GERT-JOACHIM GLAEßNER / ASTRID LORENZ (Hrsg.):
Europäisierung der inneren Sicherheit.
Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel organisierter Kriminalität und Terrorismus.


 
       
    Heft 4/2006  
     
  Wiesbaden 2005
VS Verlag für Sozialwissenschaften, 303 S.
  
 

Die vorliegende Arbeit ist das Forschungsergebnis einer Projektgruppe am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berlin Graduate School of Social Science. Sie geht der Frage nach, ob und wie stark die Politik der inneren Sicherheit jeweils auf nationaler Ebene europäisiert ist. Exemplarisch wird anhand der organisierten Kriminalität und des Terrorismus hinterfragt, ob die zunehmende politische Integration Europas Auswirkungen auf den Bereich der inneren Sicherheit hat, ob dieser Kernbereich staatlicher Souveränität integrationsoffen ist, sich nationale Spezifika und historisch-kulturelle Eigenheiten auf die Debatte sowie die institutionelle Entwicklung auswirken und ob die Europäisierung an den Grenzen der Europäischen Union halt macht. Dabei versteht sich der Band als Beitrag, im Rahmen der analytischen Beobachtung von Sicherheitspolitik über die reichhaltigen, jedoch in der Mehrzahl kriminologischen, institutionenzentrierten oder politisch-ideologisch ausgerichteten Arbeiten zur inneren Sicherheit hinaus auch die entscheidenden Akteure, die öffentliche Debatte sowie die politisch-kulturellen Hintergründe von Sicherheitspolitik zu ergründen, um somit die Lücke an systematisch-vergleichenden politikwissenschaftlichen Analysen zu schließen.

Die Arbeit besteht aus 13 Aufsätzen von jeweils rund zwanzig Seiten Umfang. Inhaltlich werden im ersten Teil (S. 7–41) zunächst das analytische Grundkonzept und die zentralen Begrifflichkeiten sowie die schrittweise Annäherung der Politik der Mitgliedstaaten erläutert. Den zweiten und umfassendsten Teil (S. 43–244) bilden zehn Fallstudien der Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, der später beigetretenen Mitglieder Großbritannien, Spanien und Polen sowie der Nicht-EU-Staaten Norwegen (Schengen-Land), Türkei (Beitrittskandidat) und Russland (strategischer Partner). Teil drei schließlich (S. 245– 272) resümiert vergleichend die empirischen Befunde, den Stand der Europäisierung und problematisiert einzelne Aspekte der Themenstellung mit der Absicht, weitere Forschung anzuregen. Ein nach den einzelnen Aufsatzthemen geordnetes Literaturverzeichnis von insgesamt fast 500 Titeln (S. 273–300), welche aber lediglich sporadisch und oberflächlich verwertet werden, rundet die Arbeit ab. Gesetzes- und Urteilsfundstellen, Drucksachen und Internetangaben wären jedoch
besser nicht innerhalb der Literaturangaben sondern in einem eigenen Anhang aufgehoben gewesen.

Im ersten Teil wird der Begriff der inneren Sicherheit definiert als Minimum an Risiken im öffentlichen Raum eines nach außen hin begrenztenGemeinwesens. Ihre Gewährleistung umfasst unter anderem den Schutz von Leib und Leben, der Gesundheit, der Freiheit und des Besitzes (S. 7). Das Verhältnis von Staatlichkeit und organisierter Kriminalität sei ein ambivalentes, weil sein Gegenteil, die »disorganisierte Kriminalität«, für die öffentliche Ordnung – der Begriff ist missverständlich, denn gemeint sind die Sicherheitsinstitutionen, nicht der polizeirechtliche »terminus technicus« – nicht leichter zu lokalisieren und zu bekämpfen seien (S. 15). Terrorismus sei gekennzeichnet durch eine relativ koordinierte kriminelle Aktivität, militante und zumeist asymmetrische Gewaltausübung sowie durch seine Unberechenbarkeit (S. 15). Im Hinblick auf den fundamental- islamistischen Terror ist allerdings zu ergänzen, dass dieser sich gerade nicht durch eine auch nur »relative« Koordination auszeichnet, sondern die einzelnen Zellen oder Allein-Attentäter autark handeln, was die Lage noch unüberschaubarer macht. Die Autoren arbeiten sodann den Zusammenhang zwischen der Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungssystems und der Institutionalisierung und Internationalisierung der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich heraus. Sie kritisieren zu Recht die nur schleppende Umsetzung bereits gefasster Beschlüsse, so der Schaffung des dringend erforderlichen europäischen Haftbefehls, und das oftmals lediglich reaktiv-öffentlichkeitswirksame Gebaren der nationalen Politiken, beispielsweise im Hinblick auf politische Lippenbekenntnisse zur Verstärkung der informatorischen Zusammenarbeit nach dem 11. September 2001 (New York) und dem 11. März 2004 (Madrid). Auch nach den Anschlägen von London im Juli 2005 hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Im Gegenteil.

