|
||
Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 1/1998 |
||
Stephan Schulmeister Der polit-ökonomische Entwicklungszyklus der Nachkriegszeit Vom Bündnis Realkapital-Arbeit in der Prosperität zum Bündnis Realkapital- Finanzkapital in der Krise Vorläufige Fassung / Preliminary version Dieser Essay skizziert den langfristigen Zyklus von der auf die Talsohle der dreißiger Jahren folgenden Aufschwungsphase (1950 bis 1965) über die Transformationsphase bis etwa 1980 zur Krisenphase seither. Als "treibende Kräfte" werden einerseits die Interaktionen zwischen der technologischen und der sozialen Innovationsdynamik und andererseits zwischen den drei ökonomischen "Hauptinteressen", jenen des Realkapitals, des Finanzkapitals und der Arbeit, begriffen. Aufbruch zur Prosperität: 1950 bis 1965Die institutionellen und politischen RahmenbedingungenDie Erfahrungen der dreißiger Jahre und ihre Aufarbeitung durch den Keynesianismus bildeten die Grundlage für eine klare Rollenverteilung: Der Staat setzt die "Spielregeln" (Sozialrecht, Wettbewerbsrecht etc.), er verbessert die Wachstumsbedingungen durch Infrastrukturinvestitionen, er verstärkt das Netz der sozialen Sicherheit und dämpft Konjunkturschwankungen durch eine antizyklische Geld- und Fiskalpolitik. Die Unternehmer tragen die alleinige Verantwortung für die Produktions- und Investitionsentscheidungen auf der betrieblichen Ebene. Die Arbeitnehmer akzeptieren dies und werden dafür mit wachsender Beschäftigung und einem etwa gleichbleibenden Einkommensanteil "belohnt". - Die Notenbanken tragen dazu bei, das Gewinnstreben auf Investition, Produktion und Handel auf Gütermärkten zu richten, indem sie die Zinssätze auf niedrigem, unter der Wachstumsrate liegenden Niveau stabilisieren; das System fester Wechselkurse dient dem gleichen Ziel. - Bei stabilen Wechselkursen, Zinssätzen, aber auch Aktienkursen konzentrierte der Bankensektor seine Aktivitäten auf die optimale realwirtschaftliche Veranlagung seiner Einlagen, also auf die Finanzierung der Realinvestitionen der Unternehmen. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und die enge Kooperation zwischen Arbeit und Kapital wurde durch die Systemkonkurrenz und den "Kalten Krieg" gefördert: die kommunistische Herausforderung erleichterte den Übergang vom "häßlichen Kapitalismus" der dreißiger Jahre zur "sozialen Marktwirtschaft" der fünfziger Jahre. Über zwei Jahrzehnte herrschte in Wissenschaft und Politik Übereinstimmung über das "relevante" ökonomische Modell, die neoklassische Synthese als "Kreuzung" zwischen dem keynesianischen Modell auf makroökonomischer und dem Marktmodell auf mikroökonomischer Ebene: Was, wie und für wen produziert wird, sollte grundsätzlich durch Unternehmerentscheidungen (hinsichtlich neuer Güter) und den Preismechanismus auf Güter- und Faktormärkten (hinsichtlich bestehender Güter) bestimmt werden. Wenn jedoch das Zusammenwirken der einzelwirtschaftlichen Entscheidungen zu gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten führt, insbesondere zu Arbeitslosigkeit, so soll der Staat diese durch eine aktive Konjunktur- und Wachstumspolitik mildern. Der Konsens über den Keynesianismus als der "richtigen" Theorie der Gesamtwirtschaft bewirkte, daß die Akteure ihre Erwartungen entsprechend diesem Modell bildeten: verschlechterte sich etwa die Konjunktur, so erwarteten die Unternehmer, daß der Staat seine Nachfrage ausweiten sowie die Zinsen senken und so die Wirtschaft wieder in Schwung bringen werde. Die Unternehmer verringerten daher Investitionen und Beschäftigung viel schwächer als es ohne diese Erwartung der Fall gewesen wäre, was wiederum ausgeprägte Konjunkturschwankungen verhinderte. Teilprozesse der wirtschaftlichen Entwicklung 1950 bis 1965Politische Hauptströmungen. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Politik in den wichtigsten Industrieländern durch die Dominanz gemäßigt konservativer Parteien geprägt. Die Tatsache, daß es konservative Parteien waren, die in der Regierung den Keynesianismus in die Praxis umsetzten, dürfte das Mißtrauen der Unternehmerschaft gegen diese neue Doktrin gemildert und so den Konsens darüber erleichtert haben. Technologische Entwicklung. Die technologische Entwicklung war durch eine kontinuierliche Verbesserung von Produkten und Prozessen gekennzeichnet, die ihrem Wesen nach schon am Beginn der Periode existierten. Selbst in den USA wurden zwischen 1950 und 1970 im zivilen Bereich keine Basisinnovationen entwickelt, wohl aber im militärisch-industriellen Komplex; diese Innovationen konzentrierten sich auf Informationstechnologie sowie die Luft- und Raumfahrt (Stichwort: "Sputnik-Schock"). Das dominante Prinzip in der Produktionstechnik war der "Fordismus": Die Produktion standardisierter Konsum- und Investitionsgüter wurde in immer kleinere Arbeitsschritte gegliedert, diese Vertiefung der Arbeitsteilung ermöglichte ein hohes und kontinuierliches Produktivitätswachstum. Finanzierungsbedingungen, Investitionsdynamik und Staatsverschuldung. Zwischen 1950 und 1965 lag der Zinssatz (Bankkredit- bzw. Anleihenzins) in den Industrieländern um etwa 3 Prozentpunkte unter der Wachstumsrate. Diese Konstellation förderte die Realakkumulation relativ zur Finanzakkumulation aus zwei Gründen. Erstens ist die Rendite künftiger Investitionen umso größer, je höher die (erwartete) gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate über dem (erwarteten) Zinssatz liegt. Zweitens können umso mehr Investitionsprojekte durch Kreditaufnahme finanziert werden, je geringer die Zinszahlungen für die Unternehmerschuld sind (= die Finanzierungskosten vergangener Investitionen); denn nur wenn der Zinssatz niedriger ist als die Wachstumsrate, können Schuldnersektoren wie die Unternehmen oder der Staat ein Primärdefizit aufrecht erhalten, also mehr (Investitions)Kredite aufnehmen als sie an Zinsen für die "Altschulden" zu zahlen haben, ohne daß sich die Relation ihres Schuldenbestandes zum BIP erhöht ("dynamische Budgetbeschränkung"). Der Wachstumsprozeß war somit dadurch charakterisiert, daß die Überschüsse der Haushalte (ihr Sparen) via Kreditaufnahme (Defizite) der Unternehmen in Realkapital transformiert wurden. Die hohe Investitionsdynamik bewirkte, daß zu Beginn der sechziger Jahre die Defizite des Unternehmenssektors sogar deutlich höher waren als die Überschüsse der Haushalte, sodaß der Staat in Ländern wie Deutschland oder Japan ausgeprägte Budgetüberschüsse aufwies. Einkommensverteilung. Bis Mitte der sechziger Jahre verschob sich die (funktionelle) Verteilung der Produktionseinkommen zwischen Löhnen, Zinserträgen und Unternehmereinkommen kaum. Die Lohnquote blieb in den fünfziger Jahren stabil, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre stieg sie leicht an. Die Ungleichheit in der personellen Einkommensverteilung nahm ab, in erster Linie als Folge einer solidarischen Lohnpolitik, progressiver direkter Steuern und eines schrittweisen Ausbaus staatlicher Transferzahlungen. Inflation. Der Preisauftrieb blieb in den fünfziger Jahren mäßig (etwa 3% pro Jahr); auch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre beschleunigte sich das Inflationstempo nicht nennenswert, obwohl die Löhne etwas rascher wuchsen als die Arbeitsproduktivität (die Unternehmer akzeptierten eine leichte Umverteilung zugunsten der Arbeitnehmer). Auch die zweite Kostenkomponente der Wertschöpfung, die Zinszahlungen, wuchsen bei annähernd konstantem Nominalzins nur etwa gleichschrittig mit den Gesamtkosten (=Gesamteinkommen). Beschäftigung. All diese einander ergänzenden Bedingungen ermöglichten ein stabiles und gleichzeitig so hohes Wirtschaftswachstum, daß in den europäischen Industrieländern bereits Anfang der sechziger Jahre Vollbeschäftigung erreicht wird (in Deutschland lag die Arbeitslosenrate bei 1%). Phase im polit-ökonomischen