Zu diesem Heft — Heft 3/2007
 
    
  

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West abgebremst und ein Rüstungskontrollsystem entwickelt werden konnte. Mit Hilfe dieses Systems von Verhandlungen und Verträgen gelang es immerhin, dauerhaft zu verhindern, dass der Kalte in einen heißen Krieg umschlug. Im Zentrum aller Bemühungen um Rüstungskontrolle stand das atomare Gleichgewicht zwischen Russland und den usa. Die beiden Mächte brachten das Kunststück fertig, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und gleichzeitig ihre atomaren Arsenale einvernehmlich zu reduzieren: 1986 gab es 70.000 atomare Waffenköpfe, Anfang der 1990er Jahre 50.000. Heute gibt es noch 27.000 Waffenköpfe, von denen 12.500 als operativ einsetzbar gelten. Allerdings entspricht allein das atomare Sprengpotenzial der USA aktuell immer noch 140.000 Hiroshima-Bomben.

Eine zentrale Säule der Rüstungskontrollarchitektur war der ABM- Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von 1972, mit dem Russland und die usa ihre Raketenabwehrsysteme auf je 100 Raketen reduzierten. Beide Staaten verringerten dadurch ihre Abwehrfähigkeit so weitgehend, dass ein Angriff auf den Gegner die eigene Vernichtung zur Folge gehabt hätte. Später, im INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) von 1987, verzichteten die beiden Großmächte mit den nuklearen Mittelstreckenraketen gleich auf eine ganze Waffenkategorie und verschrotteten ca. vier Prozent ihres nuklearen Potenzials. Über 50.000 nicht-nukleare schwere Waffen (Kampfpanzer, Artilleriesysteme u. a.) wurden im Rahmen des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) nach 1990 von den NATO- und Ex-Warschauer-Pakt-Staaten unbrauchbar gemacht.

Nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts war Russland wirtschaftlich angeschlagen und militärisch geschwächt, während die Grenzen der nato näher rückten. Die usa haben diese Situation systematisch ausgenutzt, um die Rüstungskontrollarchitektur zu ihren Gunsten zu verändern. Im Jahr 2002 kündigte Washington schließlich den ABM-Vertrag, der über drei Jahrzehnte das Kernelement der Partnerschaft mit Russland zur Austarierung des Gleichgewichts des Schreckens war. Zwar wird die quantitative Reduzierung des Nuklearwaffenpotenzials fortgesetzt, doch die USA rüsten qualitativ auf, und dies bei allen Waffengattungen; Russland ist weder wirtschaftlich noch militärisch in der Lage, Schritt zu halten, und fällt immer weiter zurück.
In einem vieldiskutierten Aufsatz der Zeitschrift Foreign Affairs kamen K. Lieber und D. Press bereits 2006 zu dem Schluss, dass die Vereinigten Staaten durch die Modernisierung ihres Militärapparats sowie durch den Niedergang des russischen bereits heute über eine nukleare Erstschlagfähigkeit verfügen. Diese Fähigkeit zu einem Atomwaffenangriff, ohne befürchten zu müssen, durch einen Gegenschlag (Zweitschlag) des Attackierten selbst zerstört zu werden, hat eine neue Rüstungsdynamik in Gang gesetzt.

Die Erstschlagfähigkeit eines zentralen Akteurs und die Befürchtung der anderen, dass Nuklearpotenziale politisch instrumentalisiert werden könnten, bringt die gesamte Rüstungskontrollarchitektur ins Wanken. Da der Kreml zu »symmetrischen Reaktionen« wie zur Nachrüstung in den Bereichen, in denen die usa ihre militärischen Kapazitäten ausweiten, nach wie vor zu schwach ist, werden asymmetrische Antworten gesucht: Der KSE-Vertrag wurde ausgesetzt, über die weitere Einhaltung des Verbots nuklearer Mittelstreckenraketen wird nachgedacht, die Verteidigungsausgaben haben sich seit 2001 vervierfacht und die Modernisierung des nuklearen Raketenarsenals wurde in Angriff genommen. Doch auch andere Atommächte fühlen sich zu Reaktionen provoziert. Rüstungsexperten befürchten, Russland oder China könnten versucht sein, den Atomwaffensperrvertrag zu kündigen, und Indien und Pakistan könnten sich genötigt sehen, sich an einem neuen Wettrüsten zu beteiligen. Das internationale Rüstungskarussell hat Fahrt aufgenommen.

In der vorliegenden Ausgabe von internationale politik und gesellschaft zeigen Gerhard Mangott und Martin Senn am Beispiel des Konflikts über das US-amerikanische Raketenabwehrsystem, das in Polen und Tschechien stationiert werden soll, dass Russland wieder fähig und entschlossen ist, den Ambitionen der usa entgegenzutreten. Die Bemühungen zum weiteren Ausbau der nordamerikanischen militärischen Vormachtstellung gehen einher mit einer frappierenden Insensibilität der USA für die sich abzeichnenden Veränderungen der internationalen Konstellation und erhöhen die Fragilität des Rüstungskontrollgefüges. Peter W. Schulze zeigt, gleichsam aus der russischen Innenperspektive, ipg 3/2007 Internationale Politik und Gesellschaft 7 welche Prozesse und Entwicklungen zur Herausbildung des neuen russischen Selbstbewusstseins geführt haben. Russland definiert sich heute als Nuklear- und Energiemacht, fordert, als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden, und hat gezeigt, dass es bereit und in der Lage ist, Interessen rigoros durchzusetzen. Daraus ergeben sich neue Konfliktrisiken auch für Europa.

Ein wesentlicher Faktor, der die internationale Konstellation auf absehbare Zeit stark beeinflussen wird, sind die Perspektiven und die zu erwartenden Resultate der US-Intervention im Irak. Michael Bröning gibt Empfehlungen, wie die sich überlappenden Konflikte im Irak politisch bearbeitet und einer Lösung nähergebracht werden könnten. Zwei Beiträge der vorliegenden Ausgabe thematisieren die Perspektiven eines EU-Beitritts der Türkei. Alexander Bürgin analysiert den Stand der Beitrittsverhandlungen und plädiert dafür, der Türkei glaubhaft Aussichten für eine Aufnahme zu eröffnen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass sich das Land von Europa abwende und nationalistische Strömungen die Oberhand gewönnen. Die Gegenposition bezieht Hans Arnold, der die Aufnahme der Türkei ablehnt, weil dies der europäische Rechtsrahmen nicht zulasse, weil historische und politische Argumente dagegensprächen und weil eine Aufnahme überdies eine Reihe negativer Effekte zeitigen würde.

Komplementär zu den Schwerpunktthemen exploriert Robert van Ooyen die politischen Voraussetzungen für eine internationale Strafgerichtsbarkeit. Simon Koschut fragt nach den Konsequenzen der geheimen US-Gefangenentransporte für die transatlantischen Beziehungen. Und Frank Eckardt expliziert, wie in Frankreich die sozioökonomische Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung politisch verarbeitet wird.

     
 
     
 
 
     
© Friedrich-Ebert-Stiftung   Redaktion/net edition: | 8/2007  < Top