MANUEL PROBST:
Die humanitäre Interventionspflicht


 
       
    Heft 3/2007  
     
  Hamburg 2006
lit Verlag, 127 S.
  
 

Spätestens seit dem Kosovo Krieg ist die Diskussion um Rechtfertigungsversuche humanitärer Interventionen erneut entbrannt. Probst argumentiert in diesem Rahmen, geht aber zugleich weiter. Er möchte humanitäre Interventionen nicht nur rechtfertigen, er möchte in bestimmten Fällen eine moralische Pflicht für Staaten zur Intervention nachweisen, eine humanitäre Interventionspflicht.

Grundlage seiner Argumentation stellt der universelle Charakter der Menschenrechte dar. Wenn diese Rechte mit dem »Menschsein« einhergehen und somit allen Menschen zugesprochen werden sollen, dann müssen sie nach Probst notwendigerweise sechs Eigenschaften aufweisen: Sie müssen universell, unveräußerlich, zeitlos gültig, vorpositiv, individuell und moralisch sein. Eine ausführliche Analyse der liberal-philosophischen Tradition von Hobbes über Locke und Rousseau bis hin zu Kant fördert zu Tage, dass keine dieser Argumentationen die Menschenrechte – entgegen ihrem Selbstanspruch – endgültig begründen kann.

Probst untersucht weiterhin den interessenorientierten Ansatz des emeritierten Philosophieprofessors Ernst Tugendhat, der sich zwar von dem Anspruch löst, die Menschenrechte endgültig begründen zu wollen, nach Probst aber auch keine hinreichende Begründung für die Menschenrechtsidee liefert.

Vor diesem Hintergrund argumentiert Probst folgendermaßen: Die Idee der Menschenrechte ist nicht hinreichend begründet, vielleicht nicht hinreichend begründbar. Dennoch ist dem Kern der Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – ein sehr hohes Maß an »intuitiver Plausibilität« zuzuweisen (S. 50 f). Die Nachvollziehbarkeit der Menschenrechtsidee ist für Probst daran gebunden, wie überzeugend sich die Kritik an dieser Idee darstellt. Gelingt es, die schärfste Kritik am Menschenrechtskonzept zu diskreditieren, steigt notwendigerweise dessen Plausibilität.

Wenn also gute Gründe für die Idee der Menschenrechte sprechen, die wichtigsten Kritikpunkte an dieser glaubwürdig unglaubwürdig gemacht werden können und unsere moralische Intuition dem Kern der Menschenrechtsidee weiterhin Plausibilität zuspricht, dann kann diese Idee zu Recht Grundlage weiterer Argumentationen werden.

Probst untersucht drei zentrale Stränge der Kritik am Menschenrechtskonzept: Die utilitaristische Kritik, die Kritik des epistemischen Relativismus und die des Kulturrelativismus. Der Utilitarist Bentham stellt nicht die Rechte des Einzelnen, sondern das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Mitgliedern einer Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Gerechtfertigt wäre hiernach, wenn ein Arzt einen gesunden Patienten tötete, um mit Hilfe von dessen Organen anderen Patienten das Leben zu retten. Für Probst ist dieses Konzept nicht nur »einfach nicht begründet«, sondern auch »kontraintuitiv« (S. 61). Weitere Kritikstränge vermögen aus der Sicht von Probst ebenso wenig zu überzeugen, so dass das von ihm vorgestellte Menschenrechtskonzept weiter an »Plausibilität« gewinnt. Auch ohne endgültige Begründung sieht Probst sein Konzept als »ausreichend gerechtfertigt « (S. 75) an und verwendet es als Grundlage seiner Argumentation für eine humanitäre Interventionspflicht.

Möchte man auf Grundlage der Universalität der Menschenrechte humanitäre Interventionen rechtfertigen, so sieht man sich vor allem zwei Hauptschwierigkeiten gegenüber: Erstens sollte man glaubwürdig versichern können, warum das in Artikel 2 der UN-Charta formulierte Souveränitätsrecht von Staaten übergangen werden kann. Zweitens sollte nachvollziehbar sein, warum es gerechtfertigt sein soll, Menschenrechte (Dritter!) bei einer humanitären Intervention zu verletzen, soll diese doch dem Ziel dienen, Menschenrechte als solche zu schützen.

Probst begegnet der Souveränitätsproblematik folgendermaßen: Die Regierung eines Staates kann Souveränität gegenüber anderen Staaten nur dann beanspruchen, wenn sie die legitime Vertretung der Bevölkerung dieses Staates ist. Sobald eine Regierung jedoch Menschenrechte massiv verletzt, entfällt damit ihre Legitimität. Souveränität ist in diesem Fall kein Argument gegen eine Intervention.

