| |
Die Sehnsucht nach möglichst einfachen Erklärungsmustern für die schwelenden
Krisen im Nahen und Mittleren Osten ist groß. Anstelle der alten Schlagworte,
darunter »Modernisierung, Demokratie, Fundamentalismus und säkularer
Nationalismus«, die nicht mehr zum Verständnis der Region ausreichen, ist es
laut Vali Nasr in seinem Buch »The Shia Revival« nun eher der »alte Gegensatz
zwischen Schiiten und Sunniten, der Ansichten prägt, Vorurteile definiert und
politische Grenzlinien zieht« (S. 82).
Auch die Politik verlangt, um handlungsfähig zu bleiben, nach einfachen Erklärungen.
So geschehen vor dem Irakkrieg, als Präsident Bush im Januar 2002 in
der »Rede zur Lage der Nation« den Irak in die Achse des Bösen einreihte und der größtenteils autokratisch regierten Region die Vision eines befreiten Irak als
Geburtsstunde eines neuen, demokratischen Nahen Osten verordnete. Obwohl
auch zahlreiche Experten in den usa vor den unkalkulierbaren Folgen einer Invasion
warnten, ignorierte die us-Administration die schwierige Gemengelage im
Irak. Der Krieg im Irak schuf so tatsächlich einen neuen Nahen Osten, der zum
Alptraum des us-Präsidenten wurde: Die terroristische Bedrohung ist rasant angestiegen,
Islamisten jeglicher Couleur befinden sich im Auftrieb, der Irak versinkt
im Bürgerkrieg und ein weiteres Mitglied der »Achse des Bösen« ist zum
größten regionalen Gewinner aufgestiegen: der Iran.
Vali Nasr analysiert in seinem Buch über die schiitische Widergeburt (»The
Shia Revival«) die neue Dynamik, die der Irakkrieg freigesetzt hat und seiner
Meinung nach die nahe Zukunft der gesamten Region prägen wird: Im Zentrum
steht der in jüngster Zeit auch in den Medien allerorten beschworene schiitischsunnitische
Gegensatz. »In den nächsten Jahren«, so Nasr, »werden Schiiten und
Sunniten um die Macht konkurrieren, erst in Irak, aber schließlich in der ganzen
Region« (S. 24). Dass nach Jahrzehnten sunnitischer Herrschaft der Baath-Partei
jetzt schiitische Parteien und die schiitische Bevölkerungsmehrheit die Politik im
Irak dominieren, bewertet er als tiefen und folgenreichen Einschnitt.
Dabei ruft Nasr, Islamexperte, Politikprofessor an der Naval Postgraduate
School und außenpolitischer Berater, zunächst in Erinnerung, dass die us-Politik
traditionell auf sunnitische Verbündete gesetzt hat, darunter zutiefst problematische:
Mit der Unterstützung der fundamentalistischen Mudschahidin in Afghanistan
wurde die Grundlage für die Stärke der Taliban und Al-Qaida gelegt, die
rückwärtsgewandte und gewaltsame Versionen der sunnitischen Lehre vertreten.
Erst nach dem 11. September stieg Usama Bin Laden, der alte Verbündete, zum
neuen Feindbild »Nummer eins« auf. Nach dem Sturz der Taliban 2001 rückte
Saddam Hussein in den Mittelpunkt, ein weiterer ehemals verbündeter Sunnit,
dessen eigentlich säkular ausgerichteter Baath-Diktatur von Seiten der USA jetzt
Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida vorgeworfen wurden.
