Zu diesem Heft — Heft 1/2007
 
    
  

In der EU gab es lange Zeit einen »permissiven Konsens«, die Politikverflechtung von EU-Bürokratie und nationalen Fachbürokratien diskret voranzutreiben. Auf diese Weise wurde auf diversen Politikfeldern ein hoher Grad von Vergemein-schaftung erreicht. Dazu gehört die weitgehende Verlagerung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU-Ebene ebenso wie die Teilnahme nationaler Akteure der Mitgliedstaaten an der Politikformulierung in den Gemeinschaftsinstitutionen. Gerade weil der Integrationsprozess für die politische Öffentlichkeit in den meisten Ländern lediglich ein Randthema ist, konnte er trotz geringer demokratischer Legitimierung zügig vorangetrieben werden. Doch seit dem Beitritt von zehn neuen Staaten im Jahr 2004 und insbesondere seit der Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrages zum Stillstand gekommen ist, werden immer mehr Aspekte der Vertiefung der Integration und des Ausbaus des institutionellen Gefüges zum Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen in und zwischen einzelnen Ländern.

In der vorliegenden Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT identifizieren Wissenschaftler und Politiker die zentralen Herausforderungen, denen sich die EU zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft gegenübersieht, und arbeiten politische Handlungsmöglichkeiten und – Notwendigkeiten heraus. Im Mittelpunkt des Beitrags, den der Europaparlamentarier Udo Bullmann zusammen mit Jan Kunz verfasst hat, steht die Lissabonstrategie, durch die die EU – ursprünglich bis 2010 – der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt werden sollte. Doch die vereinbarten Zwischenziele wurden nicht erreicht. Nun wird mit einem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt und einem integrierten Richtlinienpaket im Bereich der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, das über bisherige Deregulierungs-ansätze hinausweist, ein neuer Anlauf zur Annäherung an die Lissabonziele genommen.

Bullmann/Kunz plädieren dafür, sich bei der Entwicklung zukunftsorientierter Wirtschafts- und Sozialpolitiken stärker an den Modernisierungserfolgen der nordischen Länder zu orientieren, die auf massiven Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung statt auf Liberalisierung, Lohnkürzungen und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten beruhen. Auch Michael Dauderstädt betont, dass die altbekannten Strategien der Kostenreduzierung und Einkommenssenkung nicht der richtige Weg sind, denn sie sind nicht geeignet, die notorische Wachstumsschwäche im EU-Raum zu überwinden. Erforderlich sind vielmehr Produktivitäts-steigerungen durch stärkere Spezialisierung sowie durch staatliche Investitionen in Forschung und Ausbildung. Und notwendig ist gleichzeitig eine mit der Produktivitätsförderung kompatible Einkommens - und Lohnpolitik, verbunden mit Umverteilungsmaßnahmen zu Gunsten der Gruppen mit geringem Einkommen.

Andreas Maurer zeigt, wie schwierig es ist, in der komplizierten institutionellen Architektur der EU das Tagesgeschäft voran-zutreiben und gleichzeitig politische Akzente zu setzen oder Initiativen zu lancieren. Am Beispiel des Konflikts um den Europäischen Verfassungsvertrag lotet er aus, welche Wege der Rats-präsidentschaft offen stehen, um die Substanz des Vertrags zu retten. Versteht man als Substanz die Neuerungen des Vertragstextes im Vergleich mit den geltenden Verträgen, wäre die Option mit den größten Erfolgsaussichten die Ergänzung oder Kürzung des Vertrages und nicht Neuverhandlungen des kompletten Pakets. Die existierenden Optionen müssen im ersten Halbjahr 2007 eindeutig bewertet werden, wenn daraus Handlungsstrategien für die Zeit der portugiesischen und slowenischen Präsidentschaft abgeleitet werden sollen.

Im Vergleich zur Verfassungsfrage gilt die europäische Innenpolitik als eher technisches Politikfeld. Dabei ist die Ausgestaltung des einheitlichen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den es nach den europäischen Verträgen zu schaffen gilt, von großer Bedeutung für die demokratische Legitimierung des gesamten Projekts. Die europäische Justiz- und Innen-politik ist aber in erster Linie sicherheitsorientiert. In der Diskussion über die derzeit anvisierten Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung und Migrationssteuerung kommt die Frage nach deren Grundrechtsverträglichkeit und Proportionalität zu kurz. Daniela Kietz und Roderick Parkes plädieren für die Öffnung des bislang von Akteuren aus Innenministerien, Polizei und Strafjustiz dominierten europäischen Gesetzgebungsprozesses und für die Teilnahme »kontrollierender« Akteure aus Parlament, Justiz, Datenschutzbehörden und Nichtregierungs organisationen als Voraussetzung für eine ausgewogene Innen- und Justizpolitik.

Die Außenpolitik der EU-Länder weist nach wie vor einen geringen Vergemeinschaftungsgrad auf. Wenn Europa die anvisierte aktive Rolle bei der Gestaltung der Weltordnung tatsächlich spielen will, müssen die europäischen Interessen definiert und muss eine gemeinsame Sicht globaler Fragen entwickelt werden. Dirk Messner warnt, Europa könnte im Prozess des Übergangs von der US-dominierten westlichen Weltordnung zu einer multipolaren Machtkonstellation, mit China und Indien als neuen Weltmächten, marginalisiert werden. Doch bietet dieser Transformationsprozess auch Chancen für europäischen Protagonismus. Als Vorkämpfer und Katalysator eines fairen und effektiven Multilateralismus könnte die EU eine wichtige Rolle spielen, vorausgesetzt sie versteht es, mit den aufstrebenden Mächten Bündnisse einzugehen und strategische
Partnerschaften zu entwickeln.

Ergänzend zum Schwerpunkt analysiert Heinz Timmermann die Perspektiven der deutsch-russischen Beziehungen. Alex Grigor’ev und Adrian Severin machen Vorschläge für einen dauerhaften Frieden im Kosovo und Michael Ehrke analysiert die Ursachen der Unruhen in Ungarn im Herbst des vergangenen Jahres.

     
 
     
 
 
     
© Friedrich-Ebert-Stiftung   Redaktion/net edition: Gerda Axer-Dämmer | 1/2007  < Top