VALI NASR:
The Shia Revival. How Conflicts within Islam Will Shape the Future


 
       
    Heft 3/2007  
     
  New York 2006
Norton & Company, 304 S.
  
 

Die Sehnsucht nach möglichst einfachen Erklärungsmustern für die schwelenden Krisen im Nahen und Mittleren Osten ist groß. Anstelle der alten Schlagworte, darunter »Modernisierung, Demokratie, Fundamentalismus und säkularer Nationalismus«, die nicht mehr zum Verständnis der Region ausreichen, ist es laut Vali Nasr in seinem Buch »The Shia Revival« nun eher der »alte Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten, der Ansichten prägt, Vorurteile definiert und politische Grenzlinien zieht« (S. 82).

Auch die Politik verlangt, um handlungsfähig zu bleiben, nach einfachen Erklärungen. So geschehen vor dem Irakkrieg, als Präsident Bush im Januar 2002 in der »Rede zur Lage der Nation« den Irak in die Achse des Bösen einreihte und der größtenteils autokratisch regierten Region die Vision eines befreiten Irak als Geburtsstunde eines neuen, demokratischen Nahen Osten verordnete. Obwohl auch zahlreiche Experten in den usa vor den unkalkulierbaren Folgen einer Invasion warnten, ignorierte die us-Administration die schwierige Gemengelage im Irak. Der Krieg im Irak schuf so tatsächlich einen neuen Nahen Osten, der zum Alptraum des us-Präsidenten wurde: Die terroristische Bedrohung ist rasant angestiegen, Islamisten jeglicher Couleur befinden sich im Auftrieb, der Irak versinkt im Bürgerkrieg und ein weiteres Mitglied der »Achse des Bösen« ist zum größten regionalen Gewinner aufgestiegen: der Iran.

Vali Nasr analysiert in seinem Buch über die schiitische Widergeburt (»The Shia Revival«) die neue Dynamik, die der Irakkrieg freigesetzt hat und seiner Meinung nach die nahe Zukunft der gesamten Region prägen wird: Im Zentrum steht der in jüngster Zeit auch in den Medien allerorten beschworene schiitischsunnitische Gegensatz. »In den nächsten Jahren«, so Nasr, »werden Schiiten und Sunniten um die Macht konkurrieren, erst in Irak, aber schließlich in der ganzen Region« (S. 24). Dass nach Jahrzehnten sunnitischer Herrschaft der Baath-Partei jetzt schiitische Parteien und die schiitische Bevölkerungsmehrheit die Politik im Irak dominieren, bewertet er als tiefen und folgenreichen Einschnitt.

Dabei ruft Nasr, Islamexperte, Politikprofessor an der Naval Postgraduate School und außenpolitischer Berater, zunächst in Erinnerung, dass die us-Politik traditionell auf sunnitische Verbündete gesetzt hat, darunter zutiefst problematische: Mit der Unterstützung der fundamentalistischen Mudschahidin in Afghanistan wurde die Grundlage für die Stärke der Taliban und Al-Qaida gelegt, die rückwärtsgewandte und gewaltsame Versionen der sunnitischen Lehre vertreten. Erst nach dem 11. September stieg Usama Bin Laden, der alte Verbündete, zum neuen Feindbild »Nummer eins« auf. Nach dem Sturz der Taliban 2001 rückte Saddam Hussein in den Mittelpunkt, ein weiterer ehemals verbündeter Sunnit, dessen eigentlich säkular ausgerichteter Baath-Diktatur von Seiten der USA jetzt Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida vorgeworfen wurden.

