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Spätestens seit dem Kosovo Krieg ist die Diskussion um Rechtfertigungsversuche
humanitärer Interventionen erneut entbrannt. Probst argumentiert in
diesem Rahmen, geht aber zugleich weiter. Er möchte humanitäre Interventionen
nicht nur rechtfertigen, er möchte in bestimmten Fällen eine moralische
Pflicht für Staaten zur Intervention nachweisen, eine humanitäre Interventionspflicht.
Grundlage seiner Argumentation stellt der universelle Charakter der Menschenrechte
dar. Wenn diese Rechte mit dem »Menschsein« einhergehen und somit
allen Menschen zugesprochen werden sollen, dann müssen sie nach Probst
notwendigerweise sechs Eigenschaften aufweisen: Sie müssen universell, unveräußerlich,
zeitlos gültig, vorpositiv, individuell und moralisch sein. Eine ausführliche
Analyse der liberal-philosophischen Tradition von Hobbes über Locke und
Rousseau bis hin zu Kant fördert zu Tage, dass keine dieser Argumentationen die
Menschenrechte – entgegen ihrem Selbstanspruch – endgültig begründen kann.
Probst untersucht weiterhin den interessenorientierten Ansatz des emeritierten
Philosophieprofessors Ernst Tugendhat, der sich zwar von dem Anspruch
löst, die Menschenrechte endgültig begründen zu wollen, nach Probst aber auch
keine hinreichende Begründung für die Menschenrechtsidee liefert.
Vor diesem Hintergrund argumentiert Probst folgendermaßen: Die Idee der
Menschenrechte ist nicht hinreichend begründet, vielleicht nicht hinreichend begründbar.
Dennoch ist dem Kern der Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Solidarität
– ein sehr hohes Maß an »intuitiver Plausibilität« zuzuweisen (S. 50 f).
Die Nachvollziehbarkeit der Menschenrechtsidee ist für Probst daran gebunden,
wie überzeugend sich die Kritik an dieser Idee darstellt. Gelingt es, die schärfste
Kritik am Menschenrechtskonzept zu diskreditieren, steigt notwendigerweise
dessen Plausibilität.
Wenn also gute Gründe für die Idee der Menschenrechte sprechen, die wichtigsten
Kritikpunkte an dieser glaubwürdig unglaubwürdig gemacht werden
können und unsere moralische Intuition dem Kern der Menschenrechtsidee weiterhin
Plausibilität zuspricht, dann kann diese Idee zu Recht Grundlage weiterer
Argumentationen werden.
Probst untersucht drei zentrale Stränge der Kritik am Menschenrechtskonzept:
Die utilitaristische Kritik, die Kritik des epistemischen Relativismus und die
des Kulturrelativismus.
Der Utilitarist Bentham stellt nicht die Rechte des Einzelnen, sondern das
Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Mitgliedern einer Gesellschaft
in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Gerechtfertigt wäre hiernach, wenn ein Arzt einen gesunden Patienten tötete, um mit Hilfe von dessen Organen anderen
Patienten das Leben zu retten. Für Probst ist dieses Konzept nicht nur »einfach
nicht begründet«, sondern auch »kontraintuitiv« (S. 61). Weitere Kritikstränge
vermögen aus der Sicht von Probst ebenso wenig zu überzeugen, so dass das von
ihm vorgestellte Menschenrechtskonzept weiter an »Plausibilität« gewinnt. Auch
ohne endgültige Begründung sieht Probst sein Konzept als »ausreichend gerechtfertigt « (S. 75) an und verwendet es als Grundlage seiner Argumentation für eine
humanitäre Interventionspflicht.
Möchte man auf Grundlage der Universalität der Menschenrechte humanitäre
Interventionen rechtfertigen, so sieht man sich vor allem zwei Hauptschwierigkeiten
gegenüber: Erstens sollte man glaubwürdig versichern können, warum das
in Artikel 2 der UN-Charta formulierte Souveränitätsrecht von Staaten übergangen
werden kann. Zweitens sollte nachvollziehbar sein, warum es gerechtfertigt sein
soll, Menschenrechte (Dritter!) bei einer humanitären Intervention zu verletzen,
soll diese doch dem Ziel dienen, Menschenrechte als solche zu schützen.
Probst begegnet der Souveränitätsproblematik folgendermaßen: Die Regierung
eines Staates kann Souveränität gegenüber anderen Staaten nur dann beanspruchen,
wenn sie die legitime Vertretung der Bevölkerung dieses Staates ist.
Sobald eine Regierung jedoch Menschenrechte massiv verletzt, entfällt damit ihre
Legitimität. Souveränität ist in diesem Fall kein Argument gegen eine Intervention.