EntwicklungszyklusFür ein konkretes Verständnis der längerfristigen Entwicklungsdynamik ist es nützlich, drei ökonomische "Fundamentalinteressen" zu unterscheiden, jene des Realkapitals, des Finanzkapital und der Arbeit(nehmer).) Realkapital ist das in Produktionsmittel angelegte Vermögen; die Bildung des Realkapitals wird teilweise durch Eigenkapital der Eigentümer und teilweise durch Kredite (Finanzschulden) finanziert. Letztere stellen das Finanzkapital der Gläubiger dar: unmittelbar sind dies überwiegend die Banken und Sparkassen, mittelbar aber die privaten Haushalte, welche ihr Sparvermögen bei solchen Instituten ein- bzw. anlegen.) Entsprechend den drei Vermögenskategorien ("stocks"), Arbeitskraft ("Vermögen" im Sinn von "Können"), Finanzkapital und Realkapital, und den drei Einkommenskategorien ("flows"), Löhne, Zinszahlungen und Unternehmergewinne sind drei Typen ökonomischer Interessen zu unterscheiden: - Arbeitnehmer wünschen ein hohes und gesichertes Beschäftigungsniveau und Reallöhne, welche zumindest nicht langsamer wachsen als ihre Produktivität. - Unternehmer sind an optimalen Bedingungen für Profiterzielung auf Gütermärkten interessiert, und damit an günstigen Finanzierungsbedingungen (niedrige Realzinsen, stabile Wechselkurse, keine Überbewertung der "eigenen" Währung). - Rentiers wünschen einen hohen Zinssatz und Wechselkurs der Währung, in der sie ihr Finanzkapital angelegt haben, die professionellen Manager ihres Vermögens überdies instabile Finanzmärkte: je stärker die Kurse schwanken, desto größer der potentielle Spekulationsgewinn. Diesen drei Interessen entsprechen keine homogene soziale Gruppen ("Klassen"): Arbeitnehmer sparen und akkumulieren so Finanzvermögen; sie haben daher gleichzeitig Arbeitnehmerinteressen und Rentierinteressen. Unternehmer des "non-financial business" sind zwar in ihrer Gesamtheit (als Sektor) Nettoschuldner, in dem Ausmaß jedoch, in dem sie Finanzaktiva halten und ein entsprechendes Portfoliomanagement betreiben, haben sie auch Rentierinteressen. Allerdings lassen sich soziale Gruppen nach der Dominanz ihrer ökonomischen Interessen unterscheiden: die meisten Arbeitnehmer sind "hauptberuflich" Arbeitnehmer und die meisten Unternehmer im "non-financial business" sind "hauptberuflich" Unternehmer (ihre Finanzkapitalerträge sind im Vergleich zu ihren Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bedeutungslos). Wegen der enormen Konzentration der Verteilung des Finanzvermögens ist die Zahl der "hauptberuflichen" Rentiers viel kleiner als jene der "hauptberuflichen" Unternehmer bzw. Arbeitnehmer. Die gesellschaftliche Entwicklung wird wesentlich durch (stillschweigende) "Interessensgemeinschaften" der Unternehmerschaft entweder mit den ("hauptberuflichen") Rentiers (wie in den dreißiger Jahren) oder den Arbeitnehmern (wie in den fünfziger und sechziger Jahren) geprägt. Um das Entstehen und Vergehen solcher "Bündnisse" zu begreifen, muß zwischen ökonomischen und politischen Gegensätzen in der "Interessenstriade" unterschieden werden: Ökonomisch ist der Interessensgegensatz zwischen Realkapital und Finanzkapital schärfer als zwischen Realkapital und Arbeit; dies wird nicht nur am Verteilungskonflikt deutlich (Lohnzahlungen fließen als Konsumausgaben wieder an die Unternehmen zurück, Zinszahlungen werden hingegen in viel höherem Ausmaß gespart), sondern auch daran, wie sehr hohe und instabile Zinssätze und Wechselkurse die unternehmerischen Tätigkeiten auf Gütermärkten behindern. Anders formuliert: Unternehmer und Arbeitnehmer haben ein gemeinsames Interesse an hohem Produktionswachstum als Voraussetzung für steigende Löhne und Gewinne. Politisch stehen jedoch die Unternehmer den ("hauptberuflichen") Rentiers und ihre Managern bei Banken, Versicherungen und Investmentfonds näher als den Arbeitnehmern; dafür dürfte einerseits ein Gefühl der sozialen Zusammengehörigkeit bestimmend sein und andererseits das Denken in der traditionelle Dichotomie Arbeit versus Kapital (egal ob Real- oder Finanzkapital).) Die Phasen der langfristigen polit-ökonomischen Entwicklung lassen sich nach den Koalitionen zwischen diesen drei gesellschaftlichen Gruppen gliedern. Die Entwicklung zwischen 1950 und 1965 war geprägt von einer Koalition der Unternehmer mit den Arbeitnehmern, die Finanzmärkte und damit auch die Interessen des Finanzkapitals wurden "ruhig gestellt": niedrige Zinssätze, feste Wechselkurse, insbesondere des Dollar als Weltwährung, dementsprechend auch stabile Preise der in Dollar notierenden Rohstoffe, Verbesserung der Produktionsbedingungen durch öffentliche Investitionen, Stabilisierung der Konsumnachfrage durch Ausbau des Sozialstaats, lenkten das Gewinnstreben der Unternehmer systematisch auf Investition, Produktion und Handel auf Gütermärkten. Phase im wirtschaftswissenschaftlichen ParadigmenzyklusDie jeweilige Phase des polit-ökonomischen Entwicklungszyklus wird auch dadurch geprägt, welche von zwei Hauptgruppen von Wirtschaftswissenschaftern dominieren: Ökonomen, welche davon ausgehen, daß die Koordination unzähliger Einzelentscheidungen nur durch Preissignale nicht notwendigerweise zur bestmöglichen Gesamtentwicklung führt; es ist daher Aufgabe des Staates, ökonomische Krisen zu mildern ("Reformökonomen"). Ökonomen, welche umgekehrt annehmen, daß nur die Marktkräfte ein Wachstum bei Vollbeschäftigung sicherstellen und daß deshalb der Staat selbst die wichtigste Ursache für Wirtschaftskrisen ist ("laissez-faire"-Ökonomen). Die relative Dominanz einer der beiden Gruppen hängt wesentlich von der in der unmittelbaren Vergangenheit realisierten Entwicklungsphase ab: Phasen einer Wirtschaftskrise stärken die Position der "Reformökonomen", insbesondere dann, wenn sie durch Aufarbeitung der Krise eine neue Theorie entwickeln, die aufzeigt, wie man die vergangene hätte vermeiden können. Phasen der Prosperität stärken die Position der "Marktökonomen": je länger diese anhalten, desto mehr entschwindet die Erinnerung, durch wieviel und welches "Krisenlehrgeld" die Prosperität "erkauft" worden war. Die fünfziger und sechziger Jahre waren eine Phase, in der die Weltwirtschaftskrise "aufgearbeitet" wurde und daher die "Reformer" dominierten, sie "etablierten" den Keynesianismus als Paradigma; dementsprechend konzentrierten sich die Ökonomen auf bestimmte "Haupträtsel" und entwickelten entsprechende Betrachtungsweisen: Das Hauptproblem war die Arbeitslosigkeit, die als ein makroökonomisches Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung betrachtet wurde. Das analytische Instrumentarium war die Kreislauftheorie, jeder "flow" wurde simultan in seinen beiden Erscheinungsformen betrachtet: als Aufwand (Kosten) und Ertrag (Einkommen). Die jedem Paradigma inhärente Beharrungstendenz wurde im Fall des Keynesianismus durch seinen Erfolg verstärkt: die langjährige Prosperität entzog ihm sein Hauptproblem, die Arbeitslosigkeit. Es gelang den Keynesianern nicht, andere Probleme zu neuen "Haupträtseln" zu machen und so eine systemische Wirtschaftstheorie (weiter) zu entwickeln: Die Rolle der Rentiers: um diese analysieren zu können, hätte man die Zinseinkommen als eigene Einkommenskategorie und das Finanzkapital als eigene Vermögenskategorie explizit modellieren müssen. Der Einfluß von Zinsschwankungen auf die Einkommensverteilung, die Rentabilität von Realkapital(bildung) relativ zu Finanzkapital(bildung), die Schuld/Einkommens-Relation der Unternehmer und ihre Investitionsnachfrage. - Wechselwirkung zwischen Inflation und Nominalzins: beschleunigt sich etwa die Inflation von 3% auf 5% und steigt deshalb der Nominalzins von 5% auf 7% (der Realzins bleibt bei 2% konstant), so nehmen die Zinszahlungen bei flexibel verzinster (Bank)Schuld um 40% zu ("Zinsakzelerator"); die Unternehmen werden daher versuchen, einen Teil dieser Kostensteigerung auf die Preise zu überwälzen (es gibt sowohl eine Lohn-Preis-Spirale als auch eine Zins-Preis-Spirale).) Die Verlagerungen der Aktivitäten zwischen langfristiger Spekulation auf den Gütermärkten (Investitionen und Innovationen) und kurzfristiger Spekulation auf den Finanzmärkten. "Endogenisierung" des Faktors "Unsicherheit"