Die Länderanalysen beleuchten zunächst das jeweilige nationale sicherheitspolitische Verständnis, das von einem spezifisch normativen bzw. einem Verfassungsverständnis von Sicherheit, das die Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte gegen den Staat in den Vordergrund stellt, abgegrenzt wird. Untersucht werden zudem historische Wurzeln, Zuständigkeits- und Kompetenzfragen, insbesondere die Trennung von Militär- und Polizei, wichtige nationale Debatten, Gesetzgebung sowie Grad und Grenzen der Europäisierung. Im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland (S. 43–62) wird zutreffend gefolgert, dass diese faktisch schon lange europäisiert ist und häufig die Rolle als Impulsgeber übernommen hat, wobei die geographische Lage, insbesondere die bisherige östliche EU-Außengrenze und die damit einhergehenden Kriminalitäts- und Migrationsprobleme, diese Tendenz gefördert haben. Widerspruch muss jedoch die These der Autoren erfahren, über den »Umweg Europa« sei eine Transformation vom liberalen Rechtsstaat zum überwachten Präventionsstaat erfolgt oder gar »gelungen«: Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht durch das Urteil vom 27.07.2005 zum niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (NdsSOG) einmal mehr den Grundrechtsschutz der Bürger entschieden gestärkt, indem es präventive Telefonüberwachungsmaßnahmen ohne konkrete Verdachtsmomente grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt hat; zum anderen zeigt der Vergleich mit der in Großbritannien – durchaus erfolgreich – praktizierten Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen oder gar der öffentlich heftig kritisierten aber nach wie vor erlaubten gezielten Tötung dringend verdächtiger Selbstmordattentäter, dass die Bundesrepublik tatsächlich von Strukturen, die möglicherweise als »Präventionsstaat « zu bezeichnen wären, weit entfernt ist. Der Terrorismus der IRA hat demgegenüber in Großbritannien deutliche Spuren hinterlassen (vgl. S. 105). In ähnlicher Form gilt dies ebenso für die rigiden spanischen Anti-Terror-Gesetze aufgrund des ETA-Terrors (S. 164). Nicht zuletzt ist bei Hermann Heller [1] über den liberalen Rechtsstaat kenntnisreich nachzulesen. Die weiteren Analyseergebnisse zusammengefasst: für Frankreich wird der Dualismus zwischen republikanischer Kultur und besonderer Kriminalitätslage der V. Republik betont (S. 83f.), in Italien das politische Ringen um die Rolle der Justiz gegenüber der Mafia herausgestellt (S. 123ff.), während die Niederlande eine Entwicklung vom täterorientierten Ansatz hin zu einer opferorientierten Herangehensweise genommen haben (S. 146). In sämtlichen Gründungs- und vor der Osterweiterung der eu beigetretenen Staaten dominieren allerdings innenpolitische Fragen die Sicherheitspolitik – ein auch in anderen Politikfeldern nach wie vor ungelöstes Problem der Etablierung eines gemeinsamen politischen Europa. Anders in Polen, wo der Wunsch nach dem Beitritt zur EU als Hauptmotor für die Implementierung und Umsetzung von EG-Recht – nicht EU-Recht (!) – gewirkt hat (S. 165ff.), welches ebenso als Chance für eine nachhaltige Demokratisierung in der Türkei verstanden werden könnte (S. 222). Sonderstellungen nehmen zudem Norwegen und Russland ein. Norwegen, weil es trotz selbst gewählter Distanz zur EU im Bereich der Sicherheit durch die Schengen-Verträge in weitem Maße europäisch gebunden ist (S. 202). Russland, weil es zwar nicht einen EU-Beitritt anstrebt, aber doch willens ist, in die sicherheitspolitischen Strukturen der Union eingebunden zu werden; dies freilich unter besonderer Berücksichtigung seiner Bedeutung in der Weltpolitik, akuter Divergenzen aufgrund des Tschetschenien-Konflikts und im Hinblick auf europäisches Recht und rechtsstaatliche Ansprüche inkompatibler Strukturen, mit denen de facto gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus vorgegangen wird (S. 241–244).