Der Kern des zweiten Kritikpunkts bezieht sich auf den Versuch, eine humanitäre Intervention und die damit verbundene Verletzung der Menschenrechte weniger Personen durch den Schutz der Menschenrechte vieler Personen »aufzurechnen« und hierdurch zu rechtfertigen. Die Entschuldigung, die Verletzung der Menschenrechte Unbeteiligter sei nicht absehbar gewesen, ist bei dem Standard heutiger westlicher Militärtechnik und deren Ausrichtung auf großen Schaden bei möglichst geringen eigenen Verlusten unglaubwürdig. Die entscheidende Frage ist also: »Wie kann man eine Intervention in dem vollen Wissen rechtfertigen, dass dabei immer auch Unschuldige sterben werden?« (S. 96).

Probst argumentiert: Es muss ein gerechter Grund – z. B. die Verhinderung eines Genozids (S.98) – gegeben sein und die Schuld der Regierung des Staates muss feststehen, gegen welchen die Intervention durchgeführt werden soll. Wenn hingegen durch das Unterlassen einer Intervention Menschen sterben und Menschenrechtsverletzungen in großem Ausmaß zunehmen, ist eine Intervention gerechtfertigt. Jeder, der sich gegen den intervenierenden Akteur stellt, macht sich hiermit durch die Behinderung einer moralisch gerechtfertigten Nothilfe selbst schuldig. Eine Intervention kann also, wenn dieses Nothilfe-Szenario gegeben ist, auch gegen den Willen von Teilen der Bevölkerung des Staates, gegen den interveniert wird, durchgesetzt werden.

Probst bleibt hier allerdings nicht stehen. Für ihn impliziert das den Menschenrechten innewohnende Recht auf Notwehr auch eine Pflicht zur Hilfe. Umdiese Hilfspflicht allerdings nicht überzustrapazieren, koppelt Probst sie an Bedingungen. Zunächst einmal muss der potenzielle Helferstaat überhaupt von den Menschenrechtsverletzungen wissen und muss prinzipiell sowie de facto zu Hilfeleistungen in der Lage sein. Schließlich muss die Hilfe dem Hilfeleistenden zuzumuten sein. Sie darf ihm also »keine größeren Umstände« (S. 104) bereiten und muss sich als »konkrete Hilfe« (ebd.) zeigen, d. h. die Folgen der Unterlassung müssen dem Helfenden klar vor Augen liegen.

Leider wird der Hauptteil des Buches seinem Anspruch, eine humanitäre Intervention als Pflicht zu begründen, nicht gerecht. Im Vergleich zu dem ausführlichen philosophiegeschichtlichen Begründungsversuch der Menschenrechte ist er zu kurz geraten. Die Argumente, die eine humanitäre Intervention rechtfertigen und diesen Nothilfeanspruch zu einer Pflicht ausweiten, sind nur begrenzt überzeugend: Wie verhält es sich beispielsweise, wenn mehrere Akteure von dieser Pflicht »betroffen« sind und wie weit ist das »Zumutbarkeitskriterium« dehnbar?

Bezogen auf die weitere inhaltliche Ausarbeitung lässt sich sagen: Es findet sich viel, nicht aber viel Neues. Das Problem der Aufrechnung von Menschenrechten wird nicht gelöst, sondern umgangen. Auch wenn eine Intervention durch ein Nothilfe-Szenario gerechtfertig ist, werden durch eine Intervention wiederum immer Menschenrechte verletzt, etwa die Menschenrechte Dritter. Die Kriterien der Theorie des gerechten Krieges werden von Probst zwar teilweise ausdifferenziert, nicht aber hinreichend zum Objekt notwendiger Kritik gemacht: Wie weit ist das »ius ad bellum«-Kriterium, d. h. die Erforderlichkeit einer Intervention, dehnbar? Welche Waffengewalt ist angemessen (Kriterium der Angemessenheit) und welches Ziel soll erreicht werden? Wann kann man von einer »Abscheulichkeit« (S. 101) sprechen, die eine humanitäre Intervention rechtfertigt (gerechter Grund)? Denkanstöße zu diesen Bereichen fehlen dem Buch, der Autor weicht hier auf Bekanntes aus. Die von Probst vertretene Idee, Intuitionen als »Prüfsteine« (S. 83) moralischer Theorien eine »entscheidende Bedeutung« zuzusprechen, gerät aufgrund dieser Problematiken an ihre Grenzen.


Frederik Beck,
Mannheim

     
      
 
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