und damit die explizite Erfassung jener Variablen, welche den "state
of confidence" bestimmen. Interaktion von Rahmenbedingungen und Teilprozessen 1950 bis 1965Die Entwicklung zwischen 1950 und 1965 war auch wegen der Kohärenz zwischen Rahmenbedingungen und Teilprozessen so erfolgreich: Der Konsens über das "wahre" makroökonomische Modell koordinierte Erwartungsbildung, Verhaltensmuster und Wirtschaftspolitik und erhöhte so rückwirkend die Vertrauenswürdigkeit des Modells. Der Keynesianismus konnte deshalb als "Koordinatensystem" dienen, weil er die Komplexität der Interaktion von unzähligen Einzelentscheidungen auf relativ wenige Zusammenhänge reduzierte. Das "Weltbild" der neoklassischen Synthese ermöglichte eine klare Rollenverteilung zwischen Unternehmern, Arbeitnehmern und dem Staat. Die "friedliche" Entwicklung der "labor relations" wurde dadurch erleichtert, daß die Unternehmer bereit waren, das Vollbeschäftigungsziel mitzutragen. Der Konsens über dieses Ziel und ein darauf abgestimmtes Verhalten von Unternehmen und Staat bewirkten, daß Vollbeschäftigung erreicht wurde. Dies wieder förderte den technischen Fortschritt: die Arbeitsplätze wurden mit immer mehr und damit mit immer besserem Kapital ausgestattet, um die Arbeitsproduktivität maximal zu steigern. Das Verhältnis des "technisch-ökonomischen Systems" (dieses erweitert durch Prozeß- und Produktinnovationen das "technisch" mögliche Produktionspotential - gewissermaßen die "Welt der Ingenieure") zum "sozial-ökonomischen System" (dieses ermöglicht oder beeinträchtigt durch soziale Innovationen bzw. Dis-Innovationen wie ökonomische Theorien oder wirtschaftspolitische Strategien die Realisierung des Produktionspotentials - gewissermaßen die "Welt der Ökonomen und Politiker") war durch ein hohes Maß an Kohärenz gekennzeichnet: die Implementierung der schon in den dreißiger Jahren entwickelten Technik "fordistischer" Massenproduktion ermöglichte eine enorme Steigerung des Produktionspotentials, welches durch die Steigerung der Massenkaufkraft auf der Grundlage einer keynesianischen Wirtschaftspolitik ausgeschöpft wurde; die technische und die soziale Innovationsdynamik waren also aufeinander abgestimmt. Von der Prosperität in die Krise: 1965 bis 1980Die Periode zwischen Mitte der sechziger und Ende der siebziger Jahre war eine Phase der Transformation: Übergang vom wirtschafts- und sozialpolitisch aktiven zum passiven Staat. Übergang vom Konsens über das "relevante" makroökonomische Modell, den Keynesianismus, zu einem wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Dissens. Übergang von einem gemeinsamen "Koordinatensystem" zu einem System erhöhter Unsicherheit. Übergang vom korporatistischen Modell der Gestaltung der "labor relations" zu einem System mit zunehmender Dominanz der Unternehmer. Übergang von regulierten zu deregulierten Finanzmärkten, insbesondere: Übergang von stabilen zu instabilen Wechselkursen und Zinssätzen. Im folgenden sollen die wichtigsten Etappen im Transformationsprozeß zwischen 1965 und 1980 skizziert werden. Bereits um 1960 war in Europa Vollbeschäftigung erreicht worden, die Arbeitnehmer konnten daher nicht mehr durch höhere Beschäftigung für ihre Kooperation "belohnt" werden: eine wesentliche Bedingung des "großen Konsens" war nicht mehr erfüllbar - paradoxerweise wegen seines Erfolgs. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre akzeptierten die Unternehmer eine leicht steigende Lohnquote, ohne daß sie die über das Produktivitätswachstum hinausgehenden Lohnerhöhungen auf die Preise überwälzten. Mitte der sechziger Jahre waren die Gewerkschaften auf den "Geschmack" von Umverteilungen zu ihren Gunsten gekommen, sie erzwangen durch eine massive Ausweitung von Streiks einen sprunghaften Anstieg der Lohnquote. Diese Lohnsteigerungen wurden nun von den Unternehmen auf die Preise überwälzt, was gemeinsam mit dem dadurch induzierten Anstieg der Nominalzinsen zu einer deutlichen Beschleunigung der Inflation führte; dies bedrohte wiederum die Interessen des Finanzkapitals. In der für sie angesichts anhaltender Vollbeschäftigung günstigen Lage erhoben die Gewerkschaften neue Forderungen, insbesondere nach betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung. Ende der sechziger Jahre stellte die Studentenbewegung das "kapitalistische Regime" radikal in Frage, durch die Unterstützung vieler Linksintellektueller in den Medien fanden ihre Forderungen ein breites Echo. Wenig später geriet das Prosperitätsmodell und insbesondere die Unternehmer zusätzlich unter eine neue Art von "fundamentalistischem Beschuß", nämlich jenem der Ökologiebewegung. Um 1970 waren somit die Unternehmer und "hauptberuflichen" Rentiers gesellschaftspolitisch in der Defensive, der Wohlfahrtsstaat drohte langfristig die Macht zu ihren Ungunsten zu verschieben (in Europa wurde diese Sorge zusätzlich durch den Aufstieg der Sozialdemokratie verstärkt). In dieser Lage nahm ihre Bereitschaft zu, jene Theorie (wieder) zu akzeptieren, welche den Wohlfahrtsstaat selbst als das "Grundübel" ansieht: der Neoliberalismus im neuen Gewand des Monetarismus.) Das Jahr 1968 brachte den Durchbruch für Milton Friedman und seine monetaristische Theorie auf akademischem Boden, ihre Postulate trugen wesentlich zu einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik bei: - Allein der Preismechanismus auf freien Güter- und Finanzmärkten ermöglicht die effizienteste Lösung des Problems, was, wie und für wen produziert werden soll. - Der Staat stört das Spiel der Marktkräfte, insbesondere durch seine Sozialpolitk: je mehr er sich zurückzieht, umso besser für das Gemeinwohl. - Hauptursachen für Arbeitslosigkeit sind zu hohe Reallöhne, Regulierungen des Arbeitsmarkts (Kündigungsschutz etc.) sowie die Arbeitslosenunterstützungen. - Deshalb kann und soll der Staat die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen. - Versucht der Staat, die Arbeitslosigkeit unter ihr "natürliches" Niveau zu senken, so steigt lediglich die Inflation an. - Zinssätze und Wechselkurse müssen dem Spiel der Marktkräfte überlassen werden.) - Hauptursache für Budgetdefizit und Staatsverschuldung ist der "ausufernde Wohlfahrtsstaat". - Neben konsolidierten Staatsfinanzen durch Rückbau des Sozialstaats ist das wichtigste Ziel der Wirtschaftspolitik die Bekämpfung der Inflation. Die Realisierung der monetaristischen Empfehlungen erfolgte in mehreren Schritten: Der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods 1971/73 führte zu einem Regime, in dem destabilisierende Währungsspekulation starke, mehrjährige Schwankungen der Wechselkurse um ihren realwirtschaftlichen Gleichgewichtswert der Kaufkraftparität verursacht. Da der Dollar den wichtigsten "Jeton" in diesem Spiel darstellt, waren und sind die Schwankungen seines Wechselkurses bei weitem am größten. Die zwei ausgeprägten Entwertungen des Dollar 1971/73 und 1977/78 waren der wichtigste Grund für die beiden Ölpreisverteuerungen 1973 und 1979, die nachfolgenden Rezessionen und den dadurch verursachten Anstieg der Arbeitslosigkeit: da der Dollar die Weltwährung darstellt, notieren "standard commodities", insbesondere Erdöl, in Dollar. Seine Entwertung benachteiligte deshalb jene Länder am stärksten, die nur über ein einziges, in Dollar notierendes Exportgut verfügen, die OPEC. Diese Länder "revanchierten" sich mit überproportionalen Erhöhungen der Dollarpreise für Erdöl (in beiden Fällen wurden politische Turbulenzen im Nahen Osten ausgenützt, 1973 der Yom-Kippur-Krieg, 1979 der Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak). Der