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Mit dem Aufschwung der Menschenrechte als Leitidee in der Außenpolitik
westlicher Staaten und zunehmend anerkannter Norm in den internationalen
Beziehungen hat sich auch das politik- und sozialwissenschaftliche Interesse an
der Erforschung der Bedingungen und Ursachen internationaler und nationaler
Menschenrechtspolitik vervielfacht. Die finanzielle Förderung großer internationaler
Forschungsprojekte oder die Gründung des Deutschen Instituts für Menschenrechte sind zwei exemplarische Zeichen für diesen Trend Wie bei kaum
einem anderen Thema ist in der Menschenrechtsforschung die Analyse meist auch
mit der Erwartung verknüpft, durch die Vermittlung von Erkenntnissen zur Förderung
und zum Schutz der untersuchten Rechtsnormen beizutragen. Alle drei
hier vorgestellten Publikationen können dies für sich in Anspruch nehmen, wählen
dabei jedoch jeweils eigene Zugänge und machen so die Bandbreite der sozial- und
politikwissenschaftlichen Menschenrechtsforschung sichtbar. Sie reicht von
praxisbezogenen Analysen mit aufklärerischem Anspruch über die statistische Prüfung
theoriegeleiteter Hypothesen bis hin zur vergleichenden qualitativen Forschung.
Drei »Welten« der Menschen-rechtsliteratur, die nur stellenweise miteinander
kommunizieren.
In der Reihe »Basisthemen Politik« ist das Taschenbuch mit dem schlichten
Titel »Menschenrechte«, herausgegeben von Siegfried Frech und Michael Haspel,
erschienen. Laut Kurzbeschreibung vermittelt das Buch einen fundierten Einblick
in bzw. solides Grundwissen über die geschichtliche Entwicklung, die Normen,
Institutionen und Instrumente der Menschenrechtspolitik. Zugleich will es auch
den aktuellen Diskurs nach dem 11. September, Probleme des Menschenrechtsschutzes
und das neue Konzept der Menschenrechtsbildung vorstellen. Thematisch
wird dieses Versprechen weitgehend eingelöst. Als Basis für den Einstieg in
das Thema Menschenrechte ist der Band jedoch nur bedingt geeignet, da ein
systematisches Konzept nicht sichtbar wird. Die Einleitung erklärt lediglich, dass
alle »Autorinnen und Autoren detaillerte Informationen vermitteln, zu einer
sachlichen Diskussion beitragen und Fakten bereitstellen« wollen (S. 13). Eine
Reihe von Kapiteln, insbesondere von Autoren, die an Schnittstellen zwischen
Wissenschaft und aktiver Menschenrechtsarbeit tätig sind, kombinieren empirisch-
theoretische Analyse, normative Betrachtung und politische Forderungen
(z.B. die Beiträge von Lochbihler, Heinz, Mihr und Weber). Dies ist keineswegs
negativ, macht es aber für Einsteiger in die Thematik nicht leicht, wenn sie diese
Aspekte zunächst wieder auseinander dividieren müssen.
Ebenso fehlt eine Begründung für die Auswahl der teilweise sehr speziellen
Themen und der Auslassungen. Warum wird der Minderheitenschutz in einem
eigenen Kapitel behandelt, nicht aber beispielsweise die Debatte um die Abschaffung
der Todesstrafe oder die Rechte der Frau? Warum werden in keinem der
praxisbezogenen Beiträge die wirtschaftlichen und sozialen Rechte behandelt,
obwohl deren Gleichwertigkeit immer wieder hervorgehoben wird? Zusätzlich
erschwerend ist die teilweise äußerst verwirrende Gliederung innerhalb der Beiträge. Es scheint, dass die Redaktion zwingend eine einzige Gliederungsebene
vorgesehen hat, obwohl viele Beiträge zuvor anders strukturiert waren. Dies resultiert
zum Beispiel in Kurzkapiteln mit wenigen Sätzen, die lediglich auf einen
weiteren Unterpunkt der Argumentation hinweisen (z.B. auf Seite 19). Auch einige
stilistische und sprachliche Ungenauigkeiten (z.B. Menschenrechtskonferenz
statt Menschenrechtskommission, S. 50) hätten bei einer sorgfältigeren Redaktion
vermieden werden können.
