nicht als konkretes Ziel, sondern als langfristiger Traum. Welche Probleme dies aufwerfen wird, zeigt Perthes am Beispiel Kirkuks, der Stadt und Region, deren kurdischer Charakter von Saddams Arabisierungspolitik gezielt unterdrückt worden ist. Heute fordern die Kurden die Rückgängigmachung dieser Politik und stoßen dabei auf den Widerstand der arabischen Bevölkerung.

Das letzte Kapitel befasst sich mit dem Iran. Hier fällt, ähnlich wie in Saudi- Arabien, die Diskrepanz zwischen der Bevölkerung und der herrschenden Machtclique auf. Das religiöse Establishment lähmt die gesellschaftliche Entwicklung da, wo sie es noch kann, die Jugend aber hat sie offensichtlich schon verloren. Diese orientiert sich eher an den USA als an den Mullahs. Auch die Feindschaft der Bevölkerung gegen Amerika und Israel spielt sich weitgehend auf plakativer Ebene ab. So ist auch der Wahlsieg der Konservativen nicht als Ausdruck einer antiwestlichen Haltung zu verstehen, sondern Ergebnis der Frustration über die wirtschaftliche Stagnation unter den Reformern. Gleichzeitig spiegelt sich darin jedoch ein iranischer Nationalismus wider, der zusammen mit regionalen Großmachtaspirationen ein explosives Potential für die Region bergen könnte.

In seiner enormen Fülle ist »Orientalische Promenaden« ein faszinierendes, hervorragend geschriebenes Buch, das sich wie ein Reisebericht liest und doch voller politischer Brisanz steckt. Deutlich wird, dass sich die Region in einem Umbruch befindet, dessen weitere Entwicklung noch nicht erkennbar ist – und dass der religiöse Extremismus nicht in der Lage ist, auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen Antworten zu geben. Die meisten Menschen in Perthes Buch scheinen ein feines Gespür dafür zu besitzen.

Gleichzeitig sieht man aber, dass es nicht eine nah- und mittelöstliche Gesellschaft gibt: Jedes Land, sogar jede Bevölkerungsgruppe hat mit individuellen Problemen und Konflikten zu kämpfen. Zu einer demokratischen und integrierten Region, in der auch Israel seinen Platz hat, ist es noch ein sehr weiter Weg.

Thomas Mättig
Berlin

     
      
 
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