durch die beiden Dollarentwertungen und "Ölpreisschocks" verursachte gleichzeitige Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation ("Stagflation") wurde von den Monetaristen als Beweis dafür verwendet, daß die von Keynesianern behauptete Phillips-Kurven-Beziehung - steigt die Inflation, so sinkt die Arbeitslosigkeit und umgekehrt - nicht existiere und damit der Keynesianismus überhaupt eine Fehlkonstruktion darstelle: vielmehr gäbe es eine "natürliche Arbeitslosenrate", mit einer höheren Inflation könne man daher keinen Rückgang der Arbeitslosigkeit "erkaufen". Da die Debatte um die Phillips-Kurve den Monetaristen den entscheidenden "Sieg" über die Keynesianer einbrachte, sei auf folgenden ideologiegeschichtlichen "Treppenwitz" hingewiesen: Jene Ökonomen wie insbesondere Milton Friedman, welche den Zusammenbruch der Phillips-Kurve als Argument gegen eine Vollbeschäftigungspolitik ins Treffen führten, haben durch ihren jahrelangen Kampf für den Übergang von festen zu frei schwankenden Wechselkursen indirekt zu jenen internationalen Turbulenzen beigetragen, welche die wichtigsten Ursachen für den gleichzeitigen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation in den siebziger Jahren darstellen.) Der Zusammenbruch des Weltwährungssystem von Bretton Woods befreite die USA vom Zwang, einen überhöhten Dollarkurs zu halten. In den siebziger Jahren verfolgten sie daher eine ausgeprägte Niedrigzinspolitik, bei hoher Inflation (gefördert durch den sinkenden Dollarkurs) wurde das Realzinsniveau leicht negativ. Der niedrige Zinssatz und Wechselkurs des Dollar schadete zwar den Rentiers, stimulierte aber nach der Rezession 1974/75 Investitionen und Exporte der USA so stark, daß die Arbeitslosigkeit Ende der siebziger Jahre nicht höher war als am Anfang des Jahrzehnts. In den europäischen Hartwährungsländern, insbesondere in Deutschland, trugen hingegen die Aufwertung gegenüber dem Dollar und ein relativ zu den USA höheres Realzinsniveau dazu bei, daß der Konjunkturaufschwung nach der Rezession 1974/75 zu schwach blieb, um die Arbeitslosigkeit wieder deutlich zu senken. Das Zusammenwirken von niedrigem Dollarzins, sinkendem Dollarkurs und einem dementsprechenden hohen Anstieg der Dollarpreise im Welthandel ließ den Realzins für internationale Schulden - Eurodollarzins minus Welthandelsinflation in Dollar - stark negativ werden (-7½% im Durchschnitt 1973/80). Dies förderte die Akkumulation internationaler Schulden in den Entwicklungsländern ebenso wie die Notwendigkeit, die Überschüsse der Ölexporteure zu veranlagen. Die Benachteiligung der Rentierinteressen durch hohe Inflation und niedrige Realzinsen - insbesondere in den USA - bereitete den Boden für die Durchsetzung einer weiteren fundamentalen Forderung des Monetarismus: Aufgabe einer Politik niedriger und stabiler Zinssätze und Übergang zu einer Politik der Geldmengensteuerung. Ende der siebziger Jahre deklarierten die wichtigsten Notenbanken einen solchen Kurswechsel, in der Praxis verringerten sie freilich nicht das Geldmengenwachstum, sondern erhöhten die Leitzinsen exorbitant. Im Hinblick auf den polit-ökonomischen Entwicklungszyklus war die Periode 1965/1980 eine Phase, in der das den Unternehmern und Rentiers gemeinsame politische Interesse an der Wiederherstellung der alten, "geordneten" Verhältnisse der fünfziger Jahre den ökonomischen Interessensgegensatz zwischen Realkapital und Finanzkapital immer stärker "verdrängte". Ende der siebziger Jahre war der "Scheidungsprozeß" zwischen Arbeit und Realkapital abgeschlossen und das neue Bündnis zwischen Realkapital und Finanzkapital besiegelt: die Unternehmerverbände in den USA und in Großbritannien begrüßten vehement den Übergang zu einer monetaristisch motivierten Hochzinspolitik, welche die stärkste Umverteilung der Nachkriegszeit von den Unternehmergewinnen zu den Rentiereinkommen auslöste. Damit setzte jene Phase ein, in der die Interessen des Finanzkapitals bzw. seiner Manager dominierten, zum Schaden der ökonomischen Interessen der Unternehmer an Expansion auf Gütermärkten, aber zum Nutzen ihrer politischen Interessen an einer "Disziplinierung" der Gewerkschaften, an einer Einschränkung des Wohlfahrtsstaats und an einem Zurückdrängen der Sozialdemokratie.) Der Weg in die Krise: 1980 bis 1997Die institutionellen und politischen RahmenbedingungenDie Phase seit 1980 war durch solche Rahmenbedingungen gekennzeichnet, die das Wachstum des Realkapitals und der Gütermärkte dämpften und das Wachstum des Finanzkapitals und der Finanzmärkte beschleunigten: Mit dem Monetarismus wurde eine Doktrin dominant, welche die Rentierinteressen wissenschaftlich legitimiert. Dies wird an ihren Hauptzielen deutlich, der Bekämpfung der Inflation und der Staatsverschuldung, also der beiden "Hauptfeinde" des Finanzkapitals. Es herrschte ein weitgehender Konsens darüber, daß sich der Staat jeder aktiven Konjunktur-, Wachstums- und Beschäftigungsspolitik enthalten solle; vielmehr sollte er durch Deregulierungen die Marktkräfte fördern und sich selbst immer mehr aus dem Wirtschaftsgeschehen zurückziehen, einerseits durch Steuersenkungen (für die Gutverdiener) und andererseits durch Abbau von Sozialleistungen (für die Schlechtverdiener). Die Dominanz der Konzepte des Monetarismus bzw. der "supply side economics" trug wesentlich dazu bei, daß sich die wirtschaftspolitische Macht von den Regierungen zu den Notenbanken verlagerte. Da der Zinssatz erstmals in der Nachkriegszeit permanent über der Wachstumsrate lag, konnte die Regierungen auch aus finanziellen Gründen keine aktive Wirtschaftspolitik mehr betreiben: die Verlagerung der Unternehmeraktivitäten von Real- zu Finanzinvestitionen senkte das Wirtschaftswachstum, die Ausgaben für immer mehr Arbeitslose stiegen, die Steuereinnahmen wurden gedämpft, das Budgetdefizit stieg, wobei ein wachsender Teil von den Zinszahlungen absorbiert wurde. Anders ausgedrückt: ein dauernd über der Wachstumsrate liegendes Zinsniveau macht den Sozialstaat langsam, aber sicher unfinanzierbar.) Finanzinnovationen (Futures, Optionen, Optionen auf Futures etc.) schufen eine Vielzahl neuer Formen von Spekulation. Diese erfaßten alle für Investition und Produktion zentralen Preise wie Zinssätze, Wechselkurse, Rohstoffpreise (insbesondere Ölpreis) und Aktienkurse; computergestützte Spekulationstechniken destabilisierten diese Preise, insbesondere ihre kurzfristige Volatilität stieg enorm an. Die gesamtwirtschaftliche Rollenverteilung änderte sich unter diesen Bedingungen radikal: Der neoliberale Zeitgeist und eine permanent positives Zins-Wachstums-Differential trugen gemeinsam dazu bei, der Staat eine aktive Rolle in der Wachstums- und Beschäftigungspolitik nicht mehr spielen wollte bzw. konnte: Arbeitslosigkeit und öffentliche Verschuldung stiegen auf das höchste Niveau seit den fünfziger Jahren, die öffentliche Investitionsquote sank auf ihr niedrigstes Niveau. Die Unternehmer erfüllten ihre gesellschaftliche Funktion, das Sparen der privaten Haushalte in Realkapital und damit auch in Arbeitsplätze zu transformieren, in immer geringerem Ausmaß: Der Übergang von einem negativen zu einem positiven Zins-Wachstums-Differential veranlaßte sie zu einer "Drehung" ihrer Primärbilanz von einem Defizit in einen Überschuß (durch Rücknahme der Investitionen und Kreditaufnahme). Die Unternehmer senkten ihre (Real)Investitionen allerdings stärker als für eine Stabilisierung ihrer Schuldenquote nötig gewesen wäre, weil Finanzinvestitionen, und kurzfristig orientierte Spekulation relativ profitabler geworden waren. Die Gewerkschaften haben alle wesentlichen sozialreformerischen Projekte von umfassender Mitbestimmung bis zu nachhaltiger Arbeitszeitverkürzung weitgehend aufgegeben und mußten umgekehrt wachsende Arbeitslosigkeit und eine merkliche Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer