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Die vorliegende Arbeit ist das Forschungsergebnis einer Projektgruppe am Institut
für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und der
Berlin Graduate School of Social Science. Sie geht der Frage nach, ob und wie
stark die Politik der inneren Sicherheit jeweils auf nationaler Ebene europäisiert
ist. Exemplarisch wird anhand der organisierten Kriminalität und des Terrorismus
hinterfragt, ob die zunehmende politische Integration Europas Auswirkungen
auf den Bereich der inneren Sicherheit hat, ob dieser Kernbereich staatlicher Souveränität
integrationsoffen ist, sich nationale Spezifika und historisch-kulturelle
Eigenheiten auf die Debatte sowie die institutionelle Entwicklung auswirken und
ob die Europäisierung an den Grenzen der Europäischen Union halt macht. Dabei
versteht sich der Band als Beitrag, im Rahmen der analytischen Beobachtung
von Sicherheitspolitik über die reichhaltigen, jedoch in der Mehrzahl kriminologischen,
institutionenzentrierten oder politisch-ideologisch ausgerichteten Arbeiten
zur inneren Sicherheit hinaus auch die entscheidenden Akteure, die öffentliche
Debatte sowie die politisch-kulturellen Hintergründe von Sicherheitspolitik
zu ergründen, um somit die Lücke an systematisch-vergleichenden politikwissenschaftlichen
Analysen zu schließen.
Die Arbeit besteht aus 13 Aufsätzen von jeweils rund zwanzig Seiten Umfang.
Inhaltlich werden im ersten Teil
(S. 7–41) zunächst das analytische Grundkonzept
und die zentralen Begrifflichkeiten sowie die schrittweise Annäherung der Politik
der Mitgliedstaaten erläutert. Den zweiten und umfassendsten Teil (S. 43–244)
bilden zehn Fallstudien der Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich, Italien,
Niederlande, der später beigetretenen Mitglieder Großbritannien, Spanien
und Polen sowie der Nicht-EU-Staaten Norwegen (Schengen-Land), Türkei (Beitrittskandidat)
und Russland (strategischer Partner). Teil drei schließlich (S. 245–
272) resümiert vergleichend die empirischen Befunde, den Stand der Europäisierung
und problematisiert einzelne Aspekte der Themenstellung mit der Absicht,
weitere Forschung anzuregen. Ein nach den einzelnen Aufsatzthemen geordnetes
Literaturverzeichnis von insgesamt fast 500 Titeln (S. 273–300), welche aber lediglich
sporadisch und oberflächlich verwertet werden, rundet die Arbeit ab. Gesetzes-
und Urteilsfundstellen, Drucksachen und Internetangaben wären jedoch
besser nicht innerhalb der Literaturangaben sondern in einem eigenen Anhang
aufgehoben gewesen.
Im ersten Teil wird der Begriff der inneren Sicherheit definiert als Minimum
an Risiken im öffentlichen Raum eines nach außen hin begrenztenGemeinwesens. Ihre Gewährleistung umfasst unter anderem den Schutz von Leib und Leben,
der Gesundheit, der Freiheit und des Besitzes (S. 7). Das Verhältnis von
Staatlichkeit und organisierter Kriminalität sei ein ambivalentes, weil sein Gegenteil,
die »disorganisierte Kriminalität«, für die öffentliche Ordnung – der Begriff
ist missverständlich, denn gemeint sind die Sicherheitsinstitutionen, nicht der
polizeirechtliche »terminus technicus« – nicht leichter zu lokalisieren und zu bekämpfen
seien (S. 15). Terrorismus sei gekennzeichnet durch eine relativ koordinierte
kriminelle Aktivität, militante und zumeist asymmetrische Gewaltausübung
sowie durch seine Unberechenbarkeit (S. 15). Im Hinblick auf den fundamental-
islamistischen Terror ist allerdings zu ergänzen, dass dieser sich gerade
nicht durch eine auch nur »relative« Koordination auszeichnet, sondern die einzelnen
Zellen oder Allein-Attentäter autark handeln, was die Lage noch unüberschaubarer
macht. Die Autoren arbeiten sodann den Zusammenhang zwischen
der Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungssystems und der Institutionalisierung
und Internationalisierung der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
heraus. Sie kritisieren zu Recht die nur schleppende Umsetzung bereits gefasster
Beschlüsse, so der Schaffung des dringend erforderlichen europäischen Haftbefehls,
und das oftmals lediglich reaktiv-öffentlichkeitswirksame Gebaren der nationalen
Politiken, beispielsweise im Hinblick auf politische Lippenbekenntnisse
zur Verstärkung der informatorischen Zusammenarbeit nach dem 11. September
2001 (New York) und dem 11. März 2004 (Madrid). Auch nach den Anschlägen
von London im Juli 2005 hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Im Gegenteil.
