Sammelbesprechung: Vorrecht der Macht oder Vormacht des Rechts?

MICHAEL PIAZOLO (Hrsg.):
Macht und Mächte in einer multipolaren Welt
Wiesbaden 2006, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 327 S.

ANDREA LIESE:
Staaten am Pranger. Zur Wirkung internationaler Regime auf innerstaatliche
Menschenrechtspolitik
Wiesbaden 2006, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 309 S.


 
       
    Heft 2/2007  
     
   
  
 

Macht wird gemeinhin als Fähigkeit eines Akteurs definiert, einen anderen zu einem Handeln zu bewegen, welches er anderenfalls unterlassen hätte. Diese Fähigkeit, Einfluss auf das Handeln eines Akteurs auszuüben, kann sowohl in Form von Zwang (»hard power«) als auch in Form von Überzeugung (»soft power«) in Erscheinung treten. Da Macht erst in der Wechselwirkung von verschiedenen Akteuren entsteht, ist sie zwangsläufig ein relationales Phänomen. Der Machtbegriff beinhaltet also immer Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren. In den internationalen Beziehungen sind dies vorwiegend Staaten, aber zunehmend auch Organisationen.

Es sind insbesondere diese Akteure, die im Mittelpunkt des von Michael Piazolo herausgegebenen Sammelbandes »Macht und Mächte in einer multipolaren Welt« stehen. In den einzelnen Beiträgen wird auf die Macht ausgewählter Staaten und Organisationen im internationalen System nach der Zeitenwende der Jahre 1989/90 eingegangen. Dabei richtet sich der Blick insbesondere auf die Beantwortung der zugrundeliegenden Kernfrage, ob die internationale Politik nach dem Ende der Bipolarität unübersichtlicher geworden ist. Zunächst werden in einem ersten Schritt der komplexe Machtbegriff, Modelle internationaler Ordnung und neue Herausforderungen für die internationale Sicherheitspolitik thematisiert. Nach Piazolo wird Macht nicht allein durch objektive Faktoren wie das ökonomische und militärische Potenzial eines Staates sondern auch durch subjektive Faktoren bestimmt. Hierzu zählen der Wille und die Bereitschaft, dieses Potenzial zur Unterfütterung einer grundlegenden Ordnungsidee auch tatsächlich einzusetzen. Dieser »Wille zur Macht« bedarf laut Piazolo in hohem Maß auch der internen Zustimmung. Folgerichtig werden in den sich anschließenden Länderstudien auch die jeweiligen innerstaatlichen Strukturen untersucht. Hierbei wird in einzelnen Aufsätzen die Stellung der USA, Russlands, Chinas, Japans, Indiens, sowie erstaunlicherweise auch die der Europäischen Union als internationales, beziehungsweise regionales Machtzentrum erörtert und das jeweilige politische System, die wirtschaftliche und militärische Stärke sowie die Außenpolitik der Staaten untersucht.

Wie bei einem Sammelband nicht anders zu erwarten, variieren die einzelnen Abhandlungen und ihr Blick auf die Stellung der Länder in der multipolaren Welt. So geraten bei einigen Länderberichten die Ausführungen zur jeweiligen Innenpolitik der Staaten manchmal länger, als dies für einen Band zur internationalen Politik notwendig erscheint. Hervorzuheben ist jedoch der Beitrag von Stefan Fröhlich zu den USA als der »einzig verbliebenen Supermacht«, die der Autor aus der beispiellosen Kombination von politischem Führungswillen, wirtschaftlichem und militärischem Potenzial und kultureller Hegemonie Amerikas ableitet. Die Frage nach einem eventuellen Andauern des »unipolaren Moments« stellt er aber nicht. Obwohl der Machtbegriff in den Beiträgen ausgiebig behandelt wird, gerät die Diskussion um die tatsächliche Existenz der im Titel des Sammelbandes angesprochenen »multipolaren Welt« etwas kurz. Nimmt man mit Blick auf die USA die Machtressourcen zum Maßstab, kann man eben auch zu dem Ergebnis gelangen, dass die Welt nach Ende des Kalten Krieges gerade nicht in eine multipolare sondern in eine unipolare Phase eingetreten ist.