akzeptieren. Die Notenbanken agierten in wachsendem Maß im Interesse des Finanzkapitals, und zwar auch deshalb, weil es drei ökonomische Hauptinteressen gibt, aber nur zwei politisch vertreten werden: Einerseits hat das Finanzkapital in fünf Jahrzehnten Wirtschaftswachstum ein enormes Volumen erreicht und "verlangt" deshalb nach einer institutionellen Repräsentanz. Andererseits werden die spezifischen Interessen des Finanzkapitals nicht gesondert wahrgenommen und sind daher auch nicht durch eigene Institutionen vertreten (Unternehmerverbände und Gewerkschaften gibt es hingegen schon seit langem). Dieser Widerspruch wurde schrittweise durch die Notenbanken überbrückt: an Stelle des nicht vorhandenen "Rentiersverbandes" übernahmen sie - unmerklich und ungeplant - die Interessenvertretung des Finanzkapitals, wissenschaftlich durch den Monetarismus fundiert.) Die (Geschäfts)Banken konzentrierten sich zunehmend auf Finanzmarktaktivitäten, um die gestiegene Ansprüchlichkeit ihrer Einleger zu befriedigen: nicht mehr der kreditnehmende Unternehmer, dessen Investitionen und Innovationen positive Realzinsen "erwirtschaften", war der wichtigste Kunde des Finanzsektors, sondern der Rentier. Die Akteure gewöhnten sich immer mehr an die Systembedingung hoher Unsicherheit mangels eines koordinierenden, weil allgemein akzeptierten Modells der makroökonomischen Erwartungsbildung. Die starken Schwankungen von Zinssätzen, Wechselkursen und Rohstoffpreisen, die in den siebziger Jahren als "Schocks" empfunden worden waren, wurden nun immer mehr als "Normalzustand" begriffen; dementsprechend intensivierten die Akteure ihre Versuche, diese Preisschwankungen durch systematische Spekulation auszunützen, was diese rückwirkend erhöhte. Teilprozesse der wirtschaftlichen Entwicklung 1980 bis 1997Politische Hauptströmungen. Seit Ende der siebziger Jahre waren die konservativen Parteien "im Vormarsch" und lösten in wichtigen Ländern die (Sozial)Demokraten als Regierungspartei ab (Thatcher 1979, Reagan 1980, Kohl 1983). Diese Wende zum politischen Konservativismus war eine wichtige Bedingung für den neoliberalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Der Zusammenbruch des "realen Sozialismus" erleichterte es konservativen Politikern in den neunziger Jahren, weitergehende Forderungen im Sinne des Neoliberalismus zu erheben, insbesondere nach "Rückbau" des in der Prosperitätsphase aufgebauten Sozialstaats, zumal dieser immer mehr "unfinanzierbar" (gemacht) wurde (daß sein Ausbau wesentlich dazu beigetragen hatte, daß das Wirtschaftswachstum in Europa bis Mitte der siebziger Jahre - weit über die Wiederaufbauphase hinaus - viel höher ausfiel als in den USA, wird erst in den nächsten Jahren wahr genommen werden). Technologische Entwicklung. Etwa seit Ende der siebziger Jahre wurde die Mikroelektronik in stark steigendem Ausmaß auch zur Steuerung mechanischer Prozesse eingesetzt: nunmehr enthalten nahezu sämtliche Investitionsgüter elektronische Komponenten; die effiziente Nutzung dieser technischen Innovationen und die sie akkomodierenden sozialen Innovationen in der Unternehmensorganisation ermöglichen enorme Rationalisierungen, insbesondere in der Industrie. Finanzierungsbedingungen, Investitionsdynamik und Staatsverschuldung. Seit Ende der siebziger Jahre liegen die Kredit- und Anleihenzinsen permanent über der Wachstumsrate. Die Unternehmen reagierten auf diesen "Regimewechsel" mit einer Verlagerung von Real- zu Finanzinvestitionen: ihre Kreditaufnahme ist seither permanent kleiner als ihre Zinszahlungen für die "Altschulden", ihre Primärbilanz hat sich also in einen Überschuß "gedreht". Die Haushalte hielten einen Primärüberschuß aufrecht, sie sparten also weiterhin mehr, als sie an Zinserträgen einnahmen. Der wichtigste Grund dafür besteht in der Verteilung der Finanzvermögen und damit der Zinserträge: letztere fließen überwiegend solchen Haushalten zu, deren Lohn- bzw. Gewinneinkommen hoch genug sind, um den laufenden Konsum zu finanzieren. Der durch die Notenbankpolitik verursachte Übergang zu einem permanent positiven Zins-Wachstums-Differential, ließ folgendes "systemische" Problem entstehen: Da die Summe aller Primärsalden gleich Null ist, konnte es dem Staat bei anhaltenden Primärüberschüssen des Unternehmens- und Haushaltssektors nicht gelingen, selbst Primärüberschüsse zu erzielen, er "erlitt" nahezu permanent Primärdefizite: die Investitionsschwäche der Unternehmen dämpfte die Steuereinnahmen und ließ die Zahlungen an Arbeitslose stiegen.) Deshalb ist die öffentliche Verschuldung seit Ende der siebziger Jahre in allen Industrieländern rascher gestiegen als das BIP: das Sparen der privaten Haushalte wurde im zunehmenden Maß in Staatsanleihen transformiert statt in private und öffentliche Investitionen (und damit auch in Arbeitsplätze). Einkommensverteilung. Seit 1980 ist es zur stärksten Umverteilung von den Löhnen zu den Gesamtgewinnen seit 1945 gekommen, wobei die Lohnquote in den europäischen Industrieländern deutlich stärker sank als in den USA; anders ausgedrückt: das Wachstum der Reallöhne blieb in Europa stärker hinter jenem der Arbeitsproduktivität zurück (der "real wage gap" sank stärker) als in den USA. Beschäftigung. Die Verbilligung des Faktors Arbeit relativ zum Faktor Realkapital (sinkender "real wage gap" bei steigenden Realzinsen) konnte die Unternehmer nicht zu einer relativ arbeitsintensiveren Produktionsweise veranlassen. Im Gegenteil: nicht zuletzt wegen der wachsenden Einsatzmöglichkeit der Mikroelektronik nahm die Bedeutung von Rationalisierungsinvestitionen immer mehr zu. Denn im Gegensatz zu den Annahmen der neoliberalen Theorie wird das Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit (Kapitalintensität) nicht von den relativen Faktorpreisen bestimmt, sondern vom prozeßtechnischen Fortschritt (gewissermaßen von den Ingenieuren), und dieser ist irreversibel: ist eine bestimmte Produktionstechnik und damit eine bestimmte Kapitalausstattung je Arbeitsplatz einmal implementiert, so wird eine relative Lohnsenkung keine Rückkehr zu einem früher verwendeten, relativ arbeitsintensiveren Verfahren bewirken, da dieses nunmehr technisch überholt ist.) Obwohl Arbeit relativ zu Kapital billiger wurde und es überdies keine den "Ölpreisschocks" vergleichbare weltwirtschaftlichen Turbulenzen gab, stieg die Arbeitslosigkeit in Europa viel stärker als in den siebziger Jahren; nicht zuletzt wegen des Anstiegs der Finanzkapitalrendite (Zins) stieg auch die Renditenansprüchlichkeit des Realkapitals ("shareholder value"), Investitionen konzentrierten sich deshalb immer mehr auf Rationalisierungen. Dadurch wurden zwar erhebliche Steigerungen der Arbeitsproduktivität pro Stunde und damit auch wachsende Reallöhne ermöglicht, bei gedämpftem Wirtschaftswachstum nahm aber gleichzeitig auch die Arbeitslosigkeit zu. In den USA blieb die Arbeitslosigkeit etwa konstant; neue Jobs entstanden allerdings in den achtziger Jahren primär im Bereich jener Dienstleistungen, deren Erstellung nur geringe Qualifikationen erfordert ("Mac Jobs"): dementsprechend stagnierten Arbeitsproduktivität und Reallöhne, gleichzeitig wurden die "working poor" zu einem immer größeren sozialen Problem.) Inflation. In der Periode seit 1980 sind alle für die Unternehmer weitgehend "exogenen" Produktionskosten unterdurchschnittlich gestiegen: nicht nur die Lohnstückkosten wuchsen langsamer als das Preisniveau (weil die Lohnquote sank), sondern auch die "Zinsstückkosten"), sowie die Rohstoffpreise nahmen nur unterdurchschnittlich zu. Die einzige Kostenkomponente, die stark überdurchschnittlich stieg, waren die "Gewinnstückkosten": Unvollkommene Konkurrenz ermöglichte es den Unternehmern über mehr als 15 Jahre die Güterpreise deutlich stärker zu erhöhen, als es der für sie exogenen Kostenentwicklung entsprach, und so ihre Einkommensposition erheblich zu verbessern (trotz der durch die Globalisierung - angeblich - so sehr gestiegenen Preiskonkurrenz). Seit Anfang der neunziger Jahre wächst die Wirtschaft in den USA erstmals in der Nachkriegszeit stärker als in Europa, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß Arbeitslosigkeit und Budgetdefizit deutlich zurückgingen, während diese "Zwillingsprobleme" in Europa stärker stiegen als je zuvor. Der wichtigste Grund dafür besteht darin, daß die USA die neoliberalen Rezepturen schon unter Reagan ausprobiert hatten, und sich daher auch früher von ihnen verabschiedeten. Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik der USAIn der ersten Hälfte der achtziger Jahre hatte eine monetaristische Wirtschaftspolitik als Kombination hoher Realzinsen, eines steigenden Dollarkurses und einer Fiskalpolitik, welche die Steuern der Bestverdiener senkte und gleichzeitig Sozialleistungen kürzte, die Position der USA auf den Finanzmärkten gestärkt, auf den Gütermärkten aber geschwächt: zwischen 1980 und 1985 stagnierten Investitionen und Exporte, die Konsumnachfrage blieb gedämpft.) Erst 1983 konnte ein Konjunkturaufschwung durch eine enorme Ausweitung des Budgetdefizit eingeleitet werden; diese verursachte allerdings gemeinsam mit dem überbewerteten Dollarkurs eine dramatische Verschlechterung der Leistungsbilanz. Die negativen Auswirkungen der "Reaganomics" veranlaßten die Notenbank der USA zu einem Kurswechsel: zwischen 1984 und 1986 wurden die Leitzinsen um etwa 3 Prozentpunkte gesenkt; dies leitete eine Dollarabwertung ein, welche angesichts des hohen Leistungsbilanzdefizits weit über den realwirtschaftlichen Gleichgewichtskurs der Kaufkraftparität "hinausschoß". Die Unterbewertung des Dollar ermöglichte nicht nur anhaltende Marktanteilsgewinne, sondern machten die USA auch für Direktinvestitionen wieder attraktiv. Ende der achtziger Jahre gab die Notenbank der USA das monetaristische Konzept einer Geldmengensteuerung zur Inflationsbekämpfung auf (ebenso die "Bank of England"), weil es erwiesenermaßen nicht funktioniert hatte. Anfang der neunziger Jahre wurde der geldpolitische Kurswechsel zu einer expansiven Gesamtstrategie erweitert, welche den "systemischen" Charakter von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung berücksichtigte: - Der Diskontsatz wurde für drei Jahre auf das niedrigste Niveau der Nachkriegszeit gesetzt, und damit eine weitere Dollarabwertung gefördert. - Das Bundesbudget wurde primär einnahmenseitig konsolidiert, nämlich durch eine Erhöhung des Grenzsteuersatzes von 31% auf 42%. Zusätzlich wurde die negative Einkommensteuer für die "working poor" stark ausgeweitet. - Die Budgetkonsolidierung der USA war somit darauf gerichtet, nicht den Konsum, sondern das Sparen der Haushalte zu dämpfen und zwar durch eine höhere Besteuerung der Bestverdiener und eine Unterstützung der Einkommensschwächsten. - Die Geldpolitik toleriert eine Inflation von etwa 3%: dadurch können die Realzinsen leichter auf einem Niveau nahe der Wachstumsrate stabilisiert werden. Die Kohärenz der Geld- und Fiskalpolitik ermöglichte den USA gemeinsam mit einem "weichen" Dollar ein so hohes Wachstum, daß sowohl die Arbeitslosigkeit als auch das Budgetdefizit stark zurückgingen. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel der USA bedeutete keine Hinwendung zu sozialstaaatlichen Konzepten, sondern lediglich eine "Entsorgung" jener neoliberalen Symptomdiagnosen und -therapien, welche das Wirtschaftswachstum gedämpft und die Position der USA auf den internationalen Gütermärkten geschwächt hatten. Diese Wende erhöhte auch die gesellschaftliche Kohärenz des amerikanischen Modells: gerade weil der Erfolg als Individuum in Konkurrenz gegen die anderen einen so viel höheren Stellenwert hat als der Erfolg als Teil der Gesellschaft in Solidarität mit den anderen, muß das Gewinnstreben auf die Gütermärkte gerichtet werden, damit auch der "kleine Mann" die Chance erhält, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. Die "Entsorgung" jener Elemente monetaristischer Politik, welche die Realkapitalbildung relativ zur Finanzakkumulation am stärksten benachteiligten, wie hohe Realzinsen und eine überbewertete Währung, fiel den USA umso leichter, als diese Elemente von (Kontinental)Europa unter Führung seiner hegemonialen Notenbank "freiwillig" übernommen wurden; dies zeigte sich nicht nur am Festhalten der Bundesbank an (vergeblichen) Versuchen einer Geldmengensteuerung und ihrer 1989 einsetzenden Hochzinspolitik, sondern insbesondere an der exorbitanten Überbewertung der DM: gemessen an der Gesamtheit aller Güter und Dienstleistungen (BIP) war die DM gegenüber dem Dollar im Durchschnitt der letzten zehn Jahre um 27,6% überbewertet (eine Einheit deutsches BIP war in einheitlicher Währung in diesem Ausmaß teurer als ein solches "made in USA"). Für die Konkurrenzfähigkeit einer Volkswirtschaft kommt es allerdings auf die Preise der international gehandelten Güter an. Gemessen an einem solchen Warenkorb war die DM gegenüber dem Dollar sogar um 33,0% überbewertet. Dementsprechend sind die Exporte der USA seit Mitte der achtziger Jahre mehr als doppelt so rasch gewachsen als jene Deutschlands.) Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik in EuropaKontinentaleuropa wurde erst Anfang der neunziger Jahre vom Neoliberalismus erfaßt, insbesondere in Maastricht 1991: die EU-Länder setzten sich zwar das richtige Ziel, die Staatsverschuldung einzudämmen, doch lag der "Therapie" jene neoliberale (Symptom)Diagnose zugrunde, wonach der Staat allein schuld am Budgetdefizit sei: die Sparpolitik vernachlässigte daher, daß der Staat sein Defizit nur dann ohne Wachstumsverluste reduzieren kann, wenn gleichzeitig die Unternehmen ihr Defizit durch Investitionssteigerungen ausweiten und die Haushalte ihre Überschüsse senken. Tatsächlich verschlechterten sich jedoch die Investitionsbedingungen dramatisch: die deutsche Bundesbank erhöhte die DM-Zinsen auf das höchste Niveau der Nachkriegszeit und damit das Zinsniveau in ganz Europa (da die DM die EU-Leitwährung darstellt). Dies wurde zum wichtigsten Grund für den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse in der EU, das seit 1987 wesentlich zur relativ günstigen Wirtschaftsentwicklung beigetragen hatte. Seit September 1992 ist die EU monetär gespalten, die Wechselkursverschiebungen verschafften den Weichwährungsländern erhebliche Wettbewerbsvorteile auf Kosten der Hartwährungsländer. In der EU als "Gesamtsystem" haben die Wechselkursturbulenzen Investitionen und Handel gedämpft und indirekt die Budgetkonsolidierung erschwert. Die zweite Ursache für die Vertiefung der Krise bestand in den Folgen der Hochzinspolitik für den Konjunkturverlauf; die sprunghaft steigenden Zinszahlungen verschlechterten Gewinne und Finanzlage der Unternehmen so sehr, daß sie 1993 ihre Investitionen stark senkten: auch Deutschland und seine "monetären Satelliten" schlitterten in eine Rezession, die angesichts des expansiven Effekts der deutschen Wiedervereinigung vermeidbar gewesen wäre. Die dritte Ursache für die Wirtschaftskrise in der EU besteht in der durch den Maastricht-Vertrag "gleichgeschalteten" Sparpolitik: angesichts eines weiterhin über der Wachstumsrate liegenden Zinsniveaus und einer daher gedämpften Investitionsbereitschaft, hätten jene Haushalte zu höheren Konsolidierungsbeiträgen herangezogen werden müssen, welche auf Einkommenseinbußen mit einer Reduktion ihres Sparens und nicht ihrer Konsumausgaben reagieren, also der besser Verdienenden. Dies widerspricht jedoch dem neoliberalen Zeitgeist, also versuchten die meisten Staaten, ihre Budgets in hohem Maß durch Senkung der Sozialausgaben zu konsolidieren und dämpften so den Konsum und damit die Umsätze der Unternehmen. Die vierte Ursache für die - besonders im Vergleich zu den USA - ungünstige