Mit seiner Beseitigung schlug die Stunde der im Irak unterdrückten Schia; und auch die internationale Politik, so die Schlussfolgerung von Vali Nasr, muss darauf reagieren. Er hält die Schiiten aufgrund ihrer spezifischen Traditionen in Zukunft für wichtige Dialogpartner, während er bei den Sunniten »Militanz und Gewalt« auf dem Vormarsch sieht. Nasr, der auch schon im persönlichen Gespräch US-Präsident Bush den Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten zu erläutern versuchte, fordert deshalb von den usa »breitere und tiefere Beziehungen mit den Schiiten«, die in vielen Ländern der Region zu den benachteiligten Minderheiten zählen (S. 27). Ein solcher Paradigmenwechsel hat sich bisher nicht vollzogen: Die us-Administration hat vielmehr den schiitischen Iran zum zentralen Feindbild in der Region erhoben und versucht, ein Bündnis der sogenannten »moderaten« sunnitischen Staaten zu schmieden, um den Iran einzudämmen. »Moderat« bezieht sich dabei einzig und allein auf die Haltung im arabisch-israelischen Konflikt, womit Jordanien, Ägypten und seit der Vorlage der von der Arabischen Liga angenommenen »saudischen Friedensinitiative« auch das Königreich Saudi-Arabien gemeint sind – ausgerechnet die traditionelle Schutzmacht der sunnitischen Extremisten.

Von der angestrebten Demokratisierung der Region hat sich die US-Administration ohnehin verabschiedet, denn von Ägypten bis Pakistan drohen bei wirklich freien Wahlen (sunnitische) islamistische Parteien an die Macht zu kommen. Die Hartnäckigkeit, mit der beispielsweise dabei der in freien Wahlen zustande gekommene demokratische Sieg der Hamas boykottiert wurde, hat den Glaubwürdigkeitsverlust westlicher Politik in der Region beschleunigt. Nur im Irak arbeitet die Besatzungsmacht usa eng mit schiitischen Parteien zusammen, und hier ausgerechnet mit radikalen Parteien wie der Dawa-Partei und dem Irantreuen Supreme Islamic Iraqi Council (siic), dessen Badr-Milizen massive ethnische Säuberungen vorgeworfen werden.

In neun Kapiteln beschreibt Nasr schiitische Traditionen, die Geschichte und spezifische Herkunft der Schia. Dabei beschreibt er zunächst die religiöse Herkunft der »Gemeinschaft Alis« (arab. »Schiat Ali«), des vierten Kalifen, dessen Nachfolger, die Imame, die Schiiten als rechtmäßige Nachfolger Muhammads betrachten. Seit dem Tod seines Sohnes Hussain auf dem Schlachtfeld von Kerbala gegen die sunnitische Mehrheit, die Ali nicht anerkannte, zelebrieren Schiiten weltweit mit blutigen Passionsspielen ihre Trauer und haben über Jahrhunderte ihre eigene Theologie entwickelt. Im Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass die Imame die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten und die Beschützer des wahren islamischen Glaubens sind. Da der zwölfte Imam Muhammad al-Mahdi nach ihrem Glauben von Gott »verborgen« wurde und spurlos verschwand, warten seitdem die Schiiten auf seine Rückkehr, was der Schia einen spezifischen messianischen Charakter verleiht. Nicht zuletzt deshalb zieht Nasr mehrfach Parallelen zwischen dem Christentum, insbesondere dem Katholizismus und der Schia: Auch die Passionsspiele, der Hang zur Mystik und Versenkung und die hierarchische Ordnung des Klerus geben dazu Anlass. Die Schiiten unterscheiden sich durch eigene Rechtstraditionen, eigene Riten und Festlichkeiten, eine Verehrung islamischer »Heiliger« und die Orientierung an religiösen Autoritäten deutlich von der sunnitischen Tradition.

