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Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis der
Rüstungswettlauf zwischen Ost und West abgebremst und ein Rüstungskontrollsystem
entwickelt werden konnte. Mit Hilfe dieses Systems
von Verhandlungen und Verträgen gelang es immerhin, dauerhaft zu
verhindern, dass der Kalte in einen heißen Krieg umschlug. Im Zentrum
aller Bemühungen um Rüstungskontrolle stand das atomare Gleichgewicht
zwischen Russland und den usa. Die beiden Mächte brachten das
Kunststück fertig, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und gleichzeitig
ihre atomaren Arsenale einvernehmlich zu reduzieren: 1986 gab es
70.000 atomare Waffenköpfe, Anfang der 1990er Jahre 50.000. Heute
gibt es noch 27.000 Waffenköpfe, von denen 12.500 als operativ einsetzbar
gelten. Allerdings entspricht allein das atomare Sprengpotenzial der
USA aktuell immer noch 140.000 Hiroshima-Bomben.
Eine zentrale Säule der Rüstungskontrollarchitektur war der ABM-
Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von 1972, mit dem Russland und
die usa ihre Raketenabwehrsysteme auf je 100 Raketen reduzierten.
Beide Staaten verringerten dadurch ihre Abwehrfähigkeit so weitgehend,
dass ein Angriff auf den Gegner die eigene Vernichtung zur Folge gehabt
hätte. Später, im INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces
Treaty) von 1987, verzichteten die beiden Großmächte mit den nuklearen
Mittelstreckenraketen gleich auf eine ganze Waffenkategorie und verschrotteten
ca. vier Prozent ihres nuklearen Potenzials. Über 50.000
nicht-nukleare schwere Waffen (Kampfpanzer, Artilleriesysteme u. a.)
wurden im Rahmen des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa
(KSE) nach 1990 von den NATO- und Ex-Warschauer-Pakt-Staaten
unbrauchbar gemacht.
Nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts war
Russland wirtschaftlich angeschlagen und militärisch geschwächt, während
die Grenzen der nato näher rückten. Die usa haben diese Situation
systematisch ausgenutzt, um die Rüstungskontrollarchitektur zu
ihren Gunsten zu verändern. Im Jahr 2002 kündigte Washington schließlich den ABM-Vertrag, der über drei Jahrzehnte das Kernelement der
Partnerschaft mit Russland zur Austarierung des Gleichgewichts des
Schreckens war. Zwar wird die quantitative Reduzierung des Nuklearwaffenpotenzials
fortgesetzt, doch die USA rüsten qualitativ auf, und dies
bei allen Waffengattungen; Russland ist weder wirtschaftlich noch
militärisch in der Lage, Schritt zu halten, und fällt immer weiter zurück.
In einem vieldiskutierten Aufsatz der Zeitschrift Foreign Affairs kamen
K. Lieber und D. Press bereits 2006 zu dem Schluss, dass die Vereinigten
Staaten durch die Modernisierung ihres Militärapparats sowie durch den
Niedergang des russischen bereits heute über eine nukleare Erstschlagfähigkeit
verfügen. Diese Fähigkeit zu einem Atomwaffenangriff, ohne
befürchten zu müssen, durch einen Gegenschlag (Zweitschlag) des Attackierten
selbst zerstört zu werden, hat eine neue Rüstungsdynamik in
Gang gesetzt.
Die Erstschlagfähigkeit eines zentralen Akteurs und die Befürchtung
der anderen, dass Nuklearpotenziale politisch instrumentalisiert werden
könnten, bringt die gesamte Rüstungskontrollarchitektur ins Wanken.
Da der Kreml zu »symmetrischen Reaktionen« wie zur Nachrüstung in
den Bereichen, in denen die usa ihre militärischen Kapazitäten ausweiten,
nach wie vor zu schwach ist, werden asymmetrische Antworten gesucht:
Der KSE-Vertrag wurde ausgesetzt, über die weitere Einhaltung
des Verbots nuklearer Mittelstreckenraketen wird nachgedacht, die Verteidigungsausgaben
haben sich seit 2001 vervierfacht und die Modernisierung
des nuklearen Raketenarsenals wurde in Angriff genommen.
Doch auch andere Atommächte fühlen sich zu Reaktionen provoziert.
Rüstungsexperten befürchten, Russland oder China könnten versucht
sein, den Atomwaffensperrvertrag zu kündigen, und Indien und Pakistan
könnten sich genötigt sehen, sich an einem neuen Wettrüsten zu beteiligen.
Das internationale Rüstungskarussell hat Fahrt aufgenommen.
In der vorliegenden Ausgabe von internationale politik und
gesellschaft zeigen Gerhard Mangott und Martin Senn am Beispiel
des Konflikts über das US-amerikanische Raketenabwehrsystem, das in
Polen und Tschechien stationiert werden soll, dass Russland wieder fähig
und entschlossen ist, den Ambitionen der usa entgegenzutreten. Die Bemühungen
zum weiteren Ausbau der nordamerikanischen militärischen
Vormachtstellung gehen einher mit einer frappierenden Insensibilität
der USA für die sich abzeichnenden Veränderungen der internationalen
Konstellation und erhöhen die Fragilität des Rüstungskontrollgefüges.
Peter W. Schulze zeigt, gleichsam aus der russischen Innenperspektive,
ipg 3/2007 Internationale Politik und Gesellschaft 7
welche Prozesse und Entwicklungen zur Herausbildung des neuen russischen
Selbstbewusstseins geführt haben. Russland definiert sich heute
als Nuklear- und Energiemacht, fordert, als gleichberechtigter Partner
anerkannt zu werden, und hat gezeigt, dass es bereit und in der Lage ist,
Interessen rigoros durchzusetzen. Daraus ergeben sich neue Konfliktrisiken
auch für Europa.
Ein wesentlicher Faktor, der die internationale Konstellation auf absehbare
Zeit stark beeinflussen wird, sind die Perspektiven und die zu
erwartenden Resultate der US-Intervention im Irak. Michael Bröning
gibt Empfehlungen, wie die sich überlappenden Konflikte im Irak politisch
bearbeitet und einer Lösung nähergebracht werden könnten.
Zwei Beiträge der vorliegenden Ausgabe thematisieren die Perspektiven
eines EU-Beitritts der Türkei. Alexander Bürgin analysiert den Stand
der Beitrittsverhandlungen und plädiert dafür, der Türkei glaubhaft Aussichten
für eine Aufnahme zu eröffnen. Andernfalls bestehe die Gefahr,
dass sich das Land von Europa abwende und nationalistische Strömungen
die Oberhand gewönnen. Die Gegenposition bezieht Hans Arnold,
der die Aufnahme der Türkei ablehnt, weil dies der europäische Rechtsrahmen
nicht zulasse, weil historische und politische Argumente dagegensprächen
und weil eine Aufnahme überdies eine Reihe negativer
Effekte zeitigen würde.
Komplementär zu den Schwerpunktthemen exploriert Robert
van Ooyen die politischen Voraussetzungen für eine internationale Strafgerichtsbarkeit.
Simon Koschut fragt nach den Konsequenzen der geheimen
US-Gefangenentransporte für die transatlantischen Beziehungen.
Und Frank Eckardt expliziert, wie in Frankreich die sozioökonomische
Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung politisch verarbeitet
wird.
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