Wirtschaftsentwicklung in der EU liegt in der anhaltenden Überbewertung der europäischen Währungen insgesamt - gemessen am ECU - gegenüber dem Dollar: auf Basis der Tradables war der ECU im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 1996 um 35,9% überbewertet, selbst zu den Wechselkursen vom Oktober 1997 - also nach der bis August anhaltenden Dollaraufwertung - war der ECU noch immer um mehr als 20% überbewertet.) Die Bilanz neoliberaler Wirtschaftspolitik fünf Jahre nach Maastricht ist ernüchternd. Seit die Regierungen beschlossen haben, kollektiv zu sparen, und die Wechselkurse wieder dem Spiel der Märkte überlassen wurden, ist die Staatsschuldenquote in der EU stärker gestiegen als in jeder anderen Fünfjahresperiode der Nachkriegszeit, gleichzeitig nahm die Zahl der Arbeitslosen um 5 Millionen zu (und dies alles ohne weltwirtschaftliche Turbulenzen wie "Ölpreisschocks"!).) Von den großen EU-Ländern war die an "Reaganomics" erinnernde Kombination von hohen Realzinsen, einem überbewerteten Wechselkurs, einem anhaltend hohen Budgetdefizit und dem Versuch, dieses durch Sozialabbau zu verringern, am stärksten in Deutschland ausgeprägt (nur die Senkung des Spitzensteuersatzes steht noch aus). Dementsprechend entwickelte sich die deutsche Wirtschaft zwischen 1991 und 1996 besonders ungünstig.) Da durch die Ausbreitung des Neoliberalismus das systemische Denken in Vergessenheit geraten ist, sucht man die Ursachen der sich verschärfenden Krise dort festzumachen, wo die einzelnen Krisensymptome in Erscheinung treten (wenn es eine "Globalisierungsfalle" gibt, dann besteht sie in der globalen Verbreitung der suggestiv überzeugenden Simplifikationen des Neoliberalismus, also in einer Globalisierung der Köpfe): - Die Ursache für Arbeitslosigkeit sucht man am Arbeitsmarkt selbst, bei seiner Flexibilität, bei der Qualifikation der Arbeitskräfte, ihrer Mobilität, bei ihren Kosten, bei der Höhe der Arbeitslosenunterstützungen etc., so als ob sich an all diesen Faktoren Grundlegendes geändert hätte seit Anfang der neunziger Jahre (erst seither ist die Arbeitslosenrate in den USA deutlich niedriger als etwa in Deutschland - in den siebziger und achtziger Jahren beschränkte sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit auf die beiden Rezessionen 1974/75 und 1980/82, in den USA ebenso wie in Europa - die Bezeichnung der Arbeitslosigkeit als "strukturell" ist nicht nur deshalb Ausdruck von Ratlosigkeit). - Viele Ökonomen und Politiker ("moderne" Christ- wie Sozialdemokraten) glauben deshalb, daß Europa in wichtigen Bereichen "amerikanisiert" werden müsse, insbesondere die Arbeitslosigkeit könne nur durch Schaffung eines Niedriglohnarbeitsmarkts verringert werden, ohne zu bedenken, daß dafür die Qualifikation der Arbeitskräfte viel zu hoch ist (insbesondere im Vergleich zu der USA) oder daß in Europa mittlerweile sämtliche Qualifikationshierarchien von Arbeitslosigkeit betroffen sind, was gemeinsam mit der Tatsache, daß die Zahl der Arbeitslosen mehr als 20 Mal höher ist als jene der offenen Stellen, auf makroökonomische Ursachen des Problems hinweist. - Die Ursache des Budgetdefizits sucht man bei den Staatsausgaben, insbesondere im Sozialbereich: ihr Anstieg beweise, daß wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten können. Aber wieso konnten wir uns den Sozialstaat vor 10 und 20 Jahren leisten, als Einkommen und Vermögen viel niedriger waren? Und wer ist "wir"? - Ähnlich erhellend ist die These: "Wir leben über unsere Verhältnisse." Tatsächlich leben die europäischen Volkswirtschaften unter ihren Verhältnissen, sie fragen weniger nach als sie produzieren (sich leisten) könnten, dementsprechend hoch sind die ungenützten Kapazitäten von Realkapital und Arbeit, also die Arbeitslosigkeit. Auch dieses Problem hängt unmittelbar mit der - unter dem Einfluß des Neoliberalismus tabuisierten - Zunahme der Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung zusammen: jene Schichten, die fast ihr gesamtes Einkommen ausgeben (müssen), werden relativ ärmer, jene, die fast alles haben, werden immer reicher. - Andere halten die Globalisierung für den Hauptgrund der Krise, ohne zu sehen, daß dieser Prozeß nicht erst seit Ende der achtziger Jahre begonnen hat und daß überdies Europa gerade in dieser Zeit seine Leistungsbilanz gegenüber den Entwicklungs- und Transformationsländern weiter verbessern konnte. Politikern dient diese These als Ausrede für eine miserable Geld- und Fiskalpolitik, Unternehmern als Vorwand für (Real)Lohnsenkungen, welche die internationale Konkurrenz erzwinge (und das bei steigendem Gewinnanteil!). Verkürzt (und in Anlehnung an Karl Kraus) formuliert: Ist der Neoliberalismus jene Krankheit, für deren Heilung er sich hält, so sind seine Konzepte auch für die Diagnose ungeeignet. Ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu einem neuen "Prosperitätsbündnis" besteht in der Schwierigkeit, die Interessen der Bürger gegen die Begünstigung des Finanzkapitals zu organisieren; denn fast alle Bürger sind selbst kleine Rentiers und können deshalb auf ihre Finanzkapitalinteressen hin angesprochen werden; je weniger die "kleinen Sparer" erkennen (können), daß hohe Zinsen, eine harte Währung, eine restriktive Wirtschaftspolitik zur Inflationsbekämpfung und instabile Finanzmärkte ihren viel wichtigeren Interessen als Unternehmer oder Arbeitnehmer schweren Schaden zufügen, desto eher werden sie einer Politik im Interesse des Finanzkapitals zustimmen. Dazu ein einfaches Beispiel: Fragt man eine beliebige Gruppe, ob sie lieber höhere oder niedrigere Zinsen wünsche, so entscheiden sich die Befragten für ersteres: sie sehen nicht, daß als Folge von (zinsbedingten) Investitions- und Produktionseinschränkungen die Verluste bei ihren Lohn- und Gewinneinkommen viel höher ausfallen als die Zuwächse ihrer zumeist bedeutungslosen Zinserträge.) Das bedrückendste Beispiel für die "Verführbarkeit" der Bürger, sich gegen ihre eigenen Hauptinteressen als Unternehmer und Arbeitnehmer zu stellen, stellt die innerdeutsche Währungsunion dar: Helmut Kohl versprach der ostdeutschen Bevölkerung, ihr für eine "schlechte" Ost-Mark eine "harte" DM zu geben und so den Wert ihrer Finanzvermögen zu erhöhen. Dieses Versprechen war ein wesentlicher Grund für Kohls Wahlsieg im Oktober 1990; allerdings gibt es heute in der ehemaligen DDR fast keine Industrie mehr und statt dessen Massenarbeitslosigkeit: die Währungsumstellung 1:1 bedeutete nämlich eine reale Aufwertung der Ost-Mark um mehr als 200%; daß dies der Hauptgrund für der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie gewesen war, macht ein Vergleich mit der tschechischen Industrie deutlich: diese war 1990 nicht besser als jene der DDR gewesen, doch blieb ihr eine "Währungsverhärtung" erspart.) Phase im polit-ökonomischen EntwicklungszyklusPolitisch haben sowohl die Unternehmer als auch die ("hauptberuflichen") Rentiers durch ihr "Bündnis" gegen die Interessen der Arbeitnehmer gewonnen: hohe und steigende Arbeitslosigkeit, die Dominanz einer Wirtschaftstheorie, welche die Arbeitslosen selbst zu den Hauptschuldigen ihrer Lage erklärte (weil zu teuer, zu unflexibel und zu wenig qualifiziert) und der wachsende Einfluß eines neoliberalen Denkens (auch innerhalb der Sozialdemokratie, insbesondere auf "führende Köpfe" in ihrem Streben nach medialer Gunst), drängten die Arbeitnehmer in die Defensive; die Reallöhne sanken relativ zur Arbeitsproduktivität, die Streiktätigkeit hörte nahezu völlig auf, und auch in Kontinentaleuropa begann erstmals ein spürbarer Abbau von Sozialleistungen. Ökonomisch haben freilich auch große Teile der Unternehmerschaft durch die Koalition mit dem Finanzkapital verloren, insbesondere die Besitzer von Klein- und Mittelbetrieben, die darauf angewiesen sind, ihre Gewinne auf Gütermärkten zu machen und dabei durch die Instabilität von