HANS ARNOLD:
Wie viel Einigung braucht Europa?


 
    
   Heft 3/2006  
    
  Düsseldorf 2004
Droste Verlag, 208 S.
  
 

Politiker reden gern in schönen Formeln, gerade wenn sie wissen, dass solche »Nebelschwaden« (S. 144) mit der Realität in Gegenwart und Zukunft wenig zu tun haben. In Deutschland beschwören sie alle Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze und zerbrechen dabei eifrig die Hebel, mit denen Politik allenfalls die Wirtschaft beeinflussen könnte. In Europa reden sie ständig von Erweiterung und Vertiefung der Union. Das ist immerhin nur zur Hälfte illusorisch: die EU erweitert sich tatsächlich um alle möglichen Staaten, deren Bürger gern so leben möchten wie die Westler. Aber Vertiefung?

Da ist ein Diplomat, der nicht in schönen Formeln redet, sondern Tacheles, ein seit 1987 pensionierter Diplomat, zuletzt Vertreter der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Sitz der Vereinten Nationen in Genf. 1999 hat Hans Arnold schon einmal laut und neu über Europa nachgedacht und seine Leser auf die peinliche Tatsache gestoßen, dass seit dem Vertrag von Maastricht 1992 sich der Motor ernsthafter Integration in der eu festgefressen hat, dass nunmehr »soviel wie möglich nationalstaatlich bleiben und nur so viel wie unbedingt nötig vergemeinschaftet werden« soll (Europa neu denken, Bonn 1999, S. 76). Jetzt 2004 – genauer: nachdem Ende 2003 die Regierungschefs der eu über die so genannte »Verfassung« Europas gestolpert waren, die sie dann später doch beschlossen, worauf die Völker Frankreichs und der Niederlande sie verwarfen – fasst Arnold nach. Seine Analysen über die Interessen der immer noch so genannten Nationalstaaten (»… ein mieses politisches System …« S. 108), über den Euro, über Grenzen und Kulturen Europas, über die so genannte »Sicherheit« (also das Militär) und über die Stellung der EU gegenüber UNO, NATO und USA regen auch in der Ende 2005 etwas veränderten Situation zum Weiterdenken an – auf die Gefahr, es könne zu schmerzhaftem Zweifel, vielleicht gar Verzweifeln am Gedeih des 1950 mit so viel Schwung und Hoffnung begonnenen europäischen Einigungswerkes führen.

Deutschlands Interesse ist Einbindung in die EU, schreibt Arnold. Rennt er damit nicht offene Türen ein – von der CSU bis zur PDS? Nein, denn warum das so ist, damit demaskiert Arnold auch an diesem Punkt die gängigen Illusionen der Politiker – mindestens von der CSU bis zur SPD: da es »den präzise strukturierten Westen« seit dem Zerfall des Sowjetblocks nicht mehr gibt, kann Deutschland die (von Kohl, Genscher, Schröder, Fischer zwar nie zugegebene, aber stets betriebene [F.A.]) »immer komplizierter werdende Balance zwischen Paris und Washington « nicht mehr »zur Grundlage seiner Außenpolitik machen« (S. 74).

Also – frage ich mich – war die Einführung des Euro ein richtiger Schritt zur Festigung, zur Vertiefung der EU? Arnold ist skeptisch. Mit dem Verzicht auf die Deutsche Mark erkaufte Kanzler Kohl 1990 vor allem Frankreichs Zustimmung zur Wiedervereinigung; das besorgte deutsche Volk wurde mit der Zusicherung getröstet, eine unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) würde über die Stabilität des Euro ebenso kraftvoll wachen wie zuvor die Bundesbank über die DM. Arnold informiert uns, dass in Wirklichkeit ein kompliziertes Geflecht von einzelstaatlich verankerten Zuständigkeiten sich um die ezb rankt, dass insbesondere der berühmte »Stabilitätspakt« ebenso wenig ein Pakt (nämlich kein völkerrechtlich bindender Vertrag) ist wie die EU-»Verfassung« eine Verfassung, sondern nur eine Entschließung plus zwei Verordnungen des Europäischen Rats (S. 86). Arnold konnte Anfang 2004 noch nicht wissen, dass Frankreich, Deutschland, Griechenland, Portugal mit ihrem Staatsdefizit ungestraft kreative Buchführung treiben würden; er benennt den Hintergrund, vor dem das möglich ist. Fazit: die angebliche Wirtschafts- und Währungsunion macht Sinn nur als »Ferment für die Entwicklung der politischen Union« (S. 77) – die seit Maastricht niemand mehr will. »Die EU-Staaten haben den Euro in die Welt gesetzt, aber darauf verzichtet, die für ein solches Projekt erforderlichen strukturellen, rechtlichen und politischen Voraussetzungen zu schaffen« (S. 87). Kürzer, schärfer gesagt: »Schaupackungen« (S. 86), ein »Bündel von Tricks« (S. 91). Versöhnlich mahnt Arnold zum Schluss des Kapitels für die Behütung des Euro »mehr überstaatliche Einigung « an, um »die von den EU-Staaten mehrheitlich gewünschten lockereren Formen der europäischen Einigung erfolgreich fortführen zu können« (S. 96) – also wieder einmal eine Quadratur des Kreises, welche in der Mathematik bekanntlich unmöglich, in der weniger logischen Politik immer noch höchst unwahrscheinlich ist.

