Klima, Öl und Kernenergie:
Ist Deutschlands Klimaziel für 2020 zu schaffen ohne Ausstieg aus dem Kernenergieausstieg?*

Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG):
Klimaschutz und Energieversorgung in Deutschland 1990–2020.
September 2005. [1]

Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (Hrsg.):
Energiereport IV: Die Entwicklung der Energiemärkte bis zum Jahr 2030. Energiewirtschaftliche Referenzprognose.
München: Vulkan-Verlag 2005. 501 S. [2]

Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln und Prognos AG Basel: Auswirkungen höherer Ölpreise auf Energieangebot und -nachfrage. Ölpreisvariante der Energiewirtschaftlichen Referenzprognose 2030.
Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Berlin, Köln, Basel, August 2006. [3]

Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR):
Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Energierohstoffen 2004. Kurzstudie. (Neufassung der Kurzfassung der Studie gleichen Namens, E. Schweizerbart, Stuttgart 2003).
Hannover 2005.
[4]


 
       
    Heft 4/2006  
     
   
  
 

Aus historischen Anlass versprach Bundeskanzler Kohl auf der Berliner Klimakonferenz im Mai 1995 [5] eine Minderung der Emissionen von Treibhausgasen (thg) von Deutschland aus relativ zum Stand im Jahre 1990 um 130 Megatonnen pro Jahr (Mt/a) [6] bis zum Jahre 2010. Dieses Ziel wird auch erreicht werden. Zudem besteht für die Zeit jenseits von 2010 ein Angebot der alten (rot-grünen) Bundesregierung, welches die neue Bundesregierung, im Wesentlichen zumindest, bestätigt hat: Deutschland sei bereit sich zu verpflichten, seine Emissionen von Treibhausgasen bis zum Jahre 2020 (relativ zu 1990) um 40 Prozent oder 500 Mt/a (im Zieljahr) zurückzuführen. Das heißt, in nur einem Jahrzehnt, von 2010 bis 2020, sollen die Emissionen nun um 240 Mt/a zurückgeführt werden – das ist beinahe doppelt soviel wie in den beiden Jahrzehnten zuvor. Hinzu kommt noch die Notwendigkeit, den unter Rot-Grün beschlossenen und im Koalitionsvertrag nicht widerrufenen Ausstieg aus der Kernenergie in diesem Jahrzehnt zu kompensieren – das bringt zusätzlich einen Minderungsbedarf in Höhe von 110 Mt/a pro Jahrzehnt.

Das Thema in dieser Weise, unter Nutzung der gewöhnungsbedürftigen aber einleuchtenden ›Metrik‹ »Emissionsminderung pro Jahrzehnt, gemessen in Mt [CO2]/a im Zieljahr des Jahrzehnts« zugespitzt zu haben, ist Leistung der Untersuchung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Deren Autorenteam weist damit auf die völlig andere Größenordnung des Ziels der Regierung Merkel für das kommende Jahrzehnt hin, verglichen mit dem Ziel, welches die Regierung Kohl uns bis zum Jahre 2010 gesetzt hatte.

130 Megatonnen pro Jahr Minderung im Durchschnittsjahrzehnt 1990 – 2010 wird mittels nicht unerheblicher Anstrengungen seitens der Politik erreicht – dies nehmen die Autoren als einen fortsetzbaren »Trend«. Soll in Zukunft, zwischen 2010 und 2020, ein Volumen von 240 Mt/a pro Jahrzehnt »gepackt« werden, so sind das 110 Mt/a über den so definierten und folglich doch eher fragilen »Trend« hinaus. Zusammen also (130 + 110 + 110 =) 350 Mt/a im Zieljahrzehnt 2010–2020, gegenüber 130 Mt/a im Durchschnittsjahrzehnt 1990–2010 ist das eine knappe Verdreifachung.