Mit seiner Beseitigung schlug die Stunde der im Irak unterdrückten Schia;
und auch die internationale Politik, so die Schlussfolgerung von Vali Nasr, muss
darauf reagieren. Er hält die Schiiten aufgrund ihrer spezifischen Traditionen in
Zukunft für wichtige Dialogpartner, während er bei den Sunniten »Militanz und
Gewalt« auf dem Vormarsch sieht. Nasr, der auch schon im persönlichen Gespräch
US-Präsident Bush den Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten zu
erläutern versuchte, fordert deshalb von den usa »breitere und tiefere Beziehungen
mit den Schiiten«, die in vielen Ländern der Region zu den benachteiligten
Minderheiten zählen (S. 27). Ein solcher Paradigmenwechsel hat sich bisher nicht
vollzogen: Die us-Administration hat vielmehr den schiitischen Iran zum zentralen
Feindbild in der Region erhoben und versucht, ein Bündnis der sogenannten »moderaten« sunnitischen Staaten zu schmieden, um den Iran einzudämmen. »Moderat« bezieht sich dabei einzig und allein auf die Haltung im arabisch-israelischen Konflikt, womit Jordanien, Ägypten und seit der Vorlage der von der Arabischen
Liga angenommenen »saudischen Friedensinitiative« auch das Königreich
Saudi-Arabien gemeint sind – ausgerechnet die traditionelle Schutzmacht
der sunnitischen Extremisten.
Von der angestrebten Demokratisierung der Region hat sich die US-Administration
ohnehin verabschiedet, denn von Ägypten bis Pakistan drohen bei wirklich
freien Wahlen (sunnitische) islamistische Parteien an die Macht zu kommen.
Die Hartnäckigkeit, mit der beispielsweise dabei der in freien Wahlen zustande
gekommene demokratische Sieg der Hamas boykottiert wurde, hat den Glaubwürdigkeitsverlust
westlicher Politik in der Region beschleunigt. Nur im Irak
arbeitet die Besatzungsmacht usa eng mit schiitischen Parteien zusammen, und
hier ausgerechnet mit radikalen Parteien wie der Dawa-Partei und dem Irantreuen
Supreme Islamic Iraqi Council (siic), dessen Badr-Milizen massive
ethnische Säuberungen vorgeworfen werden.
In neun Kapiteln beschreibt Nasr schiitische Traditionen, die Geschichte und
spezifische Herkunft der Schia. Dabei beschreibt er zunächst die religiöse Herkunft
der »Gemeinschaft Alis« (arab. »Schiat Ali«), des vierten Kalifen, dessen
Nachfolger, die Imame, die Schiiten als rechtmäßige Nachfolger Muhammads
betrachten. Seit dem Tod seines Sohnes Hussain auf dem Schlachtfeld von Kerbala
gegen die sunnitische Mehrheit, die Ali nicht anerkannte, zelebrieren Schiiten
weltweit mit blutigen Passionsspielen ihre Trauer und haben über Jahrhunderte
ihre eigene Theologie entwickelt. Im Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass
die Imame die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten und die Beschützer des
wahren islamischen Glaubens sind. Da der zwölfte Imam Muhammad al-Mahdi
nach ihrem Glauben von Gott »verborgen« wurde und spurlos verschwand, warten
seitdem die Schiiten auf seine Rückkehr, was der Schia einen spezifischen
messianischen Charakter verleiht. Nicht zuletzt deshalb zieht Nasr mehrfach Parallelen
zwischen dem Christentum, insbesondere dem Katholizismus und der
Schia: Auch die Passionsspiele, der Hang zur Mystik und Versenkung und die
hierarchische Ordnung des Klerus geben dazu Anlass. Die Schiiten unterscheiden
sich durch eigene Rechtstraditionen, eigene Riten und Festlichkeiten, eine Verehrung
islamischer »Heiliger« und die Orientierung an religiösen Autoritäten
deutlich von der sunnitischen Tradition.
Nasr beschreibt die politische Geburt der Schia unter der safawidischen Herrschaft
im Iran im 16. Jahrhundert und den Beginn des politischen Gegensatzes
zum sunnitischen osmanischen Reich. Im Zeitalter des Nationalismus, insbesondere
nach dem Ersten Weltkrieg, bekannten sich auch die Schiiten zur nationalen
Idee, blieben aber in den meist sunnitisch dominierten arabischen Ländern ausgegrenzt.