Nasr beschreibt die politische Geburt der Schia unter der safawidischen Herrschaft im Iran im 16. Jahrhundert und den Beginn des politischen Gegensatzes zum sunnitischen osmanischen Reich. Im Zeitalter des Nationalismus, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, bekannten sich auch die Schiiten zur nationalen Idee, blieben aber in den meist sunnitisch dominierten arabischen Ländern ausgegrenzt. Im Zuge des aggressiven sunnitischen Fundamentalismus seit den 1970er Jahren, der meist wahabitische und explizit anti-schiitische Ausmaße annahm, radikalisierte und politisierte sich auch die Schia. Führer wie Musa as-Sadr im Libanon und Khomeini im Iran stiegen zu politischen Führern der Schiiten auf, die sich neben den klassischen, auf die Religion beschränkten schiitischen Gelehrten etablierten. Khomeinis im Iran etabliertes System der »Herrschaft des Rechtsgelehrten« (Velayate Faqih) wurde und wird von vielen schiitischen Gelehrten mit Misstrauen betrachtet, konnte sich aber dennoch im Iran fest etablieren. Seitdem ist der Iran zumindest das unbestrittene politische Zentrum der Schiiten.

Aufgrund der zunehmenden politischen Aufladung des schiitisch-sunni tischen Gegensatzes, die Nasr selbst beschreibt, werden auch seine Analyse kategorien unscharf, denn die theologischen Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten treten hinter den politischen bzw. ethnischen Gegensätzen zurück. Es stellt sich die Frage, ob der von Nasr betonte Gegensatz nicht eher auf eine Rivalität zwischen der schiitischen Regionalmacht Iran und den arabischen Staaten hinausläuft als auf eine innerislamische Spaltung. Seine These der kulturell-religiösen Trennlinien, die zu zukünftigen schiitisch-sunnitischen Konflikten führen werden, erinnert so in gewisser Weise an Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Allerdings betont Nasr mehrfach, dass in Schiiten und Sunniten keine monolithischen Blöcke zu sehen seien, und relativiert damit selbst die Starrheit dieser Trennlinien. Dennoch überschätzt er wohl insgesamt die Folgen der »schiitischen Wiedergeburt «: Viel zu unterschiedlich sind die religiösen, sozialen und ethnischen Kompositionen der schiitischen Gemeinden in Saudi-Arabien, im post-sowjetischen Aserbaidschan, im Iran und sogar innerhalb des Iraks. Dass er pauschal sunnitische Organisationen – die Muslimbrüder eingeschlossen – als »zukünftige Gefahr « und Träger eines militanten Islam einschätzt, wird Reformprozessen, wie sie z. B. moderate sunnitische Islamisten durchgehen, ebenfalls nicht gerecht.

Die Empfehlung des Autors an die Adresse der us-Administration, im Sinne einer Demokratisierung stärker auf schiitische Minderheiten einzugehen, reicht allein nicht. Wichtiger als wechselnde Bündnisse und ein einseitiger Bezug auf den schiitisch-sunnitischen Konflikt, der diesen wiederum nur zu verstärken droht, wäre eine nachhaltige Strategie gegenüber den moderaten islamistischen Bewegungen, seien sie sunnitischer oder schiitischer Herkunft. Verbindendes sollte betont, Ausgleichendes gefördert werden, denn ein ethnischer Großkonflikt zwischen Schiiten und Sunniten in der gesamten Region, wie ihn Nasr als reale Möglichkeit beschreibt, wäre in der Tat eine Katastrophe. Richtig ist aber, dass die meisten Schiiten, vor allem auch der Iran, ein Interesse an der Eindämmung fanatischer sunnitischer Extremisten haben, denn für diese sind die Schiiten ebenso als »Ungläubige« zu bekämpfen wie der gesamte Westen.

Vali Nasrs Buch ist dennoch eine gute Einführung in die Komplexität des Phänomens sunnitisch-schiitischer Gegensätze. Es zeigt auch, dass, wer die komplexen Konflikte in der Region verstehen will, damit leben muss, dass es bis auf weiteres keine einfachen Antworten und Erklärungsmuster geben wird: Die Etiketten »moderater« und »radikaler«, aber auch »sunnitischer« und »schiitischer« Bewegungen sind unscharf und taugen ebenso wie andere Begriffe nur begrenzt als Analysekategorien. Als vorschnelle Grundlage politischer Handlungsansätze sind sie besonders mit Vorsicht zu genießen.


René Wildangel,
Berlin

     
      
 
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