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Politiker reden gern in schönen Formeln, gerade wenn sie wissen, dass solche
»Nebelschwaden« (S. 144) mit der Realität in Gegenwart und Zukunft wenig
zu tun haben. In Deutschland beschwören sie alle Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze
und zerbrechen dabei eifrig die Hebel, mit denen Politik allenfalls die
Wirtschaft beeinflussen könnte. In Europa reden sie ständig von Erweiterung und
Vertiefung der Union. Das ist immerhin nur zur Hälfte illusorisch: die EU erweitert
sich tatsächlich um alle möglichen Staaten, deren Bürger gern so leben möchten
wie die Westler. Aber Vertiefung?
Da ist ein Diplomat, der nicht in schönen Formeln redet, sondern Tacheles, ein
seit 1987 pensionierter Diplomat, zuletzt Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
am europäischen Sitz der Vereinten Nationen in Genf. 1999 hat Hans Arnold
schon einmal laut und neu über Europa nachgedacht und seine Leser auf die peinliche
Tatsache gestoßen, dass seit dem Vertrag von Maastricht 1992 sich der Motor
ernsthafter Integration in der eu festgefressen hat, dass nunmehr »soviel wie
möglich nationalstaatlich bleiben und nur so viel wie unbedingt nötig vergemeinschaftet
werden« soll (Europa neu denken, Bonn 1999, S. 76). Jetzt 2004 – genauer:
nachdem Ende 2003 die Regierungschefs der eu über die so genannte »Verfassung« Europas gestolpert waren, die sie dann später doch beschlossen,
worauf die Völker Frankreichs und der Niederlande sie verwarfen – fasst Arnold
nach. Seine Analysen über die Interessen der immer noch so genannten Nationalstaaten
(»… ein mieses politisches System …« S. 108), über den Euro, über Grenzen
und Kulturen Europas, über die so genannte »Sicherheit« (also das Militär)
und über die Stellung der EU gegenüber UNO, NATO und USA regen auch in der
Ende 2005 etwas veränderten Situation zum Weiterdenken an – auf die Gefahr, es
könne zu schmerzhaftem Zweifel, vielleicht gar Verzweifeln am Gedeih des 1950
mit so viel Schwung und Hoffnung begonnenen europäischen Einigungswerkes
führen.
Deutschlands Interesse ist Einbindung in die EU, schreibt Arnold. Rennt er damit
nicht offene Türen ein – von der CSU bis zur PDS? Nein, denn warum das so
ist, damit demaskiert Arnold auch an diesem Punkt die gängigen Illusionen der
Politiker – mindestens von der CSU bis zur SPD: da es »den präzise strukturierten
Westen« seit dem Zerfall des Sowjetblocks nicht mehr gibt, kann Deutschland die
(von Kohl, Genscher, Schröder, Fischer zwar nie zugegebene, aber stets betriebene
[F.A.]) »immer komplizierter werdende Balance zwischen Paris und Washington
« nicht mehr »zur Grundlage seiner Außenpolitik machen« (S. 74).
Also – frage ich mich – war die Einführung des Euro ein richtiger Schritt zur
Festigung, zur Vertiefung der EU? Arnold ist skeptisch. Mit dem Verzicht auf die Deutsche Mark erkaufte Kanzler Kohl 1990 vor allem Frankreichs Zustimmung
zur Wiedervereinigung; das besorgte deutsche Volk wurde mit der Zusicherung
getröstet, eine unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) würde über die Stabilität
des Euro ebenso kraftvoll wachen wie zuvor die Bundesbank über die DM.
Arnold informiert uns, dass in Wirklichkeit ein kompliziertes Geflecht von einzelstaatlich
verankerten Zuständigkeiten sich um die ezb rankt, dass insbesondere
der berühmte »Stabilitätspakt« ebenso wenig ein Pakt (nämlich kein völkerrechtlich
bindender Vertrag) ist wie die EU-»Verfassung« eine Verfassung, sondern nur
eine Entschließung plus zwei Verordnungen des Europäischen Rats (S. 86).
Arnold konnte Anfang 2004 noch nicht wissen, dass Frankreich, Deutschland,
Griechenland, Portugal mit ihrem Staatsdefizit ungestraft kreative Buchführung
treiben würden; er benennt den Hintergrund, vor dem das möglich ist. Fazit: die
angebliche Wirtschafts- und Währungsunion macht Sinn nur als »Ferment für die
Entwicklung der politischen Union« (S. 77) – die seit Maastricht niemand mehr
will. »Die EU-Staaten haben den Euro in die Welt gesetzt, aber darauf verzichtet,
die für ein solches Projekt erforderlichen strukturellen, rechtlichen und politischen
Voraussetzungen zu schaffen« (S. 87). Kürzer, schärfer gesagt: »Schaupackungen« (S. 86), ein »Bündel von Tricks« (S. 91). Versöhnlich mahnt Arnold
zum Schluss des Kapitels für die Behütung des Euro »mehr überstaatliche Einigung
« an, um »die von den EU-Staaten mehrheitlich gewünschten lockereren Formen
der europäischen Einigung erfolgreich fortführen zu können« (S. 96) – also
wieder einmal eine Quadratur des Kreises, welche in der Mathematik bekanntlich
unmöglich, in der weniger logischen Politik immer noch höchst unwahrscheinlich
ist.