Michael Piazolo misst interessanterweise auch der Europäischen Union einen staatenähnlichen Status zu, denn seine Abhandlung zur EU als internationaler Machtfaktor wurde bewusst in das Kapitel über regionale und internationale Großmächte einbezogen. Diese Einteilung erscheint sehr gewagt. Piazolo rechtfertigt sie mit einer seiner Meinung nach zunehmend als eigenständig anerkannten EU-Außenpolitik und spricht von einer »derivativen Staatsgewalt« der EU, die sich aus der Rechtssetzungsbefugnis der einzelnen Mitgliedsstaaten ableitet. Er erkennt in der Folge allerdings an, dass die EU auf dem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) dem Prinzip der Kooperation unterliegt und daher eher einer internationalen Organisation ähnelt. Da die EU in ihrer derzeitigen Verfasstheit auf dem Feld der GASP keine bundesstaatliche Struktur aufweist, wäre es logischer gewesen, sie in das abschließende Kapitel zur Rolle der internationalen Organisationen einzubeziehen.

Da Staaten nach wie vor die entscheidenden Akteure in den internationalen Beziehungen sind, nehmen die einzelnen Länderstudien folgerichtig den größten Raum im vorliegenden Sammelband ein. Es ist jedoch ebenso bedeutend, die Rolle von internationalen Organisationen über ihr bloßes Dasein als Foren zwischenstaatlicher Verhandlungen hinaus zu beleuchten. Ein Kapitel über die Macht der internationalen Organisationen und deren Stellung im internationalen System rundet den Sammelband konsequenterweise ab. Hierbei wird insbesondere auf die NATO wie auch auf die Vereinten Nationen eingegangen. Mit Blick auf die von Piazolo einleitend analysierten objektiven und subjektiven Faktoren von Macht stellt sich die Frage, inwieweit bei den internationalen Organisationen die militärisch leistungsfähige Organisation durch eine politische Grundlage (NATO), beziehungsweise der »Wille zur Macht« durch die notwendigen Ressourcen (UNO) untermauert werden.

Insgesamt ist der von Piazolo herausgegebene Sammelband als tour d’horizon durch die internationale Politik durchaus sehr lesenswert und dürfte über das wissenschaftliche Fachpublikum hinaus auch eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Der einleitend gestellten Frage, ob die internationale Politik unübersichtlicher geworden ist oder einfach zu ihrer jahrhundertealten normalen Unordnung zurückgekehrt ist, wird allerdings nicht immer konsequent nachgegangen. Manche Abhandlungen sind zu deskriptiv und zu wenig analytisch. So zum Beispiel Piazolos Überblick über die Vielfalt der internationalen Organisationen. Seine Ausführungen zur Macht als Schlüsselbegriff der internationalen Ordnung sind hingegen überzeugend. Gleiches gilt auch für die meisten Länderstudien. Ebenso ist der Aufbau des Bandes, mit Ausnahme der Einordnung der EU in das Kapitel zu den Länderstudien, weitgehend schlüssig und kompakt.

Beschäftigt sich der von Piazolo herausgegebene Sammelband mit der Wirkung von Staaten und Organisationen auf das internationale System, so wendet Andrea Liese in »Staaten am Pranger« die Blickrichtung und untersucht, inwieweit internationale Regime Einfluss auf die internen Strukturen von Staaten haben. Am Beispiel der Menschenrechtspolitik analysiert sie in dieser überarbeiteten Fassung ihrer Dissertationsschrift die Auswirkungen des Anprangerns staatlichen Fehlverhaltens durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Kontrollorgane der UNO und des Europarats auf das Verhalten von liberalen, beziehungsweise defekten Demokratien. Mit dem Ziel, die Diskrepanz zwischen der Anerkennung einer Norm und ihrer tatsächlichen Beachtung zu erklären, entwirft Liese in einem ersten Schritt ein Theoriemodell, das versucht, konstruktivistische Ansätze mit denen des rationalistischen Institutionalismus zu verbinden. In einem zweiten Schritt wird der Bogen zur empirischen Analyse geschlagen. Mit Hilfe des Theoriemodells untersucht Liese die Auswirkungen des Anprangerns auf die innerstaatliche Menschenrechtspolitik in den »blockierten Demokratien« Ägyptens und der Türkei einerseits, sowie, als Beispiel für liberale Demokratien, auf die Menschenrechtspolitik Großbritanniens, Nordirlands und Israels.

