Zu diesem Heft — Heft 4/2006
 
    
  

Die Verknappung von Energie und Rohstoffen setzt globale Konfliktpotenziale frei. Dies gilt seit Ende der 1990er Jahre ganz besonders für Öl, wo die Gefahr von Versorgungsengpässen oder gar Lieferunterbrechungen dramatisch zugenommen hat. Seit die weltweite Reservekapazität (»spare capacity«) auf den niedrigsten Wert der letzten 30 Jahre gefallen ist, reicht ein Hurrikan, ein Unfall in einer Raffinerie, eine Pipelinehavarie oder die Gefahr eines Bürgerkriegs in einem Produktionsland, um extreme Preissprünge auszulösen. Noch hat die Nachfrage das Angebot zu keinem Zeitpunkt überholt, es hat zu keinem Zeitpunkt Lieferausfälle gegeben, und zudem lagern an vielen Orten der Welt beträchtliche Ölreserven. Doch seit vorstellbar ist, dass das Angebot dauerhaft hinter der Nachfrage zurückbleiben könnte, betrachten nicht nur große Akteure wie die USA, China und Indien sondern auch Mittelmächte die dauerhafte Gewährleistung hinreichender Zulieferungen als eine sicherheitspolitische Priorität. In vielen Ländern werden Investitions- und militärstrategische Entscheidungen immer stärker in Funktion von Energieinteressen und mit Blick auf Versorgungssicherheit getroffen und auch die Prioritäten bei bilateralen Beziehungen stehen in einem zunehmend engeren Zusammenhang mit Energiesicherheit.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde Energiesicherheit mit dem reibungslosen Funktionieren der Märkte gleichgesetzt. Doch das Vertrauen in die Marktkräfte schwindet. Dies zum einen, weil einige Produzentenländer nicht der Versuchung widerstehen können, ihren Energiereichtum als politische Waffe zu benutzen. Zum anderen, weil zahlreiche Energieimportländer aggressive nationale Strategien zum Aufbau strategischer Positionen in Produktionsländern verfolgen, und zwar durch Investitionen in Lagerstätten, Produktionsfirmen und die Transportinfrastruktur, durch die Förderung von Unternehmensverflechtungen sowie insbesondere durch »flankierende« militärische oder geostrategische Schachzüge. Konkurrenz und Versuche sich gegenseitig auszustechen könnten leicht zu »heißen« Konflikten eskalieren.

Mit Gewalt, Geld und aggressiver Diplomatie werden derzeit überall die Demarkationslinien eines »neuen kalten Krieges« gezogen und, wo Ansprüche kontrovers sind, auch ausgekämpft. In diesem Verdrängungswettbewerb werden die Großen eher ihre Interessen wahren als die wirtschaftlich schwachen Staaten der Dritten Welt, die nicht über Rohstoffe verfügen. Verdrängungswettbewerb, ein »neuer kalter Krieg«, der Einsatz von Energierohstoffen als politische Waffe: Sollten sich diese Tendenzen durchsetzen, hätte dies notwendig eine empfindliche Schwächung der multilateralen Ordnung nicht nur des Energiesektors zur Folge, denn die Energieproblematik wirkt in eine Reihe anderer Politikfelder wie Umwelt-, Klima-, Handels-, Entwicklungspolitik u.a. hinein.

In der vorliegenden Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT plädiert Kirsten Westphal für die Stärkung der multilateralen Ansätze der EU-Energiepolitik und für eine Abkehr von den geopolitischen Kalkülen, die in vielen Mitgliedsländern dominieren. Zwar sind die Realisierungschancen für eine gemeinsame Energiepolitik nach dem EU-Plan vom März 2006 just wegen nationalstaatlicher Egoismen derzeit eher gering. Doch angesichts der wachsenden Energienachfrage, des knappen Angebots und der Verschiebung der Produktionsschwerpunkte gibt es keine Alternative zur Weiterentwicklung der multilateralen Ordnung des Energiesektors mit dem Ziel, die Interessen von Produzenten- und Verbraucherländern zu harmonisieren und eine verlässliche Energieversorgung aller zu gewährleisten.

Dies sieht die chinesische Führung ganz anders. Sie setzt auf Wettbewerb mit anderen Nachfragern, versucht zu den Energielieferanten Chinas exklusive Beziehungen zu entwickeln und diese durch diversifizierte Kooperationsbeziehungen strategisch abzusichern. Wie dies im Detail abläuft, zeigt Jochen Steinhilber am Beispiel Nahost und Nordafrika. Zwar agiert China ökonomisch aggressiv, setzt aber gleichzeitig auf politische Zurückhaltung, versucht, sich aus den Krisen der Region herauszuhalten und vor allem eine Konfrontation mit den USA zu vermeiden.

Bei seinem Durchgang durch die lateinamerikanische Energiepolitik findet der langjährige Europaabgeordnete und Energieexperte Rolf Linkohr nur wenig, was zur Weiterentwicklung der multilateralen Ordnung im Energiesektor beitragen könnte. Energienationalismus und die staatliche Kontrolle der Energieproduktion verhindern Synergien und bewirken, dass selbst elementare Prozesse der regionalen Energieintegration nur sehr langsam vorankommen. Zurückzuführen ist dies aber letztlich darauf, dass rohstoffreiche Länder oft sozio-ökonomische Pathologien ausbilden, die Entwicklung verhindern. Jürgen Schuldt und Alberto Acosta werten die Literatur über diesen »Fluch des Überflusses« aus und versuchen Möglichkeiten aufzuzeigen, um ihm zu entgehen.

Tendenzen zur Schwächung der multilateralen Ordnung gibt es nicht nur im Energiebereich. Just die multilateralen Regime der nuklearen Rüstungskontrolle, die lange als Erfolgsgeschichte galten, sind unter Druck geraten. Im Atomstreit mit dem Iran geht es auch um die Frage, ob der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen (NVV) noch eine Zukunft hat. Michael Brzoska und Götz Neuneck demonstrieren, dass es für eine Verhandlungslösung mit dem Iran keine fundamentalen Hindernisse gibt. Sowohl die Eskalation des Atomstreits mit dem Iran als auch der US-Atomdeal mit Indien, den Oliver Meier analysiert, nähren den Verdacht, dass die USA den NVV nahezu aufgegeben haben.

In Ergänzung des Schwerpunkts analysiert Erfried Adam die Konsequenzen der Suspendierung der Welthandelsrunde, Marius Busemeyer u.a. präsentieren die Ergebnisse einer Studie zum Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell, und Stefanie Flechtner fragt, was die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik leisten will, kann und muss.

     
 
     
 
 
     
© Friedrich-Ebert-Stiftung   Redaktion/net edition: Gerda Axer-Dämmer | 1/2007  < Top