CLAUS D. KERNIG:
Und mehret euch?
Deutschland und die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert


 
       
    Heft 1/2007  
     
  Bonn 2006
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 231 S.
  
 

Eine wissenschaftliche Abhandlung – die aus einem Wutanfall entstand! Kann das gut gehen? Es kann. Das Buch sollte eigentlich »Schirrmachers Wahn« heißen und sich gegen die Thesen des Frankfurter Zeitungsmachers richten, der den gesellschaftlichen Jugendwahn postulierte und das Methusalem-Komplott ausrief. Dessen Zukunftsszenario einer bleibenden Anziehungskraft für Einwanderer wird schlicht als »irrwitzig« abqualifiziert (S. 103). Nicht einmal Schröders bescheidene Angebote für einige tausend Computerspezialisten fanden ein nachhaltiges Echo. Auch im Zeitalter der Globalisierung stellt die Weltbevölkerung keine Globalgesellschaft dar. Migranten wird es weiterhin geben, aber sie stellen überwiegend wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Wo qualifizierte Kräfte auftauchen, werden sie sich nach Kernig andere Ziele als die »Festung Europa« aussuchen.

Auch in den USA gibt es eine Altenproblematik. Sie betrifft dank großer Einwanderung aber nur die »Wasps« (white anglosaxon protestants). Neu an dem Schreckensszenario ist, dass erstmals auch Nationen mit überwiegend katholischer Bevölkerung in Europa die höchsten Überalterungsquoten aufweisen. Schon graphisch lässt sich der Wandel zeigen. Aus der himmelweisenden Pyramide demographisch aufsteigender Länder ist eine »Sargform« geworden. Die Gründe für diese Entwicklung sind eine Fortpflanzungsverweigerung, verlängerte Lebenserwartung und Zuwanderungssperren. Das deutsche Wirtschaftswunder verstärkte den Trend zum »blauen Wunder« in der Demographie.

Deutschland hat mit der Subventionierung veralteter Produktionsstätten die Weichen falsch gestellt und über Gebühr unqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland angelockt. Hohn wird über die Illusionisten gegossen, die glaubten, die Migranten würden sich integrieren und brav zum Deutschunterricht antreten. Die Landwirtschaft wurde nach 1945 zum Hätschelkind des Wiederaufbaus. Die Unterstützung der Landwirtschaft in der Dritten Welt, die ohne ausreichende Hilfe in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hingegen war lückenhaft und nicht selten fehlgeleitet. Die Baby-Boomer kommen 2025–2034 ins Rentenalter, die Rentnerwelle prägt die Sargform der Alterspyramide noch mehr aus.

Nach dem »cultural turn« in den Sozialwissenschaften schossen die kulturalistischen Hypothesen ins Kraut. Der verdienstvolle Herausgeber der Enzyklopädie »Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft« hat eine Aversion gegen den Marxismus, bleibt aber »Marxianer«, indem er den heutigen Konflikt nicht als Kampf der Kulturen, sondern wirtschaftlich als Nord-Südkonflikt zwischen armen und reichen Ländern deutet. Die Osterweiterung der EU schien manchem Politiker auch bevölkerungspolitisch geboten. Kernig sieht in den Alterspyramiden der neuen Mitglieder weitere »Sargparaden eines Sammelbegräbnisses« im gigantischen Altersheim Europa voraus. Die Hoffnung auf einen riesigen Binnenmarkt in Russland für deutsche Exporte hält der Autor für falsch. Die Löhne werden nicht niedrig bleiben, aber die Kaufkraft sinkt wegen der dortigen Überalterung. China ist wegen seiner Einkind-Politik kein Hoffnungsträger mehr, Indien wächst zwar rasant, aber sein Wirtschaftswachstum hält nicht Schritt. Megacities wachsen und mit ihnen der soziale Sprengstoff in der Dritten Welt. Israel wird immer kleiner in einem Meer von 190 Millionen Arabern. Kriege in Nahost haben keine Siegeschancen mehr.

In keinem Bereich ist so häufig mit überzogenen Prognosen gearbeitet worden, die sich auf angeblich demographische »Gesetze« stützten. Prognosen über die Ölreserven erweisen sich in den Augen Kernigs als falsch. Die Hoffnung auf alternative Energien ist für den Autor Illusion. Unkonventionelle Energiequellen setzen Vorfabrikate voraus, deren Herstellung viel Energie kostet. Ab 2010 gilt für ihn Campbells Parole: »The Party is over!« Der Autor sattelt noch drauf: »Die Drinks gehen zwar zu Ende, aber die Stimmung ist noch prächtig« (S. 166).

Gibt es Hoffnungen auf grundlegende technologische Innovationen? Kernig gehört nicht zu den Autoren, die mit unkonditionierten Langzeitprognosen hausieren gehen. Er sieht allenfalls einen 15-Jahreszeitraum als überschaubar an. Globalisierung erweist sich als umstrittener Rettungsanker, auch wenn unternehmensintern durch Vernetzung nun 24 Stunden rund um den Globus gearbeitet werden kann. Übernationale Steuerung scheint ein Ausweg aus der Krise. Aber die gigantischen internationalen Organisationen haben sich nach Kernig in eine »Großrechnerfalle« hineinmanövriert, weil Ziele und Ideologien nicht zu harmonisieren sind. Vier Krisen drohen sich zu kumulieren. Die Bevölkerungskrise und in ihrem Gefolge die Verarmung der Dritten Welt, Metropolisierung und Fundamentalismus sind drei Krisen, die in wenigen Jahrzehnten auf die Ressourcenkrise treffen werden. Ohne Wissenschaftsjargon bei diesem Autor kann die Bevölkerungskrise als die »unabhängige Variable« angesehen werden, die mit den drei anderen Krisen verwoben ist. Die Wissenschaft veröffentlicht die Prognosen, die Politik nimmt sie unzureichend zur Kenntnis.

Auch wenn die pessimistischen Schlüsse nicht von allen Wissenschaftlern geteilt werden, ist dies eine umfassende Analyse sozialer Prozesse auf 200 Seiten, die man mit Genuss und Schrecken liest. Das Buch ist äußerst lesbar geschrieben. Mehrfarbige Graphiken machen das Material für Didaktiker brauchbar. Manche sprachlichen Metaphern verdichten sich zu poetischer Prägnanz. Zum Beispiel: in zwei Dritteln der hoch entwickelten Länder sehen in der drastischen Sprache des Autors die »verbeulten Alterspyramiden« aus »wie schrumpfende Heißluftballons kurz nach der Landung«. Kernig polemisiert gelegentlich, noch lieber aber zeigt er Herablassung gegenüber den Illusionisten in der politischen Szene.


Klaus von Beyme

     
      
 
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