| |
Näher am Leben als die übliche Literatur zum Nahen und Mittleren Osten bewegt
sich »Orientalische Promenaden« von Volker Perthes. Der Nahost-
Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik bietet keine Gesamtanalyse
der politischen Lage der Region (das hat er in seinem Buch »Geheime
Gärten. Die neue arabische Welt« bereits getan), sondern einen »politischen
Streifzug« durch sechs ihrer Länder und Gebiete: Ägypten, Israel und die palästinensischen
Gebiete, Saudi-Arabien, Irakisch-Kurdistan und Iran. »Streifzug« ist
dabei wörtlich gemeint: Perthes fängt vor allem Stimmen und Stimmungen ein,
er spricht mit den Menschen auf den Straßen, in Parks und Geschäften, in wissenschaftlichen
und politischen Einrichtungen. Seine Gesprächspartner sind so unterschiedlich
wie die orientalischen Gesellschaften vielfältig sind: konservativ oder
liberal, religiös oder säkular. Oft sind es Jugendliche, was nahe liegt in einer Region,
in denen die Unterdreißigjährigen einen hohen Anteil der Bevölkerung ausmachen.
Er konzentriert sich auf wesentliche gesellschaftliche Bruchstellen, wo der Diskurs
in Universitäten, Cafés und auf der Straße oft schon weiter fortgeschritten
ist als auf der Ebene der politischen Administration. Die »Promenaden« vermitteln
so das Bild einer Region im Umbruch, deren Konflikte durch den Irak-Krieg
an Virulenz gewonnen haben. Die Forderung nach Demokratisierung hat – auch
durch die Diskussion um den »Greater Middle East« – Nachdruck erhalten. Allerdings
wird »Demokratisierung« nicht als revolutionärer Umsturz der bestehenden
Ordnung verstanden. Es geht vielmehr um praktische Fragen: die Garantie
von Menschenrechten, Meinungsfreiheit, freie Wahlen und ein Ende der Korruption.
Die Reise beginnt in Ägypten, wo die Hoffnung auf Reformen weit verbreitet
ist. Doch die politische Konkretisierung von Alternativen fällt schwer. Dafür ist
nicht zuletzt der »pluralistische Autoritarismus« des Mubarak-Regimes verantwortlich, der durch das Zugeständnis begrenzter persönlicher Freiräume an die
Mittelschichten kluge und pragmatische Köpfe einbindet und auf diese Weise sicherstellt,
dass die tatsächlichen Machtverhältnisse unverändert bleiben. Der
Aderlass, den die liberale Opposition dadurch hinnehmen muss, führt zu ihrer politischen
und inhaltlichen Stagnation. Als Alternative bleiben die islamistischen,
aber pragmatisch ausgerichteten Muslimbrüder und eine Gruppe jüngerer, wirtschaftlich
erfolgreicher Aktivisten um Präsidentensohn Gamal Mubarak, die keine
Verankerung in der Bevölkerung zu besitzen scheint. Von den einfachen Sorgen
der Menschen, etwa um die Trinkwasserversorgung, die hohe Arbeitslosigkeit
oder die mangelhafte Ausbildung, wirken diese beiden Gruppen weit entfernt.
Von hier aus reist Perthes nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. In
beiden Gesellschaften wird die Frustration über das Scheitern des Friedensprozesses
deutlich, das die Hoffnung auf einen nahen und stabilen Endstatus begraben
hat. An die Stelle einer Gesamtlösung tritt in den Gesprächen das Provisorium,
besonders die Perspektive eines Waffenstillstands. Dennoch haben die Oslo-
Abkommen insofern Fakten geschaffen, als eine Zwei-Staaten-Lösung kaum noch
bezweifelt wird. Die Mehrheit der Palästinenser, das wird deutlich, hat die Existenz
Israels akzeptiert. Es bleiben die ungeklärten Fragen: der Grenzverlauf, der
Status Ostjerusalems und die Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen
Flüchtlinge. Vor allem aber sind die Grenzen eines zukünftigen palästinensischen
Staates noch nicht gezogen. Die Mauer bzw. der Zaun, mit dem Israel sich umgibt,
antizipiert sie in weiten Teilen – doch die Anlage kann in einigen Abschnitten
noch verschoben werden. Der Autor widmet diesem Thema mit Recht viel Aufmerksamkeit,
nicht nur, weil es die Lebenssituation vieler Menschen unmittelbar
betrifft, sondern auch, weil sich an ihm die Verhärtung und gleichzeitig die Vorläufigkeit
zeigt, in der das israelisch-palästinensische Verhältnis steckt.