Die Frage steht im Raum: Wie ist dies zu schaffen? Geht das ohne Ausstieg aus dem Kernenergieausstieg? Wo soll die »Deckung« für dieses zugesagte Minderungsvolumen herkommen? Geschähe nichts über den (bereits anspruchsvollen, weil politisch als »vorangetrieben« unterstellten) Trend (inkl. Kernenergieausstieg) hinaus, so würde Deutschland im Jahre 2020 bei minus 280 Mt/a relativ zum Stand 1990 landen. Die Differenz zum Ziel beträgt 220 Mt/a.

Die Antwort, die die dgp-Studie selbst auf diese Frage gibt, ist unvollständig. Sie lautet: Die Suche nach einem Deckungspotenzial über den bisherigen Trend der »trendverändernden« Politik hinaus hat, zumindest offensichtlich, nur ein Potenzial in Höhe von knapp 60 Mt/a (Tab. 5, S. 91) ergeben. Dieses besteht aus zusätzlicher Verwendung erneuerbarer Energien sowie einer Verdoppelung des Gasanteils im Kraftwerkspark. Darüber hinaus sehen die dpg-Autoren zum Gegensteuern (kurzfristig) nur noch ein Potenzial durch einen Aufschub des Ausstiegs aus der Kernenergie – das brächte zusätzlich gut 110 Mt/a. Die DPG-Autoren plädieren zudem für ein Programm der Installation von solarthermischen Kraftwerken im Mittelmeerraum, insbesondere an dessen Südseite. Das aber halten sie selbst schon für einen nicht mehr rechtzeitig zu erbringenden Beitrag zur Lösung des restlichen Problems. Insgesamt entsteht für den Leser der Eindruck, dass die klimapolitische Zusage der Bundesregierung für das Jahr 2020 nicht implementierbar und eigentlich unseriös ist.

Dieser Eindruck wird korrigiert, wenn man das Ergebnis des Energiereports IV (ERP IV) unter der hier gewählten klima-kernenergiepolitischen Perspektive studiert. Die Untersuchung wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWI) unter Federführung des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) zusammen mit der Basler Prognos AG erarbeitet. Der Energiereport IV ist die jüngste Fassung der traditionsreichen Energie-Prognose für Deutschland, welche das bmwi regelmäßig vorlegt. Er enthält dieses Mal eine methodische Neuerung: es wird nämlich eine »Referenzprognose« abgegeben. »Referenzfall« bedeutet hier aber nicht »Selbstlauf«, vielmehr werden dabei »grundlegende energiepolitische Weichenstellungen, die (…) wahrscheinlich sind, (…) berücksichtigt.« (S. IX) – das hat zwar einen Anklang an das Verständnis von »Trend« in der DPG-Untersuchung, als ja auch dort die »Politik« als diejenige Kraft definiert ist, die für die »Fortsetzung« des bisherigen Minderungstrends sorgt, geht aber offenbar deutlich darüber hinaus.

Die Ergebnisse beider Studien differieren nur wenig. Die von der DPG-Gruppe erhobene Anfrage, wie denn das Angebot einer Minderung von 40 Prozent bis 2020, verbunden mit dem Ziel des Kernenergieausstiegs, seriös vorstellbar sei, erhält dadurch noch an Gewicht, dass der Energiereport IV eine umfangreiche und solide von unten nach oben »durchbuchstabierte« Untersuchung ist.