Die Länderanalysen beleuchten zunächst das jeweilige nationale sicherheitspolitische
Verständnis, das von einem spezifisch normativen bzw. einem Verfassungsverständnis
von Sicherheit, das die Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte
gegen den Staat in den Vordergrund stellt, abgegrenzt wird. Untersucht
werden zudem historische Wurzeln, Zuständigkeits- und Kompetenzfragen, insbesondere
die Trennung von Militär- und Polizei, wichtige nationale Debatten,
Gesetzgebung sowie Grad und Grenzen der Europäisierung. Im Hinblick auf die
Bundesrepublik Deutschland (S. 43–62) wird zutreffend gefolgert, dass diese
faktisch schon lange europäisiert ist und häufig die Rolle als Impulsgeber übernommen
hat, wobei die geographische Lage, insbesondere die bisherige östliche
EU-Außengrenze und die damit einhergehenden Kriminalitäts- und Migrationsprobleme,
diese Tendenz gefördert haben. Widerspruch muss jedoch die These
der Autoren erfahren, über den »Umweg Europa« sei eine Transformation vom
liberalen Rechtsstaat zum überwachten Präventionsstaat erfolgt oder gar »gelungen«: Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht durch das Urteil vom
27.07.2005 zum niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (NdsSOG)
einmal mehr den Grundrechtsschutz der Bürger entschieden gestärkt, indem es
präventive Telefonüberwachungsmaßnahmen ohne konkrete Verdachtsmomente
grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt hat; zum anderen zeigt der Vergleich mit der in Großbritannien – durchaus erfolgreich – praktizierten Videoüberwachung
von öffentlichen Plätzen oder gar der öffentlich heftig kritisierten aber nach
wie vor erlaubten gezielten Tötung dringend verdächtiger Selbstmordattentäter,
dass die Bundesrepublik tatsächlich von Strukturen, die möglicherweise als »Präventionsstaat
« zu bezeichnen wären, weit entfernt ist. Der Terrorismus der IRA hat
demgegenüber in Großbritannien deutliche Spuren hinterlassen (vgl. S. 105). In
ähnlicher Form gilt dies ebenso für die rigiden spanischen Anti-Terror-Gesetze
aufgrund des ETA-Terrors (S. 164). Nicht zuletzt ist bei Hermann Hellerüber den
liberalen Rechtsstaat kenntnisreich nachzulesen. Die weiteren Analyseergebnisse
zusammengefasst: für Frankreich wird der Dualismus zwischen republikanischer
Kultur und besonderer Kriminalitätslage der V. Republik betont (S. 83f.), in Italien
das politische Ringen um die Rolle der Justiz gegenüber der Mafia herausgestellt
(S. 123ff.), während die Niederlande eine Entwicklung vom täterorientierten Ansatz
hin zu einer opferorientierten Herangehensweise genommen haben (S. 146).
In sämtlichen Gründungs- und vor der Osterweiterung der eu beigetretenen
Staaten dominieren allerdings innenpolitische Fragen die Sicherheitspolitik – ein
auch in anderen Politikfeldern nach wie vor ungelöstes Problem der Etablierung
eines gemeinsamen politischen Europa. Anders in Polen, wo der Wunsch nach
dem Beitritt zur EU als Hauptmotor für die Implementierung und Umsetzung
von EG-Recht – nicht EU-Recht (!) – gewirkt hat (S. 165ff.), welches ebenso als
Chance für eine nachhaltige Demokratisierung in der Türkei verstanden werden
könnte (S. 222). Sonderstellungen nehmen zudem Norwegen und Russland ein.