Denkbar groß ist der Kontrast zu Saudi-Arabien, dem dritten Abschnitt der
»Promenaden«. Hier, wo die öffentliche Langeweile zum Staatsthema geworden
ist, entdeckt Perthes eine überraschend politisierte und fortschrittliche Gesellschaft.
In der Diskussion um Frauenrechte wird dies offensichtlich: Das saudische
Regime ist argumentativ schon so weit in die Defensive geraten, dass es den Ausschluss
der weiblichen Bevölkerung von den Kommunalwahlen nur noch mit organisatorischen
Schwierigkeiten rechtfertigen kann. Die schwerfällige saudische
Herrschaftsclique, zusätzlich verlangsamt durch die strikte Ideologie des Wahabitismus,
die jeden echten Diskurs ablehnt, kann in ihrem politischen Handeln
kaum noch den Anschluss an gesellschaftliche Reformforderungen finden.
Die Aufbruchstimmung, die dagegen in den kurdischen Gebieten des Irak
herrscht, scheint in der Region einzigartig zu sein. Das Ende der Gewaltherrschaft
Saddam Husseins und die Garantie einer quasi-nationalen Selbstbestimmung in
der irakischen Verfassung ermutigen die Kurden dazu, eine demokratische Gesellschaft
aufzubauen. Hinter der Forderung nach Autonomie und Föderalismus für
die kurdische Region steht, das wird aus fast allen Gesprächen deutlich, die Utopie eines eigenen Staates – nicht als konkretes Ziel, sondern als langfristiger
Traum. Welche Probleme dies aufwerfen wird, zeigt Perthes am Beispiel Kirkuks,
der Stadt und Region, deren kurdischer Charakter von Saddams Arabisierungspolitik
gezielt unterdrückt worden ist. Heute fordern die Kurden die Rückgängigmachung
dieser Politik und stoßen dabei auf den Widerstand der arabischen
Bevölkerung.
Das letzte Kapitel befasst sich mit dem Iran. Hier fällt, ähnlich wie in Saudi-
Arabien, die Diskrepanz zwischen der Bevölkerung und der herrschenden Machtclique
auf. Das religiöse Establishment lähmt die gesellschaftliche Entwicklung
da, wo sie es noch kann, die Jugend aber hat sie offensichtlich schon verloren.
Diese orientiert sich eher an den USA als an den Mullahs. Auch die Feindschaft
der Bevölkerung gegen Amerika und Israel spielt sich weitgehend auf plakativer
Ebene ab. So ist auch der Wahlsieg der Konservativen nicht als Ausdruck einer
antiwestlichen Haltung zu verstehen, sondern Ergebnis der Frustration über die
wirtschaftliche Stagnation unter den Reformern. Gleichzeitig spiegelt sich darin
jedoch ein iranischer Nationalismus wider, der zusammen mit regionalen Großmachtaspirationen
ein explosives Potential für die Region bergen könnte.
In seiner enormen Fülle ist »Orientalische Promenaden« ein faszinierendes,
hervorragend geschriebenes Buch, das sich wie ein Reisebericht liest und doch
voller politischer Brisanz steckt. Deutlich wird, dass sich die Region in einem Umbruch
befindet, dessen weitere Entwicklung noch nicht erkennbar ist – und dass
der religiöse Extremismus nicht in der Lage ist, auf die drängenden gesellschaftlichen
Fragen Antworten zu geben. Die meisten Menschen in Perthes Buch scheinen
ein feines Gespür dafür zu besitzen.
Gleichzeitig sieht man aber, dass es nicht eine nah- und mittelöstliche Gesellschaft
gibt: Jedes Land, sogar jede Bevölkerungsgruppe hat mit individuellen Problemen
und Konflikten zu kämpfen. Zu einer demokratischen und integrierten
Region, in der auch Israel seinen Platz hat, ist es noch ein sehr weiter Weg.
Thomas Mättig
Berlin
|