Jenseits dieser formellen und strukturellen Schwächen enthält der Band aber
durchaus lesenswerte Beiträge und beleuchtet einige blinde Flecken der deutschen
Debatte. Den Einstiegscharakter treffen sehr gut die Kapitel über die Begründbarkeit
der Menschenrechte (wenngleich der Beitrag von M. Koenig einer
der voraussetzungsvollsten ist) und die Vorstellung der Institutionen und Verfahren
des Menschenrechtsschutzes von M. Edinger, die erfreulicherweise die politische
Praxis gebührend berücksichtigt (wenn auch nur im Hinblick auf politische
und bürgerliche Rechte). Sehr zu begrüßen ist die Aufnahme von Beiträgen
zur – noch immer häufig übersehenen – Menschenrechtspolitik der EU (B. Lochbihler)
und zur aktuellen Diskussion um Menschenrechte und Terrorbekämpfung
nach dem 11. September (W. S. Heinz). Der Beitrag von G. Sommer et al. stellt in
klarer und prägnanter Art ernüchternde Forschungsergebnisse zum Kenntnisstand
der Menschenrechte in Deutschland vor. Das Kapitel von K. P. Fritzsche
bietet einen sehr guten Überblick über die Praxis der Menschenrechtsbildung.
Anders als der Beitrag von A. Mihr zum gleichen Thema arbeitet Fritzsche auch
die Konflikthaftigkeit und Umstrittenheit der Menschenrechte heraus. Sprachlich
und inhaltlich wenig überzeugend ist dagegen der Beitrag zu den Minderheitenrechten,
der die im Titel angedeutete These – »Menschenrechte reichen nicht« –
weder hinreichend herausarbeitet noch begründet. Fazit: Insgesamt ist ein Sammelband
mit einer Reihe lesenswerter und aktuell relevanter Beiträge entstanden,
in dem sich Einsteiger in die Thematik allerdings weitgehend allein zurechtfinden
müssen.
Auch Sabine Carey und Steven Poe haben sich zum Ziel gesetzt, eine Einführung
in die Literatur über Menschenrechtsverletzungen zu bieten und neuere
Forschungsergebnisse so darzustellen, dass sie nicht nur für die wissenschaftliche
Community sondern auch für die breite Leserschaft zugänglich sind (S. 9). Hier
enden jedoch die Gemeinsamkeiten zu dem Sammelband von Frech und Haspel.
Die Studien in »Understanding Human Rights Violations« sind durchgängig
nach strengen wissenschaftlichen Kriterien angelegt und verwenden überwiegend
quantitative Methoden, um sehr spezifische Fragestellungen aus der Menschenrechts-debatte
zu beantworten. Ausgangspunkt der Studien ist die Würde des
Menschen (»people matter«, S. 12). Ziel ist es, den politischen Akteuren Hilfeestellung
für effektive Strategien der Menschenrechtspolitik an die Hand zu geben.
Dieses normative Anliegen wird jedoch klar von der streng systematisch und
objektivistisch vorgehenden Untersuchung getrennt. Der große Gewinn dieser Studien liegt darin, dass viele im politischen, teilweise auch wissenschaftlichen
Diskurs verwendete Argumente einer harten Überprüfung unterzogen werden.
Zudem beinhaltet der Band eine Reihe von Analysen, die sich auch der häufig vernachlässigten
Kategorie sozialer und wirtschaftlicher Menschenrechte widmen.
So zeigt der Beitrag von D. Miller, dass der Waffenhandel sich negativ auf persönliche
Integritätsrechte sowie bürgerliche und politische Rechte in den Empfängerländern
auswirkt, jedoch nicht auf die sozialen und wirt-schaftlichen Rechte.
Wenn überhaupt, sind letztere positiv mit Waffenimporten korreliert. R. Callaway
und J. Harrelson-Stephens entwickeln ein Modell, um den Einfluss von Handel
auf den Schutz der Menschenrechte zu untersuchen, wobei auch die indirekten
Effekte über den Einfluss von Außenhandel auf Demokratie und Entwicklung
einbezogen werden. Die statistische Untersuchung bestätigt die liberale Sichtweise:
Handel, insbesondere Exporte, sind positiv mit dem Schutz politischer
und bürgerlicher sowie auch wirtschaftlicher und sozialer Rechte korreliert. Aus
diesem statistischen Zusammenhang die allgemeine Forderung abzuleiten, Staaten
sollten grundsätzlich eine offene Handelspolitik betreiben, um Wohlstand,
Demokratie und Menschenrechte zu fördern (S. 102), ist in Anbetracht der Komplexität
dieser Zusammenhänge und vieler qualitativer Studien, die ein differenzierteres
Bild zeichnen, allerdings nicht angemessen. Spannend sind auch die
Beiträge, die sich mit statistischen Methoden an bislang vor allem qualitativ untersuchte
Forschungsthemen heranwagen: das Verhältnis zwischen unter-schiedlichen
Dimensionen von Menschenrechten und die Frage, ob es einen »trade off«
zwischen wirtschaftlichen und politischen Rechten gibt (Milner et al.); die Berücksichtigung
von Menschenrechten bei der Vergabepraxis von Weltbank und
IMF (Abouharb/Cingranelli); die Systematik in der Rechtsprechung des Internationalen
Straf-gerichtshofes für das Ehemalige Jugoslawien (Meernik/King); oder
der Zusammenhang zwischen den Inhalten von Verfassungen und der realen
Menschenrechtslage (Camp Keith).
