Minus mal Minus gibt Plus – weshalb es sich ausgerechnet für die USA am besten rechnet, zu einem klimapolitischen Vorreiter zu werden

AMORY LOVINS et al.:
Winning the Oil Endgame. Innovation for Profits, Jobs and Security.
London: Earthscan 2004 [1] , 309 S.



 
       
    Issue 4/2006  
     
   
  
 

Die USA gelten als das Land mit der höchsten ökonomischen Rationalität – zu Recht. Während in Kontinentaleuropa die liberale Devise gilt, dass die Politik der Wirtschaft Grenzen setzt und damit Knappheiten und somit Werte schafft (Primat der Politik), gilt in den USA umgekehrt der Primat der Wirtschaftlichkeit auch bei Projekten der Politik. Dort ist inzwischen beinahe jedes Gesetzgebungsvorhaben durch das Schema der Kosten-Nutzen-Analyse zu schleusen. So auch die Klimapolitik.

Nimmt man diese politökonomische Perspektive ein, so fällt auf, dass die USA sich vor allen anderen Staaten dieser Erde durch zweierlei Arten von Lasten auszeichnen: (1) Mittels Siedlungsweise (Auflösung der Stadtstruktur) und Fahrzeugtechnik (PKW auf Basis einer Uralt-Lastwagen-Technologie) haben sie eine global präzedenzlos hohe Treibstoff-Ineffizienz realisiert: Ihre »Laster« (SUVs [2] ) sind ihr Laster. Statistisch gesehen umrundet bereits jetzt jeder US-Bürger die Erde einmal pro Jahr. Und (2): Die USA sind nach dem Ende des Kalten Krieges die einzig dominierende Militärmacht, im Wesentlichen damit beschäftigt, den Nachschub an Öl für ihr Laster zu sichern, dem Rohstoff, aus dem Treibstoff für sämtliche Zweige des Transportsektors erzeugt wird – nicht zuletzt zur Deckung des Bedarfs der Militärfahrzeuge selbst.

Diese beiden präzedenzlosen Eigenarten sind so offensichtlich und werden zugleich als so intim empfunden, dass sie in den USA fast nur von Hofnarren benannt werden können. Ein Kabarettist hat das einmal so auf den Punkt gebracht: »Zwei Dollar pro Gallone reichen für zehn Meilen Wegstrecke, darüber wird gemurrt; aber fünf Dollar für einen Parkschein, um zehn Fuß zurückzulegen, das scheint in Ordnung. Die Ironie der Geschichte ist, dass wir unsere Autos über alles lieben – des Empfindens von Freiheit wegen, welches sie bieten; exakt das aber hat uns zu Sklaven gemacht: zu Sklaven billigen Öls, welches unsere Politik korrumpiert hat, unsere Umwelt bedroht und unseren Feinden das nötige Geld zukommen lässt. Angesichts unserer ›Sucht‹ nach Öl sagen unsere Politiker: ›Mehr davon!‹ Das ist schon verrückt, wenn man bedenkt, dass ihr Standardrezept bei Drogenabhängigkeit ›Entzug!‹ lautet.«

Neuerdings mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Einsicht der Hofnarren zu einer Einsicht bei Hofe zu werden beginnt. Mit Unterstützung des Pentagons hat eine Autorengruppe vom Rocky Mountains Institute (RMI) unter Führung von Amory Lovins auf den Begriff gebracht, was die Kabarettisten als Paradoxon formulieren. Sie hat die lastenreiche Besonderheit nach Auswegen abgeklopft und war damit erfolgreich.

Die Nüchternheit der wissenschaftlichen Sichtweise erlaubt es, einen einfachen Gedanken zuzulassen, auf den man erst einmal verfallen muss, auch wenn jedermann die mathematische Regel kennt, nach der minus mal minus plus ergibt. Übersetzt: Eine Last (»minus«), die man vermeiden (»minus«) kann, ist ein (potenzieller) Gewinn – das ist gleichsam Ausfluss des »kleinen Einmaleins« der Ökonomie. Nun hatten wir festgestellt: Die USA tragen eine hohe Last. Falls die zu vermeiden wäre, verfügten sie über eine Option eines hohen Nutzens. Und da ihre Last, die sie tragen, präzedenzlos ist, wäre ihre Option ebenfalls präzedenzlos – über die verfügten nur sie allein. Das Ausland sollte sich hüten zu denken »Die stecken so tief im Schlamassel, aus dem können sie sich nie befreien!« – in der »cost benefit analysis« ist das Gegenteil möglich. Da ist die (vermeidbare) Last eine Chance. Oder in biblischer Weisheit formuliert: Die Letzten werden die Ersten sein.