Als theoretisches Fundament dienen Liese dabei sowohl Annahmen der konstruktivistischen Normwirkungsforschung im Bezug auf die globale Geltung von Menschenrechtsnormen, wie auch Annahmen des rationalistischen Institutionalismus mit Blick auf mögliche Verfahren zur Förderung der Normachtung. Während Konstruktivisten in erster Linie dazu in der Lage sind zu erklären, warum es überhaupt zu einer Anerkennung von Menschenrechtsnormen kommt, billigt die Autorin dem Rationalismus eine größere Erklärungskraft für das Fortbestehen von Menschenrechtsverletzungen zu. Die Synthese aus konstruktivistischen und rationalistischen Annahmen ist für Liese daher besonders relevant, da die Anerkennung von Normen als notwendige Bedingung für deren Beachtung anzusehen ist.

In den Länderstudien geht die Autorin anschließend darauf ein, inwieweit die Reaktionsweisen der Staaten am Pranger vom Grad der Anerkennung einer Norm sowie vom Herrschaftssystem eines Staates abhängen. Anhand des Beispiels des internationalen Verbots von Folter und Misshandlung untersucht Liese die eingetretenen, beziehungsweise ausgebliebenen Veränderungen in der innerstaatlichen Menschenrechtspolitik in Ägypten, der Türkei, Israel und Großbritannien in den 1990er Jahren. Das Folterverbot als klassisches Abwehrrecht, welches das Individuum gegenüber dem Staat besitzt, wurde nicht zuletzt deshalb ausgewählt, weil es einerseits als sogenanntes »Recht der ersten Generation« heute als global etablierte Rechtsnorm betrachtet werden kann, andererseits die Lücke zwischen Normanerkennung und Normachtung hierbei besonders weit auseinander klafft. Die Auswahl der Fallstudien ergibt sich durch das Herrschaftssystem und den unterschiedlichen Grad der Unterwerfung unter internationale Kontrollorgane. Als liberale Demokratien unterscheiden sich Großbritannien und Israel beispielsweise hinsichtlich der Anerkennung von Kontrollmechanismen, die bei Großbritannien durch Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention und Anerkennung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof weit stärker ausgeprägt ist als bei Israel. Ähnlich verhält es sich bei den »blockierten Demokratien« Türkei und Ägypten. Als Mitgliedsland des Europarates und mit der Perspektive auf Beitritt zur Europäischen Union unterliegt die Türkei einer weit stärkeren Kontrolle als Ägypten. Liese gelangt zu dem Befund, dass das Anprangern staatlichen Fehlverhaltens vor allem dort am erfolgreichsten ist, wo ein liberales politisches System und stark ausgebaute Verfahren der Rechtsauslegung und Tatsachenermittlung zusammengehen. Dadurch, so Liese, fällt es Staaten weit schwerer, Gegenstrategien zu entwickeln und sich der Legitimationskontrolle zu entziehen. Mit Blick auf die zu Beginn skizzierten konstruktivistischen und rationalistischen Ansätze kommt Liese zu dem Schluss, dass die aus dem Konstruktivismus hervorgehende Logik der Angemessenheit, welche normgeleitetes Verhalten bedingt, hinter der Logik des Zweckrationalismus, also der strategischen Durchsetzung von Interessen zur Nutzenmaximierung, beim Verhalten der Staaten zurücktritt. Regelgeleitetes Verhalten ist demnach das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Insbesondere bei Staaten die sich mit terroristischen Bewegungen konfrontiert sehen, konstatiert Liese eine starke Tendenz zu zweckrationalem, die Sicherheit des Staates gegenüber den Rechten des Individuums betonendem Verhalten. Mit Blick auf den weltweiten Kampf gegen den transnational agierenden Terrorismus, auf den die Autorin in ihren Schlussbetrachtungen leider nicht mehr eingeht, lassen Lieses Ergebnisse eher den Fortbestand, ja vielleicht sogar eine Vergrößerung der Lücke zwischen Normanerkennung und tatsächlicher Normachtung befürchten.

Auch wenn Argumentation und Ergebnisse der Autorin überzeugen, so wird das Buch kaum in der Lage sein, über einen mit dem Thema der Menschenrechtspolitik befassten Expertenkreis hinaus eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. Dafür verlangt Lieses Arbeit zu viele Vorkenntnisse, sowohl auf dem Feld politikwissenschaftlicher Theorien, als auch in der Thematik der Menschenrechtspolitik. Dies muss bei einer aus einer Dissertationsschrift hervorgegangenen Arbeit jedoch nicht unbedingt als Kritik verstanden werden. Für das Fachpublikum vermag Liese sicherlich neue Perspektiven zu erschließen, für den weniger fachkundigen Leser dürfte der Elfenbeinturm der Politikwissenschaft jedoch verschlossen bleiben.


Tim Maschuw, Bonn

     
      
 
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