Eindrucksvoll ist der Versuch von S. Poe, verschiedene Teilergebnisse der in
jüngster Zeit zunehmenden Zahl von Studien zu den Ursachen von Menschenrechtsverletzungen,
Repression und Staatsterror in einem integrativen theoretischen
Modell zusammenzuführen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Regierungen
Menschenrechte verletzen, um das Verhältnis zwischen der Stärke
ihrer Herrschaftsposition und der Bedrohung durch oppositionelle Kräfte zu ihren
Gunsten zu beeinflussen. Mit diesem Modell kann nachgezeichnet werden,
wie Einflussfaktoren wie z.B. wirtschaftliche Entwicklung, Bevölkerungswachstum
oder Kriegsbeteiligung auf die Menschenrechtslage einwirken, indem sie jeweils
das Stärke/Bedrohungs-Verhältnis (Strength/Threat ratio oder S/T ratio)
verändern. S steht in diesem Modell für die politische Stärke des Regimes im innenpolitischen
Kräftefeld, während T die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit
beschreibt, dass eine Bedrohung durch innenpolitische gegnerische Kräfte das
Regime zu Fall bringt. Nach dem Modell neigen Regierungen dann zur Reaktion (z.B. verstärkte Repression), wenn die Bedrohung stärker wächst als die Machtposition
des Regimes, oder wenn die interne Bedrohung durch oppositionelle
Kräfte die Stärke der herrschenden Regierung sogar übersteigt. Interessant ist
dieses Modell auch für Konditionalitäts- und Sanktionsentscheidungen westlicher
Regierungen. Beispielsweise erläutertet Poe, dass ein Entzug von Entwicklungshilfe
ohne Kommunikation der Bedingungen, unter denen Hilfe wieder
aufgenommen wird, eher einen negativen Einfluss auf die Menschenrechtslage
haben kann: Das Regime wird geschwächt, Repression muss in der Folge erhöht
werden, um das Stärke/Bedrohungs-Verhältnis konstant zu halten. Besteht hingegen
die Aussicht für die herrschenden Eliten, durch eine Verbesserung der
Menschenrechtssituation externe Unter-stützung zu sichern und damit die eigene
Position zu stärken, kann dies aus der angenommenen Rationalität heraus zu einer
Senkung des Repessionsniveaus führen. Kurz: Sanktion ohne Kommunikation
ist wenig Erfolg versprechend. Die Eleganz des Modells ist aber auch zugleich
seine Schwäche. So ist insbesondere bei vielen Ländern, die sich in einem
Transitionsprozess befinden, die Annahme wenig realistisch, dass es sich bei Regierungen
um einheitliche, monolithische Akteure handelt, die über vollständige
Informationen über die Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen verfügen.
Auch bei den quantitativ-empirischen Beiträgen in »Understanding Human
Rights Violations« hat die Eleganz der streng hypothesengeleiteten statistischen
Untersuchungen ihren Preis. Zum einen ist dies das Risiko statistischer Artefakte.
Zum anderen dürften sich insbesondere Praktiker und Kenner von Einzelfällen
die Frage stellen, welches die Prozesse sind, die sich hinter den statistischen Zusammenhängenden
verbergen. Denn so häufig von Effekten und Kausalitäten
gesprochen wird, so wenig können die statistischen Modelle aufzeigen, wie beispielsweise
Handel oder Verfassungsartikel konkret auf die Lage der Menschenrechte
wirken und ob nicht häufig von einer Interdependenz zwischen den Variablen
auszugehen ist.
Ingesamt stellt der Sammelband jedoch einen Meilenstein der empirischen
Menschenrechtsforschung dar. Die systematischen Analysen beinhalten durchgängig
einen guten Überblick über den Forschungsstand. Die Ergebnisse sind
Wegweiser für weitergehende, auch qualitative und vergleichende Studien und
daher unabhängig von den konkreten Daten längerfristig relevant. Die Herausgeber
haben den Band hervorragend strukturiert, die einzelnen Teilkapitel mit
einer kurzen Einführung versehen und in der Zusammenfassung die übergeordneten
Ergebnisse und Orientierungen für die zukünftige Forschung benannt. Das
Ziel, Menschenrechtsforschung einer »breiten Leserschaft« zugänglich zu machen,
wird aber nur bedingt erfüllt, denn die Texte sind im akademischen Stil verfasst
und das Verständnis der quantitativen Untersuchungsanlagen und ihrer
Ergebnisse erfordert sozialwissen-schaftliche Vorkenntnisse.