Der Gretchenfrage, wo Europas Grenzen im Osten und Südosten liegen, um
die Politiker sich gern herum-drücken, weicht Arnold gewiss nicht aus: nur überzeugt
er allenfalls mit einer pragmatischen Antwort, seine Grundsatz-Überlegungen
fordern Widerspruch heraus. Russland und die Türkei (denn um diese beiden
geht es) sind ihm schlicht zu groß, um je in die EU zu passen (S. 133 ff.). Das stimmt
wohl, und bei den Türken kommt die den Völkern Europas abhanden gekommene
Geburtendynamik hinzu. Aber historischen Tiefgang lässt dieses Argument
vermissen. Arnold selbst erwähnt, dass für die europäische Identität der geschichtliche
Widerstand gegen Invasionen aus dem Osten einiges bedeutet. Nun
mag sein, dass im eindeutig auf das moderne Westeuropa orientierten Türkei-
Konzept Kemal Atatürks noch weniger von der Tradition des Oströmischen Reiches
steckt als von der des Osmanischen, das eine dieser Invasionen bis vor die
Tore Wiens getragen hat. Byzanz jedenfalls, geographisch fast deckungsgleich mit
der heutigen Türkei, war fast tausend Jahre lang das Bollwerk Europas gegen den
mehr oder weniger fundamentalistischen Islam. Es ist auch richtig, dass Russland
(inklusive Ukraine) im 13. Jahrhundert von den Mongolen überrannt und dadurch
in seiner politischen Gestalt stark beeinflusst (man darf sagen: deformiert)
wurde. Aber Russland hat dann die Mongolenherrschaft abgeschüttelt, und seit Peter dem Großen (den Arnold im Vorbeigehen auf Seite 135 erwähnt) war es bis
1917 unbestritten eine europäische Großmacht, nach 1815 eine der Fünf, die gemeinsam
die Stabilität des Europäischen Konzerts auch durch schrill disharmonische
Kriege hindurch garantierten – ganz ähnlich wie seit 1945 die fünf ständigen
Mitglieder im Sicherheitsrat die UN-Ordnung. Es wird schwierig, Russland
aus der EU auszusperren, zumal, wenn die EU dann auch (Arnold sieht das) der
Ukraine, Moldawien und Belarus die Mitgliedschaft versagen muss, um die EU
nicht vollends gegen Russland in Stellung zu zwingen (Polen und die baltischen
Staaten strapazieren mit ihrem elementaren Misstrauen gegen Moskau das Verhältnis
schon zur Genüge!). Ähnliches gilt für ein definitives Nein zur Türkei mit
Seitenblick etwa auf Israel oder Georgien und Armenien.
Würde die EU Ernst machen mit Gemeinsamer Außen- und Militärpolitik
(ihrer Nichtexistenz widmet Arnold sein Abschlusskapitel), mit Wirtschafts-,
Sozial- und Währungsunion, mit einer Verfassung, die diesen Namen (und den
Namen Demokratie) verdiente, dann blieben vermutlich Moskau und Ankara von
selbst auf Distanz, eben weil jeder dortige Regent eigenständige Außen-, Wirtschafts-
und Sozialpolitik treiben will, vermutlich treiben muss, um berechtigte
Ansprüche seines Volkes zu erfüllen. Nur solange die Herrschaften in Paris, Berlin,
London sich wider besseres Wissen gebärden, als regierten sie souveräne
Großmächte anstatt Regionen Europas (oder als Alternative Brückenköpfe der
USA), dürfen auch der jeweilige Zar und Sultan erwarten, ihren Kuchen gleichzeitig
essen und behalten zu können.
Hans Arnold wünscht sichtlich ein real existierendes Vereintes Europa aus tiefer
Seele. Wie es angesichts der von ihm analysierten Barrieren, die sich die Europäer
seit 1992 selbst mit dem Richtungswechsel von Integration zu Kooperation
über den Weg gelegt haben, vielleicht doch zu erreichen wäre – dazu Genaueres
zu sagen, zügelt er 2004 seine nüchterne Vernunft vielleicht allzu hart.
Franz Ansprenger
FU Berlin
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