Der Kern des zweiten Kritikpunkts bezieht sich auf den Versuch, eine humanitäre
Intervention und die damit verbundene Verletzung der Menschenrechte
weniger Personen durch den Schutz der Menschenrechte vieler Personen »aufzurechnen« und hierdurch zu rechtfertigen. Die Entschuldigung, die Verletzung
der Menschenrechte Unbeteiligter sei nicht absehbar gewesen, ist bei dem Standard
heutiger westlicher Militärtechnik und deren Ausrichtung auf großen Schaden
bei möglichst geringen eigenen Verlusten unglaubwürdig. Die entscheidende
Frage ist also: »Wie kann man eine Intervention in dem vollen Wissen rechtfertigen,
dass dabei immer auch Unschuldige sterben werden?« (S. 96).
Probst argumentiert: Es muss ein gerechter Grund – z. B. die Verhinderung
eines Genozids (S.98) – gegeben sein und die Schuld der Regierung des Staates
muss feststehen, gegen welchen die Intervention durchgeführt werden soll. Wenn
hingegen durch das Unterlassen einer Intervention Menschen sterben und Menschenrechtsverletzungen
in großem Ausmaß zunehmen, ist eine Intervention gerechtfertigt.
Jeder, der sich gegen den intervenierenden Akteur stellt, macht sich
hiermit durch die Behinderung einer moralisch gerechtfertigten Nothilfe selbst
schuldig. Eine Intervention kann also, wenn dieses Nothilfe-Szenario gegeben
ist, auch gegen den Willen von Teilen der Bevölkerung des Staates, gegen den interveniert
wird, durchgesetzt werden.
Probst bleibt hier allerdings nicht stehen. Für ihn impliziert das den Menschenrechten
innewohnende Recht auf Notwehr auch eine Pflicht zur Hilfe. Umdiese Hilfspflicht allerdings nicht überzustrapazieren, koppelt Probst sie an Bedingungen.
Zunächst einmal muss der potenzielle Helferstaat überhaupt von den
Menschenrechtsverletzungen wissen und muss prinzipiell sowie de facto zu Hilfeleistungen
in der Lage sein. Schließlich muss die Hilfe dem Hilfeleistenden zuzumuten
sein. Sie darf ihm also »keine größeren Umstände« (S. 104) bereiten
und muss sich als »konkrete Hilfe« (ebd.) zeigen, d. h. die Folgen der Unterlassung
müssen dem Helfenden klar vor Augen liegen.
Leider wird der Hauptteil des Buches seinem Anspruch, eine humanitäre Intervention
als Pflicht zu begründen, nicht gerecht. Im Vergleich zu dem ausführlichen
philosophiegeschichtlichen Begründungsversuch der Menschenrechte ist er zu
kurz geraten. Die Argumente, die eine humanitäre Intervention rechtfertigen und
diesen Nothilfeanspruch zu einer Pflicht ausweiten, sind nur begrenzt überzeugend:
Wie verhält es sich beispielsweise, wenn mehrere Akteure von dieser Pflicht »betroffen« sind und wie weit ist das »Zumutbarkeitskriterium« dehnbar?
Bezogen auf die weitere inhaltliche Ausarbeitung lässt sich sagen: Es findet
sich viel, nicht aber viel Neues. Das Problem der Aufrechnung von Menschenrechten
wird nicht gelöst, sondern umgangen. Auch wenn eine Intervention
durch ein Nothilfe-Szenario gerechtfertig ist, werden durch eine Intervention
wiederum immer Menschenrechte verletzt, etwa die Menschenrechte Dritter. Die
Kriterien der Theorie des gerechten Krieges werden von Probst zwar teilweise
ausdifferenziert, nicht aber hinreichend zum Objekt notwendiger Kritik gemacht:
Wie weit ist das »ius ad bellum«-Kriterium, d. h. die Erforderlichkeit einer Intervention,
dehnbar? Welche Waffengewalt ist angemessen (Kriterium der Angemessenheit)
und welches Ziel soll erreicht werden? Wann kann man von einer »Abscheulichkeit« (S. 101) sprechen, die eine humanitäre Intervention rechtfertigt
(gerechter Grund)? Denkanstöße zu diesen Bereichen fehlen dem Buch, der
Autor weicht hier auf Bekanntes aus. Die von Probst vertretene Idee, Intuitionen
als »Prüfsteine« (S. 83) moralischer Theorien eine »entscheidende Bedeutung«
zuzusprechen, gerät aufgrund dieser Problematiken an ihre Grenzen.
Frederik Beck,
Mannheim
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