Zinssätzen und Wechselkursen behindert werden (im Gegensatz zu großen Konzernen). Auch ein Renditenvergleich zeigt, daß unternehmerische Aktivitäten auf Gütermärkten zur Zeit des "Bündnisses" Realkapital/Arbeit mit Abstand am profitabelsten waren; obwohl die Lohnquote in den sechziger Jahren höher war als in den neunziger Jahren, waren auch die Realkapitalrenditen höher, und zwar hauptsächlich aus drei Gründen: erstens war der Anteil der Zinszahlungen viel geringer gewesen, zweitens stärkte die Lohnquote die Konsumnachfrage und drittens war bei Vollauslastung der Arbeitskräfte auch das Realkapital viel besser ausgelastet. Phase im wirtschaftswissenschaftlichen ParadigmenzyklusIn den siebziger Jahren hatte sich ein "mainstream" in den Wirtschaftswissenschaften in der Bearbeitung von zwei Problemen gebildet: "Widerlegung" der keynesianischen Theorie insbesondere im Zusammenhang mit der Phillips-Kurven-Diskussion und mikroökonomische Fundierung der makroökonomischen Theorie ("Bindeglied" wurde das Konzept der "rationalen Erwartungen"). In den achtziger und neunziger Jahren zerfiel der "mainstream" wieder in verschiedene Einzelströmungen; während sich ein Teil der Ökonomen mit der "real business cycle theory" in eine "virtuelle Realität" zurückzieht, in der vor lauter Gleichgewicht nicht einmal mehr "Ölpreisschocks" oder Finanzkrisen Konjunkturschwankungen auslösen können, sondern nur mehr "Technologieschocks",) ist den meisten anderen Einzelströmungen wie der Theorie des "endogenen Wachstums" oder der "neuen Außenhandelstheorie" gemeinsam, daß sie axiomatisch von einem allgemeinen Gleichgewichtsmodell ausgehen, und dann verschiedene Annahmen modifizieren, um Widersprüche zwischen einzelnen empirischen Beobachtungen und den Aussagen des Grundmodells zu überbrücken, das Modell also zu adaptieren.) Umgekehrt formuliert: keine dieser "Schulen" nahm die Hauptprobleme in der Realität in ihrer Gesamtheit (und damit in ihrem Zusammenhang) als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen makroökonomischen Theorie, die Aussagen dieser Schulen sind deshalb von geringem praktischen Nutzen für die Wirtschaftspolitik. Interaktion von Rahmenbedingungen und TeilprozessenDas Verhältnis zwischen dem "technisch-ökonomischen" und dem "sozial-ökonomischen System" wurde seit den siebziger Jahren durch ein wachsendes Maß an Inkohärenz geprägt. Während die technische Innovationsdynamik - insbesondere infolge der Diffusion der Mikroelektronik - anhaltend stark blieb und so eine kontinuierliche Steigerung des Produktionspotentials ermöglichte, nahm die soziale Innovationsdynamik im Bereich der Makroökonomie nicht nur ab, sondern verkehrte sich in einen Rückschrittsprozeß: sowohl im Bereich der Wissenschaft als auch der Politik kehrte man zu Konzepten zurück, welche bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren dominiert hatten. Unter diesen Bedingungen wurde das technische Produktionspotential in immer geringerem Ausmaß ausgeschöpft, was insbesondere in steigender Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kam. Der Übergang zu den monetaristisch/neoliberalen Systembedingungen verursachte in (West)Europa einen wesentlich stärkeren "Bruch" in der Entwicklung als in den USA; denn die wesentlichsten Komponenten des "Prosperitätsmodells" waren in Europa in der ersten Nachkriegsphase in viel höherem Maß verwirklicht worden als in den USA - dies gilt insbesondere für die korporatistische Organisation der "labor relations", die Vollbeschäftigungspolitik und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Dementsprechend war das Wachstum von Produktion und Beschäftigung in Westeuropa bis Anfang der siebziger Jahre deutlich höher als in den USA und ist seither stärker gesunken. Die unter dem Einfluß des Neoliberalismus zunehmende Inkohärenz in (Kontinental)Europa kommt auch im Orientierungs- und Identitätsverlust der wichtigsten Parteien zum Ausdruck: Ein konstitutives Element der konservativen Parteien war ihre Fähigkeit zur Integration der Interessen von Arbeit und Kapital auf der Basis der christlichen Soziallehre, insbesondere durch das Bekenntnis zu einem aktiven Sozialstaat. Die Ausbreitung des Neoliberalismus entzieht den (ehemals) christ-demokratischen Parteien "schleichend" dieses Fundament, sie erscheinen daher vielen Bürgern, insbesondere bekennenden Christen, immer mehr als Partei der "Reichen". Noch stärker beeinträchtigte der neoliberale Modernismus die Identität und den gesellschaftlichen "Orientierungssinn" der Sozialdemokratie: denn ihre Geschichte und ihre Stärke ist in besonderem Maß mit der Losung "Solidarität" gegen die Losung "jeder ist seines (Un)Glücks Schmied" verknüpft, und damit auch mit dem Ausbau eines ausgleichenden Wohlfahrtsstaats (die Zuneigung konservativer Unternehmer(vertreter), aber auch vieler Medien(macher) zu den "modernen" Sozialdemokraten macht diese Problematik deutlich). AusblickDas aus dieser Analyse resultierende Gesamtbild legt nahe, daß die Entwicklung in den kommenden Jahren der Talsohle eines langfristigen Zyklus entsprechen wird: seine Aufschwungsphase wurde durch ein "Lernen aus der Weltwirtschaftskrise" ermöglicht und begann nach dem Krieg unter dem "leadership" der USA mit dem Wiederaufbau, der Schaffung eines stabilen Weltwährungssystems, der Liberalisierung des Welthandels und einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, nach einer Phase hohen Wachstums bei Vollbeschäftigung erreichte der Entwicklungszyklus Ende der sechziger Jahre seinen Höhepunkt. Der Zusammenbruch von Bretton Woods, die Entwertung der Weltwährung, die "Ölpreisschocks" und die Inflationsbeschleunigung leiteten die Abschwungsphase ein. Die monetaristisch inspirierte Hochzinspolitik, die dadurch mitverursachte Schuldenkrise der Entwicklungsländer, die Verlagerung der Unternehmeraktivitäten von der Real- zur Finanzakkumulation sowie die starken Schwankungen von Zinssätzen, Wechselkursen, und Rohstoffpreisen trugen zu einer weiteren Wachstumsverlangsamung seit Ende der siebziger Jahre bei. Die Entstehung eines neuen "Prosperitätssyndroms" und damit die Aufschwungsphase eines neuen langfristigen Wachstumszyklus dürften erst dann einsetzen, wenn mehrere Grundbedingungen erfüllt sind: - Entwicklung einer neuen, auf realitätsnahen Annahmen aufgebauten makroökonomischen Theorie, welche für die Entwicklungstendenzen der letzten 25 Jahre und die dabei "herangewachsenen" Hauptprobleme einen allgemeinen Erklärungsrahmen anbietet. - Wiederentdeckung von Politik und Staat als die Märktkräfte ergänzende und unverzichtbare Instrumente zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse, und zwar nicht nur wegen der "Eigenwerte" Gleichheit und Demokratie (auf Märkten entscheiden die "Geldstimmen", bei Wahlen hingegen zählt jede Stimme gleich), sondern auch aus Gründen der ökonomischen, ökologischen und sozialen Effizienz und schließlich zur Stabilisierung des Gesellschaft als eines Systems von "counterveiling powers".) - Erneuerung des "europäischen Wegs" als einer Kombination von Konkurrenz auf Märkten und Kooperation in der Politik, und zwar sowohl zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und Staat als auch zwischen den einzelnen Ländern innerhalb der EU; nur durch eine eigenständige, den Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen in Europa entsprechende Wirtschafts- und Sozialpolitik wird es gelingen, an die Traditionen der Prosperitätsphase anzuknüpfen und gleichzeitig die europäische Identität weiterzuentwickeln. Bis dahin wird sich die Krise vertiefen; denn "Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorangeht" (Brecht) - und das Umdenken wird gründlich sein müssen. Anders gesagt: Erst am Ende einer Sackgasse muß man umkehren. Man kann aber schon früher. |
||
© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition bh&ola | Januar 1998 |