Die Autorengruppe hat untersucht, ob das, was prinzipiell möglich ist, auch wirklich eine Option ist. Ihr Ergebnis, das politische Zirkel in Europa aufhorchen lässt: Es rechnet sich für die USA, vollständig von ausländischem Öl unabhängig zu werden – wohlgemerkt: nur in der Variante »vollständig« ergibt sich ein »net benefit«. Es gilt »Alles oder Nichts«. Methodisch ist das auch naheliegend. Es gelten in der Ökonomie die Gesetze der Synergien. Das Ergebnis des Lovin’schen Gedankenexperiments kann nur deswegen ein positives Vorzeichen aufweisen, weil zwei Scheuklappen, die Ökonomen häufig tragen, hier abgelegt wurden: (1) Die (vermeidbaren) Kosten in einem nicht-ökonomischen Sektor, dem des Militärs nämlich, wurden einbezogen. (2) Es wurde nicht graduell (marginal), nach den Netto-Kosten lediglich einer Verminderung der Ölabhängigkeit, gefragt sondern nach denen der Option der vollständigen Unabhängigkeit. Gerechnet in dieser radikalen Perspektive trat der Vorzeichenwechsel auf, ergaben sich »negative Kosten «. Dass eine »total cost«-Betrachtung zu einem Ergebnis mit umgekehrtem Vorzeichen führen kann gegenüber dem einer »marginal cost«-Betrachtung, ist Ökonomen prinzipiell geläufig. Doch Beispiele finden sich selten. Es ist in dieser Logik und us-spezifisch, dass die Autoren ein Riesenölfeld entdeckten: die »Detroit Formation«. Zu fördern ist das »Öl« dieses Fundes aber nicht mit Bohrern und Pumpen, sondern mit Effizienztechniken des Automobil- und Flugzeugbaus.

Dass das Pentagon sich an der Erschließung alternativer strategischer Optionen beteiligt, zeigt, wie weit die Option einer Kombination von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien schon vorgedrungen ist im Denken des militärisch industriellen Komplexes in den USA. Angesichts dessen sollte es niemanden überraschen, wenn die USA sich eines Tages urplötzlich in der multilateralen Klimapolitik von einem »bad guy« zu einem Vorreiter wandeln. Die nach »Katrina« aufbrechenden Konflikte um die US-Budget-Politik zeigen bereits entsprechende Bruchlinien. Diese Option liegt in dem ökonomischen Interesse der USA wie dem keines anderen Staates dieser Erde. Nur, dass sie zur Realisierung dieser Option unter einen UN-Schirm schlüpfen, das zu erwarten wäre lebensfremd.

Nachtrag: Auch Europa hat endlich die »Energy Security« entdeckt. Am 8. März 2006 hat die Europäische Kommission das entsprechende Grünbuch [3] verabschiedet. In diesem Umfeld sucht auch die EU nach »Hebeln«, die sie ansetzen kann und deren Effekt größer zu sein verspricht, als dem Anteil Europas an der Welt entspricht. Gefunden hat sie einen, mitgeteilt ist das, ziemlich versteckt, im »Commission Staff Working Document« [4] . Durchgerechnet ist der Effekt auf Europas Öl(import)rechnung, falls die EU ihren erprobten Schulterschluss mit der hiesigen Autoindustrie dazu nutzt, eine Effizienzstrategie im Kfz-Sektor durchzusetzen und dadurch global den Bedarf an und somit die Nachfrage nach Ölprodukten zu senken. In Summe beträgt der Effekt etwa 100 Millarden Euro im Jahr – dabei ist der Effekt aus der Europa betreffenden verminderten Öleinfuhr relativ gering, er liegt bei rund 20 Milliarden Euro im Jahr. Dominant ist der Ausstrahlungseffekt über die Ölpreise, darüber gewinnt EU-Europa 78 Milliarden Euro pro Jahr. Aufsehen erregend aber sollte der globale Minderungseffekt sein, der von der Kommission auf 850 Milliarden Euro im Jahr geschätzt wird. [5]


Hans-Jochen Luhmann
Wuppertal Institut


[1] Oder herunterladbar von http://www.oilendgame.org/, der Technical Annex ist nur dort verfügbar.
[2] Sports Utility Vehicle (SUV), Pkw mit Geländegängigkeit und dem Fahrkomfort einer Limousine.
[3] »A European Strategy for Sustainable, Competitive and Secure Energy« (COM (2006) 105 final)).
[4] Annex zum Green Paper »A European Strategy for Sustainable, Competitive and Secure Energy« What is at stake – Background document (sec(2006) 317/2) {COM (2006) 105 final}.
[5] Vgl. zum Ganzen: Luhmann, Hans-Jochen: Strategiewechsel der EU-Energiepolitik? Sicherheit als Schlüsselherausforderung. In: Wuppertal Bulletin zu Instrumenten des Klima- und Umweltschutzes, 9. Jg., H.1/2006, (im Erscheinen), http:// www.wupperinst.org/wuppertal-bulletin/index.html.

 

     
      
 
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