Die Antwort hat das Umweltministerium (BMU) zu geben – der im Auftrag des BMWI erarbeitete ERP IV ist gleichsam ein Fehdehandschuh, der in den politischen Ring geworfen wurde. Zugespitzt wurde die Herausforderung noch durch ein »update«, welches Ende August 2006 publiziert wurde. Anlass dafür ist die Tatsache, dass in der im Jahre 2005 publizierten Vollfassung von Ölpreisen ausgegangen wurde, die bis zum Jahre 2030 allmählich auf 30 US-Dollar (2000)/ Barrel ansteigen. Nun ist der Ölpreis aber zwischenzeitlich auf knapp 50 US-Dollar (2000)/Barrel angestiegen. Der Sinn des update ist zu ergründen, was sich in der deutschen Energiewirtschaft ändert, wenn dass Ölpreisniveau weiter so steigt, dass in 2030 ein Niveau von 60 US-Dollar (2000)/Barrel erreicht und damit das bisherige Rekordniveau vom Anfang der achtziger Jahre erreicht und leicht überschritten wird. Der Steinkohleweltmarktpreis dagegen wird konstant gehalten. Die Konsequenz in der Elektrizitätswirtschaft ist dramatisch: Dort wird es nach Einschätzung der Autoren zu einer massiven Rückführung von Erdgaskraftwerken und einer Substitution durch Steinkohlekraftwerke kommen, was für die Klimabilanz deswegen schwerwiegend ist, weil die Emission pro Kilowattstunde (kWh) in solchen substituierenden Kohlekraftwerken um den Faktor 2,5 höher ist als in den bislang projektierten Gaskraftwerken, die den Großteil des Zubaus, wie er auf dem Energiegipfel am 3. April 2006 der Bundeskanzlerin versprochen wurde, ausmachen.

Wie auch immer das BMU antworten wird, gilt erstens jedenfalls: Seit »Kyoto« sind die Nationalstaaten, des un-spezifischen Territorialstaatenprinzips ungeachtet, nicht verpflichtet, die Emissionen von ihrem Staatsgebiet aus zu mindern: Sie haben die Möglichkeit, überschießende Emissionen von ihrem Territorium aus durch anderswo vermiedene Emissionen auszugleichen und dadurch »ihre« Emissionsgrenzen einzuhalten. Soll heißen: Das »40-Prozent-Ziel« der Bundesregierung ist partiell durch Zukauf erfüllbar.

Und zweitens gilt: Nicht die Unausweichlichkeit des Aufschubs für den Ausstieg aus der Kernenergie, falls Deutschland ein »Minus-40-Prozent-Ziel« bis zum Jahre 2020 erreichen können will, ist mit den beiden Untersuchungen erwiesen. Vielmehr zeigen sie übereinstimmend: Die Uhr tickt, und mit jedem Monat Verzögerung in der Implementation heute noch bestehender alternativer Deckungsoptionen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Aufhebung des Ausstiegs aus der Kernenergie zur »last ressort-Option« wird. Es bedarf einer außergewöhnlichen politischen Anstrengung über den »Trend« (im jeweiligen Verständnis) hinaus, um nicht die »last-ressort-Option« unausweichlich werden zu lassen. Heute jedoch gilt: »Es gibt Alternativen« – um eine beliebte Politiker-Ausflucht zu dementieren. Oder anders gewendet: Das Problem ist die Kurzfristigkeit der Zielsetzung seitens der Politik, die wirtschaftsunverträglich ist. Dass der Europäische Rat sich beispielsweise im März 2005 nur auf eine Vorgabe bis 2030, nicht aber auf eine von den EU-Umweltministern bereits »vorgespurte« Vorgabe bis 2050 zu einigen vermochte, illustriert das Problem.

Ein Motiv für diese Diagnose hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Sachen, welche die hier anzuzeigenden Bücher getrennt zum Thema machen, eigentlich verflochten, dass sie in Wahrheit Teile eines größeren Zusammenhangs sind. Vereinzelt man die anstehenden Probleme in fachlicher Perspektive, so erscheinen sie größer als sie in Wahrheit, zusammengenommen, sind.

Bei der Untersuchung der Knappheit der Energieträger, insbesondere der von klassischem Rohöl, seitens der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) handelt es sich ebenfalls um ein »update«, um eine Aktualisierung der Kurzfassung ihrer umfassenden Bestandsaufnahme per Ende 2002. Die BGR versucht, für etwas historisch Neuartiges Aufmerksamkeit zu schaffen, sie weist auf »Trendveränderndes« hin.