Der abschließende dritte Teil soll die in den Einzelanalysen gefundenen Ergebnisse zusammenführen. Er diskutiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Standes der Europäisierung und wird durchaus dem Anliegen gerecht, die Europäisierungsforschung durch empirische Daten zu bereichern. Allerdings hätte dieser Teil durch Bildung von Differenzierungskriterien und Fallgruppen besser strukturiert und weiter ausgebaut werden müssen, zumal nach der umfassenden Stoffaufbereitung in den ersten beiden Teilen erst hier die eigentlich analytische Leistung der Arbeit einsetzt. Stattdessen verhält es sich leider wie so oft bei vermeintlichen »Vergleichen«: das Material wird langatmig auf über 200 Seiten separat, Nationalstaat für Nationalstaat, dargestellt, aber der vergleichende Kern der Untersuchung, also das, was tatsächlich Kern der Forschungsfrage ist und den Leser primär interessiert, erschöpft sich auf mageren 25 Seiten. Dem eigenen Anspruch auf eine systematisch-vergleichende Analyse wird diese Art der Aufbereitung wenig gerecht.

Es zeigt sich, dass mit Ausnahme Norwegens in allen Referenzstaaten organisierte Kriminalität und terroristische Aktivitäten nicht unerheblich zugenommen haben, welches unter anderem mit dem Systemwechsel in der Sowjetunion und internationalen Machtstrukturen zusammenhängt (S. 246–256). Trotz intensiver Kooperation und hoher Ziele wie der Schaffung eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, besteht kein einheitliches Verständnis des Sicherheitsproblems und der Sicherheitspolitik. Die Öffentlichkeit beunruhigende Terroranschläge beeinflussen die Debatte und politische Aktivitäten in weit stärkerem Maße als konzeptionelle Erwägungen und Prävention (S. 256). Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, dass sämtliche Gesetzgebungsmaßnahmen mit einer stetig zunehmenden Einschränkung von Freiheitsrechten einhergingen, wobei innerhalb der diskursiven Legitimierung der Verweis auf Europa allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Vielmehr war das stetige Begründungsmuster die nationale Bedrohungslage (S. 258). Gleichwohl fördert die Arbeit zutage, dass zugunsten der Europäisierung eine Sogwirkung eingetreten ist, die bewirkt, dass bi- und multilaterale Kooperationen wie etwa diejenige der Ostsee-Anrainerstaaten an Bedeutung zugunsten der europäischen Ebene verloren haben. Zentraler Punkt einer vollständigen Europäisierung aber sei, dass sich die Leistungserwartungen und Wahrnehmungen der europäischen Bürger auf Europa und nicht überwiegend oder ausschließlich auf den eigenen Nationalstaat ausrichteten, weshalb nicht zuletzt eine gemeinsame europäische Verfassung die Bemühungen vorantreiben könnte.

Insgesamt stellt die vorliegende Arbeit daher trotz einiger Kritikpunkte gerade aufgrund ihrer aktuellen Themenstellung und des reichhaltigen Materialfundus einen lesenswerten und weitere Auseinandersetzung mit der Thematik anregenden Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Europaforschung dar.


Björn G. Schubert
Hannover

 

[1] Hermann Heller (1934), Staatslehre, XVI, 298 S., Leiden: Sijthoff, 1934 (6., bearbeitete Auflage, Tübingen 1983).

     
      
 
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