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Eine wissenschaftliche Abhandlung – die aus einem Wutanfall entstand! Kann
das gut gehen? Es kann. Das Buch sollte eigentlich »Schirrmachers Wahn« heißen
und sich gegen die Thesen des Frankfurter Zeitungsmachers richten, der den
gesellschaftlichen Jugendwahn postulierte und das Methusalem-Komplott ausrief.
Dessen Zukunftsszenario einer bleibenden Anziehungskraft für Einwanderer
wird schlicht als »irrwitzig« abqualifiziert (S. 103). Nicht einmal Schröders bescheidene
Angebote für einige tausend Computerspezialisten fanden ein nachhaltiges
Echo. Auch im Zeitalter der Globalisierung stellt die Weltbevölkerung
keine Globalgesellschaft dar. Migranten wird es weiterhin geben, aber sie stellen
überwiegend wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Wo qualifizierte Kräfte auftauchen,
werden sie sich nach Kernig andere Ziele als die »Festung Europa« aussuchen.
Auch in den USA gibt es eine Altenproblematik. Sie betrifft dank großer Einwanderung
aber nur die »Wasps« (white anglosaxon protestants). Neu an dem
Schreckensszenario ist, dass erstmals auch Nationen mit überwiegend katholischer
Bevölkerung in Europa die höchsten Überalterungsquoten aufweisen.
Schon graphisch lässt sich der Wandel zeigen. Aus der himmelweisenden Pyramide
demographisch aufsteigender Länder ist eine »Sargform« geworden. Die
Gründe für diese Entwicklung sind eine Fortpflanzungsverweigerung, verlängerte
Lebenserwartung und Zuwanderungssperren. Das deutsche Wirtschaftswunder
verstärkte den Trend zum »blauen Wunder« in der Demographie.
Deutschland hat mit der Subventionierung veralteter Produktionsstätten die
Weichen falsch gestellt und über Gebühr unqualifizierte Arbeitskräfte aus dem
Ausland angelockt. Hohn wird über die Illusionisten gegossen, die glaubten, die
Migranten würden sich integrieren und brav zum Deutschunterricht antreten.
Die Landwirtschaft wurde nach 1945 zum Hätschelkind des Wiederaufbaus. Die
Unterstützung der Landwirtschaft in der Dritten Welt, die ohne ausreichende
Hilfe in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hingegen war lückenhaft und nicht
selten fehlgeleitet. Die Baby-Boomer kommen 2025–2034 ins Rentenalter, die
Rentnerwelle prägt die Sargform der Alterspyramide noch mehr aus.
Nach dem »cultural turn« in den Sozialwissenschaften schossen die kulturalistischen
Hypothesen ins Kraut. Der verdienstvolle Herausgeber der Enzyklopädie
»Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft« hat eine Aversion gegen den
Marxismus, bleibt aber »Marxianer«, indem er den heutigen Konflikt nicht als
Kampf der Kulturen, sondern wirtschaftlich als Nord-Südkonflikt zwischen armen
und reichen Ländern deutet. Die Osterweiterung der EU schien manchem
Politiker auch bevölkerungspolitisch geboten. Kernig sieht in den Alterspyramiden
der neuen Mitglieder weitere »Sargparaden eines Sammelbegräbnisses« im
gigantischen Altersheim Europa voraus. Die Hoffnung auf einen riesigen Binnenmarkt
in Russland für deutsche Exporte hält der Autor für falsch. Die Löhne
werden nicht niedrig bleiben, aber die Kaufkraft sinkt wegen der dortigen Überalterung.
China ist wegen seiner Einkind-Politik kein Hoffnungsträger mehr, Indien
wächst zwar rasant, aber sein Wirtschaftswachstum hält nicht Schritt. Megacities
wachsen und mit ihnen der soziale Sprengstoff in der Dritten Welt. Israel
wird immer kleiner in einem Meer von 190 Millionen Arabern. Kriege in Nahost
haben keine Siegeschancen mehr.
In keinem Bereich ist so häufig mit überzogenen Prognosen gearbeitet worden,
die sich auf angeblich demographische »Gesetze« stützten. Prognosen über
die Ölreserven erweisen sich in den Augen Kernigs als falsch. Die Hoffnung auf
alternative Energien ist für den Autor Illusion. Unkonventionelle Energiequellen
setzen Vorfabrikate voraus, deren Herstellung viel Energie kostet. Ab 2010 gilt
für ihn Campbells Parole: »The Party is over!« Der Autor sattelt noch drauf: »Die
Drinks gehen zwar zu Ende, aber die Stimmung ist noch prächtig« (S. 166).
Gibt es Hoffnungen auf grundlegende technologische Innovationen? Kernig
gehört nicht zu den Autoren, die mit unkonditionierten Langzeitprognosen hausieren
gehen. Er sieht allenfalls einen 15-Jahreszeitraum als überschaubar an. Globalisierung
erweist sich als umstrittener Rettungsanker, auch wenn unternehmensintern
durch Vernetzung nun 24 Stunden rund um den Globus gearbeitet
werden kann. Übernationale Steuerung scheint ein Ausweg aus der Krise. Aber
die gigantischen internationalen Organisationen haben sich nach Kernig in eine
»Großrechnerfalle« hineinmanövriert, weil Ziele und Ideologien nicht zu harmonisieren
sind. Vier Krisen drohen sich zu kumulieren. Die Bevölkerungskrise und
in ihrem Gefolge die Verarmung der Dritten Welt, Metropolisierung und Fundamentalismus sind drei Krisen, die in wenigen Jahrzehnten auf die Ressourcenkrise
treffen werden. Ohne Wissenschaftsjargon bei diesem Autor kann die Bevölkerungskrise
als die »unabhängige Variable« angesehen werden, die mit den drei
anderen Krisen verwoben ist. Die Wissenschaft veröffentlicht die Prognosen, die
Politik nimmt sie unzureichend zur Kenntnis.
Auch wenn die pessimistischen Schlüsse nicht von allen Wissenschaftlern geteilt
werden, ist dies eine umfassende Analyse sozialer Prozesse auf 200 Seiten, die
man mit Genuss und Schrecken liest. Das Buch ist äußerst lesbar geschrieben.
Mehrfarbige Graphiken machen das Material für Didaktiker brauchbar. Manche
sprachlichen Metaphern verdichten sich zu poetischer Prägnanz. Zum Beispiel: in
zwei Dritteln der hoch entwickelten Länder sehen in der drastischen Sprache des
Autors die »verbeulten Alterspyramiden« aus »wie schrumpfende Heißluftballons
kurz nach der Landung«. Kernig polemisiert gelegentlich, noch lieber aber
zeigt er Herablassung gegenüber den Illusionisten in der politischen Szene.
Klaus von Beyme
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