Die Perspektive ist global. Es geht um den Welt-Ölverbrauch bzw. dessen Komplement, die Welt-Erdölförderung. Für die war »im Jahr 2004 ein deutlicher Anstieg auf 3 847 Megatonnen zu verzeichnen. Damit wurde das bisherige absolute Fördermaximum von 3 563 Megatonnen aus dem Jahr 2000 deutlich überschritten.
«
Zugleich macht die BGR klar, dass die »Bäume« (der Bereitstellung konventionellen Rohöls) nicht »in den Himmel wachsen« werden, weil sie es nicht können: »Der ›depletion midpoint‹ für konventionelles Erdöl … dürfte innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre erreicht werden. So ist ein sukzessiver Rückgang der Förderung spätestens ab diesem Zeitpunkt vorprogrammiert.« (15) Das heißt, wir haben uns nicht lediglich auf eine Stagnation des Ölangebots, sondern auf dessen Sinken einzurichten, und das sehr bald – so die offiziöse Botschaft. Ihr fehlt es bislang an öffentlicher Durchschlagskraft. Der historischen Neuartigkeit wegen ist sie nur schwer vorstellbar.

Wenn heute vorab wahrgenommen würde, dass spätestens in zwanzig Jahren das (Roh-)Ölangebot und folglich das an Treibstoffen (aus fossilen Kohlenwasserstoffquellen) jene negativen »Wachstums«-Raten aufweisen werden, die aus isoliert klimapolitischer Sicht zugleich so wünschenswert wie schwer nur erreichbar erscheinen, dann wäre der Klimapolitik damit gleichsam ein »Bundesgenosse« zugewachsen. Dann erschiene der »Widerstand«, gegen den die Klimapolitik wie ein David anzukämpfen hat, nicht länger als übermächtig. Darin zeigt sich anschaulich, was als abstrakte Weisheit immer wieder formuliert wird: Nachhaltigkeitspolitik habe »integriert« zu sein. Soll sagen: Klimapolitik (z.B.) ist als Fachpolitik zum Scheitern verurteilt, sie hat nur »synergistisch« Aussicht auf Erfolg – nur wenn sie Teil einer Politik ist, die mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt, erwächst dem vermeintlichen »Zwerg«, dessen Aufgabe der Schutz der Lebensgrundlagen ist, eine »Schleuder«‹, mit der Goliath zu besiegen ist. Genauer gesagt: Dann wird aus der gegnerischen Konstellation »›David gegen Goliath« eine Konstellation der Kooperation.

Hans-Jochen Luhmann
Wuppertal-Institut

* Die angezeigten Bücher mit im Schwerpunkt energiewirtschaftlichen Fragestellungen
werden hier im Hinblick auf einen klimapolitischen Fokus besprochen.

[1] http://www.dpg-physik.de/info/broschueren/klimastudie_2005.pdf.
[2] http://www.bmwi.bund.de/bmwi/Redaktion/pdf/Publikationen/ Dokumentationen/ewi-prognos_E2_80_93studie-entwicklung-der-energie maerkte-545,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf.
[3] http://www.bmwi.de/bmwi/Redaktion/pdf/Publikationen/Studien/ auswirkungen-hoeherer-oelpreise-auf-energieangebot,property=pdf,bereich= bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf.
[4] http://www.bgr.bund.de/cln_030/nn_454936/de/Themen/Energie/Downloads/
Energiestudie__Kurzf__2004,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/ Energiestudie_Kurzf_2004.pdf.
[5] Die Berliner Klimakonferenz (cop-1) war die erste Vertragsstaatenkonferenz im Anschluss an den Weltgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, auf dem die meisten Staaten die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (unfccc) ratifiziert hatten.
[6] Mt/a = Megatonnen pro Jahr (Mega = Million).

 

     
      
 
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