Der Gretchenfrage, wo Europas Grenzen im Osten und Südosten liegen, um die Politiker sich gern herumdrücken, weicht Arnold gewiss nicht aus: nur überzeugt er allenfalls mit einer pragmatischen Antwort, seine Grundsatz-Überlegungen fordern Widerspruch heraus. Russland und die Türkei (denn um diese beiden geht es) sind ihm schlicht zu groß, um je in die EU zu passen (S. 133 ff.). Das stimmt wohl, und bei den Türken kommt die den Völkern Europas abhanden gekommene Geburtendynamik hinzu. Aber historischen Tiefgang lässt dieses Argument vermissen. Arnold selbst erwähnt, dass für die europäische Identität der geschichtliche Widerstand gegen Invasionen aus dem Osten einiges bedeutet. Nun mag sein, dass im eindeutig auf das moderne Westeuropa orientierten Türkei- Konzept Kemal Atatürks noch weniger von der Tradition des Oströmischen Reiches steckt als von der des Osmanischen, das eine dieser Invasionen bis vor die Tore Wiens getragen hat. Byzanz jedenfalls, geographisch fast deckungsgleich mit der heutigen Türkei, war fast tausend Jahre lang das Bollwerk Europas gegen den mehr oder weniger fundamentalistischen Islam. Es ist auch richtig, dass Russland (inklusive Ukraine) im 13. Jahrhundert von den Mongolen überrannt und dadurch in seiner politischen Gestalt stark beeinflusst (man darf sagen: deformiert) wurde. Aber Russland hat dann die Mongolenherrschaft abgeschüttelt, und seit Peter dem Großen (den Arnold im Vorbeigehen auf Seite 135 erwähnt) war es bis 1917 unbestritten eine europäische Großmacht, nach 1815 eine der Fünf, die gemeinsam die Stabilität des Europäischen Konzerts auch durch schrill disharmonische Kriege hindurch garantierten – ganz ähnlich wie seit 1945 die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat die UN-Ordnung. Es wird schwierig, Russland aus der EU auszusperren, zumal, wenn die EU dann auch (Arnold sieht das) der Ukraine, Moldawien und Belarus die Mitgliedschaft versagen muss, um die EU nicht vollends gegen Russland in Stellung zu zwingen (Polen und die baltischen Staaten strapazieren mit ihrem elementaren Misstrauen gegen Moskau das Verhältnis schon zur Genüge!). Ähnliches gilt für ein definitives Nein zur Türkei mit Seitenblick etwa auf Israel oder Georgien und Armenien.

Würde die EU Ernst machen mit Gemeinsamer Außen- und Militärpolitik (ihrer Nichtexistenz widmet Arnold sein Abschlusskapitel), mit Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion, mit einer Verfassung, die diesen Namen (und den Namen Demokratie) verdiente, dann blieben vermutlich Moskau und Ankara von selbst auf Distanz, eben weil jeder dortige Regent eigenständige Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik treiben will, vermutlich treiben muss, um berechtigte Ansprüche seines Volkes zu erfüllen. Nur solange die Herrschaften in Paris, Berlin, London sich wider besseres Wissen gebärden, als regierten sie souveräne Großmächte anstatt Regionen Europas (oder als Alternative Brückenköpfe der USA), dürfen auch der jeweilige Zar und Sultan erwarten, ihren Kuchen gleichzeitig essen und behalten zu können.

Hans Arnold wünscht sichtlich ein real existierendes Vereintes Europa aus tiefer Seele. Wie es angesichts der von ihm analysierten Barrieren, die sich die Europäer seit 1992 selbst mit dem Richtungswechsel von Integration zu Kooperation über den Weg gelegt haben, vielleicht doch zu erreichen wäre – dazu Genaueres zu sagen, zügelt er 2004 seine nüchterne Vernunft vielleicht allzu hart.

Franz Ansprenger
FU Berlin

     
      
 
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