Ein hervorragendes Beispiel, wie aufbauend auf statistischen Erkenntnissen
mit systematischer empirischer Forschung die Prozesse und Mechanismen auf gedeckt werden können, die für anhaltende Menschenrechts-verletzungen relevant
sind, ist die Monografie »Staaten am Pranger« von Andrea Liese. Ausgangspunkt
ihrer Studie ist der Befund, dass trotz zunehmender internationaler
Institutionalisierung und der steigenden Zahl der Anerkennung der Norm des
Folterverbots die Anwendung der Folter nicht signifikant zurückgegangen ist.
Durch vier vergleichende Fallstudien (Großbritannien, Israel, Ägypten und Türkei)
arbeitet Liese heraus, welche Mechanismen diese Lücke zwischen Normanerkennung
und Normachtung erklären können und unter welchen Bedingungen
die Lücke verkleinert werden kann. Alle vier untersuchten Staaten werden von
staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren wegen der Normverletzung kritisiert
und damit an den Pranger gestellt. Die Staaten wehren sich jedoch gegen das
Anprangern mit rhetorischen Wendungen (z.B. Leugnen) und entwickeln Gegenstrategien,
insbesondere die Bedrohung von NGOs und Geheimhaltung von
Untersuchungsergebnissen. Im Vergleich der Fälle zeigt sich zudem, dass das Anprangern
umso effizienter ist, je demokratischer ein Staat ist und je stärker die
internationalen Kontrollverfahren sind. Daraus lässt sich positiv schlussfolgern,
dass internationale Menschenrechtsregime doch positiv wirken, sofern sie stark
entwickelt und die Kontrollorgane mit hinreichenden Kompetenzen ausgestattet
sind, wie dies etwa für die Antifolterkonvention des Europarats gelten kann. Neben
der dichten empirischen Untersuchung zeichnet sich die Studie durch eine
umfassende Einbettung in die aktuelle Theoriedebatte über die Normwirkung
des Menschenrechtsregimes in den internationalen Beziehungen aus. In der Auseinandersetzung
zwischen so genannten konstruktivistischen und rationalistischen
Erklärungsansätzen findet Liese eher eine Bestätigung für letztere. Der
größte Teil der staatlichen Reaktionsweisen kann mit einer Logik der Zweckrationalität
erklärt werden, während die von konstruktivistischen Studien angenommene
Verinnerlichung und Habitualisierung von Normen nicht beobachtbar
ist. Warum kommt es trotz Normanerkennung nicht zur Normachtung?
Liese argumentiert hier, dass alle vier untersuchten Staaten mit einer Situation der
Normkonkurrenz konfrontiert sind. In allen untersuchten Fällen befindet sich
der Staat im Kampf gegen Terrorismus. Das Folterverbot erschwert ein hartes
Vorgehen des Staates, um die nationale Sicherheit und Integrität zu schützen –
was ebenfalls als herausragende Norm beschrieben werden kann. Im Falle solcher
Normkonkurrenz kommt es – so Lieses Deutung – zur »Entkoppelung«. Dieser
dem soziologischen Institutionalismus entlehnte Begriff beschreibt die Trennung
der rhetorischen Handlung oder Normanerkennung von der faktischen Normumsetzung.
Diese Deutung ist überzeugend und relativiert zumindest teilweise
die Erklärungskraft des Rationalismus (wenngleich die diesbezüglichen Schlussfolgerungen
der Autorin hier sehr vorsichtig bleiben). Denn letztlich sind es doch
auch tief verankerte Normen, die das Handeln der Regierungen bestimmen – es
sind aber nicht immer die Menschen-rechtsnormen, die den Diskurs dominieren.
Die wichtige praktische Schlussfolgerung der Studie: NGOs und staatliche Institutionen müssen im Falle derartiger Konstellationen ihre Strategie darauf ausrichten,
die behauptetet normative Konkurrenz zwischen Folterverbot und nationaler
Sicherheit als Mythos zu entlarven (S. 282). Nach dem 11. September und
im Lichte der Praktiken der Terrorbekämpfung auch in westlichen Demokratien
(vgl. den oben erwähnten Beitrag von W. S. Heinz) gewinnt diese empirisch und
theoretisch fundierte Handlungsempfehlung eine weit über die Fallstudien hinausweisende
und hochaktuelle Tragweite.
Marika Lerch,
Berlin
[1]
Vgl. z.B. Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Katrhyn (ed.): The Power of
Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge, Cambridge
University Press 1999. Dieser Band fasst die Ergebnisse eines international
vergleichenden Forschungsprojekts zur Durchsetzung von Menschenrechtsnormen
in Transformations- und Entwicklungsländern zusammen. |