Im Zuge des aggressiven sunnitischen Fundamentalismus seit den
1970er Jahren, der meist wahabitische und explizit anti-schiitische Ausmaße annahm,
radikalisierte und politisierte sich auch die Schia. Führer wie Musa as-Sadr
im Libanon und Khomeini im Iran stiegen zu politischen Führern der Schiiten auf, die sich neben den klassischen, auf die Religion beschränkten schiitischen
Gelehrten etablierten. Khomeinis im Iran etabliertes System der »Herrschaft des
Rechtsgelehrten« (Velayate Faqih) wurde und wird von vielen schiitischen Gelehrten
mit Misstrauen betrachtet, konnte sich aber dennoch im Iran fest etablieren.
Seitdem ist der Iran zumindest das unbestrittene politische Zentrum der
Schiiten.
Aufgrund der zunehmenden politischen Aufladung des schiitisch-sunni tischen
Gegensatzes, die Nasr selbst beschreibt, werden auch seine Analyse kategorien
unscharf, denn die theologischen Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten
treten hinter den politischen bzw. ethnischen Gegensätzen zurück. Es stellt sich
die Frage, ob der von Nasr betonte Gegensatz nicht eher auf eine Rivalität zwischen
der schiitischen Regionalmacht Iran und den arabischen Staaten hinausläuft
als auf eine innerislamische Spaltung. Seine These der kulturell-religiösen
Trennlinien, die zu zukünftigen schiitisch-sunnitischen Konflikten führen werden,
erinnert so in gewisser Weise an Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Allerdings
betont Nasr mehrfach, dass in Schiiten und Sunniten keine monolithischen
Blöcke zu sehen seien, und relativiert damit selbst die Starrheit dieser Trennlinien.
Dennoch überschätzt er wohl insgesamt die Folgen der »schiitischen Wiedergeburt «: Viel zu unterschiedlich sind die religiösen, sozialen und ethnischen Kompositionen
der schiitischen Gemeinden in Saudi-Arabien, im post-sowjetischen
Aserbaidschan, im Iran und sogar innerhalb des Iraks. Dass er pauschal sunnitische
Organisationen – die Muslimbrüder eingeschlossen – als »zukünftige Gefahr « und Träger eines militanten Islam einschätzt, wird Reformprozessen, wie
sie z. B. moderate sunnitische Islamisten durchgehen, ebenfalls nicht gerecht.
Die Empfehlung des Autors an die Adresse der us-Administration, im Sinne
einer Demokratisierung stärker auf schiitische Minderheiten einzugehen, reicht
allein nicht. Wichtiger als wechselnde Bündnisse und ein einseitiger Bezug auf
den schiitisch-sunnitischen Konflikt, der diesen wiederum nur zu verstärken
droht, wäre eine nachhaltige Strategie gegenüber den moderaten islamistischen
Bewegungen, seien sie sunnitischer oder schiitischer Herkunft. Verbindendes
sollte betont, Ausgleichendes gefördert werden, denn ein ethnischer Großkonflikt
zwischen Schiiten und Sunniten in der gesamten Region, wie ihn Nasr als
reale Möglichkeit beschreibt, wäre in der Tat eine Katastrophe. Richtig ist aber,
dass die meisten Schiiten, vor allem auch der Iran, ein Interesse an der Eindämmung
fanatischer sunnitischer Extremisten haben, denn für diese sind die Schiiten
ebenso als »Ungläubige« zu bekämpfen wie der gesamte Westen.
Vali Nasrs Buch ist dennoch eine gute Einführung in die Komplexität des
Phänomens sunnitisch-schiitischer Gegensätze. Es zeigt auch, dass, wer die komplexen
Konflikte in der Region verstehen will, damit leben muss, dass es bis auf
weiteres keine einfachen Antworten und Erklärungsmuster geben wird: Die Etiketten »moderater« und »radikaler«, aber auch »sunnitischer« und »schiitischer«
Bewegungen sind unscharf und taugen ebenso wie andere Begriffe nur begrenzt als Analysekategorien. Als vorschnelle Grundlage politischer Handlungsansätze
sind sie besonders mit Vorsicht zu genießen.
René Wildangel,
Berlin
|