Norwegen, weil es trotz selbst gewählter Distanz zur EU im Bereich der Sicherheit
durch die Schengen-Verträge in weitem Maße europäisch gebunden ist (S. 202).
Russland, weil es zwar nicht einen EU-Beitritt anstrebt, aber doch willens ist, in
die sicherheitspolitischen Strukturen der Union eingebunden zu werden; dies
freilich unter besonderer Berücksichtigung seiner Bedeutung in der Weltpolitik,
akuter Divergenzen aufgrund des Tschetschenien-Konflikts und im Hinblick auf
europäisches Recht und rechtsstaatliche Ansprüche inkompatibler Strukturen,
mit denen de facto gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus vorgegangen
wird (S. 241–244).
Der abschließende dritte Teil soll die in den Einzelanalysen gefundenen Ergebnisse
zusammenführen. Er diskutiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede des
Standes der Europäisierung und wird durchaus dem Anliegen gerecht, die Europäisierungsforschung
durch empirische Daten zu bereichern. Allerdings hätte dieser
Teil durch Bildung von Differenzierungskriterien und Fallgruppen besser
strukturiert und weiter ausgebaut werden müssen, zumal nach der umfassenden
Stoffaufbereitung in den ersten beiden Teilen erst hier die eigentlich analytische
Leistung der Arbeit einsetzt. Stattdessen verhält es sich leider wie so oft bei vermeintlichen »Vergleichen«: das Material wird langatmig auf über 200 Seiten separat,
Nationalstaat für Nationalstaat, dargestellt, aber der vergleichende Kern
der Untersuchung, also das, was tatsächlich Kern der Forschungsfrage ist und den
Leser primär interessiert, erschöpft sich auf mageren 25 Seiten. Dem eigenen Anspruch
auf eine systematisch-vergleichende Analyse wird diese Art der Aufbereitung
wenig gerecht.
Es zeigt sich, dass mit Ausnahme Norwegens in allen Referenzstaaten organisierte
Kriminalität und terroristische Aktivitäten nicht unerheblich zugenommen
haben, welches unter anderem mit dem Systemwechsel in der Sowjetunion und
internationalen Machtstrukturen zusammenhängt (S. 246–256). Trotz intensiver
Kooperation und hoher Ziele wie der Schaffung eines gemeinsamen Raumes der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, besteht kein einheitliches Verständnis des
Sicherheitsproblems und der Sicherheitspolitik. Die Öffentlichkeit beunruhigende
Terroranschläge beeinflussen die Debatte und politische Aktivitäten in weit
stärkerem Maße als konzeptionelle Erwägungen und Prävention (S. 256). Gemeinsamkeit
besteht allerdings darin, dass sämtliche Gesetzgebungsmaßnahmen
mit einer stetig zunehmenden Einschränkung von Freiheitsrechten einhergingen,
wobei innerhalb der diskursiven Legitimierung der Verweis auf Europa allenfalls
eine untergeordnete Rolle spielte. Vielmehr war das stetige Begründungsmuster
die nationale Bedrohungslage (S. 258). Gleichwohl fördert die Arbeit zutage, dass
zugunsten der Europäisierung eine Sogwirkung eingetreten ist, die bewirkt, dass
bi- und multilaterale Kooperationen wie etwa diejenige der Ostsee-Anrainerstaaten
an Bedeutung zugunsten der europäischen Ebene verloren haben. Zentraler
Punkt einer vollständigen Europäisierung aber sei, dass sich die Leistungserwartungen
und Wahrnehmungen der europäischen Bürger auf Europa und nicht
überwiegend oder ausschließlich auf den eigenen Nationalstaat ausrichteten, weshalb
nicht zuletzt eine gemeinsame europäische Verfassung die Bemühungen vorantreiben
könnte.
Insgesamt stellt die vorliegende Arbeit daher trotz einiger Kritikpunkte gerade
aufgrund ihrer aktuellen Themenstellung und des reichhaltigen Materialfundus
einen lesenswerten und weitere Auseinandersetzung mit der Thematik anregenden
Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Europaforschung dar.
Björn G. Schubert
Hannover
[1]
Hermann Heller (1934), Staatslehre, XVI, 298 S., Leiden: Sijthoff, 1934 (6., bearbeitete
Auflage, Tübingen 1983). |