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In der EU gab es lange Zeit einen »permissiven Konsens«, die Politikverflechtung
von EU-Bürokratie und nationalen Fachbürokratien diskret
voranzutreiben. Auf diese Weise wurde auf diversen Politikfeldern ein
hoher Grad von Vergemein-schaftung erreicht. Dazu gehört die weitgehende
Verlagerung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU-Ebene
ebenso wie die Teilnahme nationaler Akteure der Mitgliedstaaten an der
Politikformulierung in den Gemeinschaftsinstitutionen. Gerade weil der
Integrationsprozess für die politische Öffentlichkeit in den meisten
Ländern lediglich ein Randthema ist, konnte er trotz geringer demokratischer
Legitimierung zügig vorangetrieben werden. Doch seit dem
Beitritt von zehn neuen Staaten im Jahr 2004 und insbesondere seit der
Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrages zum Stillstand gekommen
ist, werden immer mehr Aspekte der Vertiefung der Integration und
des Ausbaus des institutionellen Gefüges zum Gegenstand kontroverser
gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen in und zwischen
einzelnen Ländern.
In der vorliegenden Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND
GESELLSCHAFT identifizieren Wissenschaftler und Politiker die zentralen
Herausforderungen, denen sich die EU zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft
gegenübersieht, und arbeiten politische Handlungsmöglichkeiten
und – Notwendigkeiten heraus. Im Mittelpunkt des Beitrags,
den der Europaparlamentarier Udo Bullmann zusammen mit Jan Kunz
verfasst hat, steht die Lissabonstrategie, durch die die EU – ursprünglich
bis 2010 – der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte
Wirtschaftsraum der Welt werden sollte. Doch die vereinbarten Zwischenziele
wurden nicht erreicht. Nun wird mit einem reformierten Stabilitäts-
und Wachstumspakt und einem integrierten Richtlinienpaket im
Bereich der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, das über bisherige
Deregulierungs-ansätze hinausweist, ein neuer Anlauf zur Annäherung an
die Lissabonziele genommen.
Bullmann/Kunz plädieren dafür, sich bei der Entwicklung zukunftsorientierter
Wirtschafts- und Sozialpolitiken stärker an den Modernisierungserfolgen
der nordischen Länder zu orientieren, die auf massiven
Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung statt auf Liberalisierung,
Lohnkürzungen und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten beruhen.
Auch Michael Dauderstädt betont, dass die altbekannten Strategien
der Kostenreduzierung und Einkommenssenkung nicht der richtige
Weg sind, denn sie sind nicht geeignet, die notorische Wachstumsschwäche
im EU-Raum zu überwinden. Erforderlich sind vielmehr Produktivitäts-steigerungen
durch stärkere Spezialisierung sowie durch staatliche
Investitionen in Forschung und Ausbildung. Und notwendig ist gleichzeitig
eine mit der Produktivitätsförderung kompatible Einkommens - und
Lohnpolitik, verbunden mit Umverteilungsmaßnahmen zu Gunsten
der Gruppen mit geringem Einkommen.
Andreas Maurer zeigt, wie schwierig es ist, in der komplizierten institutionellen
Architektur der EU das Tagesgeschäft voran-zutreiben und
gleichzeitig politische Akzente zu setzen oder Initiativen zu lancieren.
Am Beispiel des Konflikts um den Europäischen Verfassungsvertrag lotet
er aus, welche Wege der Rats-präsidentschaft offen stehen, um die Substanz
des Vertrags zu retten. Versteht man als Substanz die Neuerungen
des Vertragstextes im Vergleich mit den geltenden Verträgen, wäre die
Option mit den größten Erfolgsaussichten die Ergänzung oder Kürzung
des Vertrages und nicht Neuverhandlungen des kompletten Pakets. Die
existierenden Optionen müssen im ersten Halbjahr 2007 eindeutig bewertet
werden, wenn daraus Handlungsstrategien für die Zeit der portugiesischen
und slowenischen Präsidentschaft abgeleitet werden sollen.
Im Vergleich zur Verfassungsfrage gilt die europäische Innenpolitik
als eher technisches Politikfeld. Dabei ist die Ausgestaltung des einheitlichen
Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den es nach
den europäischen Verträgen zu schaffen gilt, von großer Bedeutung für
die demokratische Legitimierung des gesamten Projekts. Die europäische
Justiz- und Innen-politik ist aber in erster Linie sicherheitsorientiert.
In der Diskussion über die derzeit anvisierten Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung
und Migrationssteuerung kommt die Frage nach deren
Grundrechtsverträglichkeit und Proportionalität zu kurz. Daniela Kietz
und Roderick Parkes plädieren für die Öffnung des bislang von Akteuren
aus Innenministerien, Polizei und Strafjustiz dominierten europäischen
Gesetzgebungsprozesses und für die Teilnahme »kontrollierender« Akteure
aus Parlament, Justiz, Datenschutzbehörden und Nichtregierungs organisationen als Voraussetzung für eine ausgewogene Innen- und Justizpolitik.
Die Außenpolitik der EU-Länder weist nach wie vor einen geringen
Vergemeinschaftungsgrad auf. Wenn Europa die anvisierte aktive Rolle
bei der Gestaltung der Weltordnung tatsächlich spielen will, müssen die
europäischen Interessen definiert und muss eine gemeinsame Sicht globaler
Fragen entwickelt werden. Dirk Messner warnt, Europa könnte im
Prozess des Übergangs von der US-dominierten westlichen Weltordnung
zu einer multipolaren Machtkonstellation, mit China und Indien als
neuen Weltmächten, marginalisiert werden. Doch bietet dieser Transformationsprozess
auch Chancen für europäischen Protagonismus. Als Vorkämpfer
und Katalysator eines fairen und effektiven Multilateralismus
könnte die EU eine wichtige Rolle spielen, vorausgesetzt sie versteht es,
mit den aufstrebenden Mächten Bündnisse einzugehen und strategische
Partnerschaften zu entwickeln.
Ergänzend zum Schwerpunkt analysiert Heinz Timmermann die
Perspektiven der deutsch-russischen Beziehungen. Alex Grigor’ev und
Adrian Severin machen Vorschläge für einen dauerhaften Frieden im
Kosovo und Michael Ehrke analysiert die Ursachen der Unruhen in
Ungarn im Herbst des vergangenen Jahres.
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