Zu diesem Heft — Heft 3/2006
 
    
  

In der islamischen Welt gibt es seit geraumer Zeit eine lebhafte Diskussion über den richtigen Umgang mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung, die längst auch die islamisch geprägten Länder erfasst hat. Doch anders als im christlichen Europa bedeutet Modernisierung dort nicht automatisch Säkularisierung, und aus der sozialen Modernisierung erwächst auch kein Mechanismus zur Trennung von Religion und staatlicher Politik. Im Gegenteil: die Bedeutung des Islam in der Politik und im öffentlichen Leben des Nahen Ostens, Nordafrikas und diverser asiatischer Länder hat seit den 1970er Jahren kontinuierlich zugenommen.

Die Erscheinungsformen und Existenzweisen des politischen Islam sind überaus vielfältig und von Land zu Land unterschiedlich. Das Spektrum reicht von Massenbewegungen bis zu Splittergruppen, von konventionellen Parteien bis zu Guerilla-Bewegungen, von sozialen bis zu ausschließlich politischen Organisationen, von religiösen Bruderschaften bis zu Unternehmerverbänden. Differenzen und Differenzierungen sind historisch gewachsen; bisweilen sind sie aber zurückführbar auf die Verbindung mit unterschiedlichen Rechtsschulen oder auf den Einfluss von Leitfiguren, die für Toleranz und Weltoffenheit oder für fundamentalistischen Radikalismus stehen.

Trotz aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit sind die wenigsten Exponenten des politischen Islam bereit, die Säkularisierung Europas als verbindliche Matrize der Modernisierung zu akzeptieren und das westliche Demokratieverständnis, sowie die westlichen Vorstellungen von Menschenrechten, individueller Freiheit und Frauenrechten eins zu eins zu übernehmen.

Dass die muslimische Welt nicht so werden will wie der Westen, nährt bei diversen Politikern unter-schiedlicher Couleur Zweifel an der Möglichkeit eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens mit islamisch geprägten Ländern und muslimischen Minderheiten. Mehr noch: Seit den Anschlägen in New York und Washington, in Madrid und London gilt die Existenz weltweit operierender islamistischer Terrornetz-werke zunehmend als Beleg für eine Generaloffensive »des Islam« gegen »den Westen«. Selbst Experten streiten sich darüber, ob die zahlreichen Facetten des politischen Islam überhaupt von Belang sind oder ob es sich dabei – letztlich – um ein uniformes und gefährliches Phänomen handelt, das es rücksichtslos zu bekämpfen gilt. Durch solche Positionen kommt auch Samuel P. Huntington erneut zu Ehren, der den Islam bereits vor zehn Jahren zu einer Gefahr für den Westen stilisiert und damit für allerlei Disput gesorgt hatte.

Die Gleichsetzung der muslimischen Welt mit dem islamischen Extremismus ist eine Generalisierung, die Frontstellungen suggeriert, wo keine Fronten existieren, und die zu Polarisierungen führt, wo der Abbau von Spannungen und die Entwicklung guter Beziehungen geboten ist. Für Europa sind gute Beziehungen zur muslimischen Welt und insbesondere zu den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas aus mindestens drei Gründen von erheblicher Bedeutung: Konflikte und Krisen »direkt vor der Haustür« wirken in die EU hinein. Die europäische Energieversorgung hängt zu einem relevanten Teil von Lieferungen aus der Region ab. Die Beziehungen der Europäer zur Herkunftsregion ihrer muslimischen Immigrantengruppen wirken auf die Beziehungen zwischen Mehrheitsgesellschaften und Einwandererkolonien zurück. Nach Lage der Dinge sind gute Beziehungen zur muslimischen Welt aber nicht zu haben ohne gute Beziehungen auch zu Islamisten, denn diese sind als gesellschaftliche und politische Akteure nicht ignorierbar.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine differenzierte und unaufgeregte Politik der Koexistenz, Kooperation und Wechselseitigkeit ist die Bereitschaft, Klischees zu überwinden und die widersprüchliche Vielfalt der realen Prozesse zur Kenntnis zu nehmen. In den Analysen der vorliegenden Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT ist der Fokus vor allem auf den Nahen Osten und Nordafrika gerichtet. In seinem Überblicksartikel zeigt Holger Albrecht, dass die islamistischen Organisationen, die im gesamten Vorderen Orient die wichtigste Gegenelite darstellen, in den politischen Systemen der einzelnen Länder unterschiedliche Rollen und Funktionen übernehmen. In einigen autoritären Regimen sind sie Teil der Machtstruktur, zumeist stellen sie aber die Opposition, und als Opposition können sie integriert sein, toleriert oder unterdrückt werden. Albrecht kommt zu dem Schluss, dass der Islamismus für die autoritären Regime der Region eine viel größere Herausforderung darstellt als für den Westen.

Am Beispiel von Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien setzen sich Florian Kohstall, Steffen Hertog und Ferhad Ibrahim mit Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozessen in den genannten Ländern auseinander. In allen drei Fällen wird die Reichweite und Intensität der Reformen durch die Machterhaltungsinteressen der etablierten Regime beschränkt.

Einen Kontrapunkt setzt Michael Bröning in seiner Analyse des westafrikanischen Islam, der traditionell als liberaler, friedlicher und weniger orthodox gilt als der arabische. Zwar gibt es auch in Westafrika interreligiöse Konflikte, und die Gefahr einer »Talibanisierung« ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Trotzdem scheint die friedliche Koexistenz von Christen, Animisten und Muslimen grundsätzlich möglich. In Mali und Senegal haben sich die institutionellen Arrangements der »islamischen Demokratie« bewährt. Und in Nigeria und Elfenbeinküste, wo politische Konflikte oft als interreligiöse Konflikte ausgetragen werden, haben muslimische Organisationen zumeist zur Deeskalation beigetragen.

Warum es im Irak nicht gelungen ist, durch Einsatz militärischer Gewalt eine Demokratie aufzubauen, erläutert Henner Fürtig. Konzeptionslosigkeit ist einer der wesentlichen Gründe: Die US-Strategie für die »demokratische Rekonstruktion« des Irak basierte auf Versuch und Irrtum; ihre Inkohärenz und häufige Kurswechsel frustrierten die Demokratisierungsbefürworter und spielten den Gegnern in die Hände. Statt auf die staatsbürgerlich geprägte städtische Mittelschicht stützte sich die Besatzungsmacht auf Exilpolitiker, Geistliche und Stammesnotabeln; die Neuordnung des Institutionensystems und die Besetzung von Ämtern erfolgte entlang ethnisch-konfessioneller Trennlinien, die mittlerweile zu tiefen Gräben wurden. Inzwischen drohen zentrifugale Kräfte die Oberhand zu gewinnen.

Außerdem enthält das Heft Beiträge zu den Problemen der Geschlechterdemokratie im arabischen Raum (Martina Sabra), zur Entstehung der Stereotypen des modernen Islambildes (Dietrich Jung) und zu den Perspektiven der Hamas-Regierung in Palästina (Alastair Crooke). Die islampolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Lale Akgün, fordert den Abbau von Feindbildern als Voraussetzung für einen rationalen Umgang mit muslimischen Mitbürgern. Ergänzend zum Schwerpunkt: ein Plädoyer von Thomas Palley für einen neuen Denkansatz über den Zusammenhang zwischen Handel, Entwicklung und Armutsreduzierung.

 

     
 
     
 
 
     
© Friedrich-Ebert-Stiftung   net edition: Gerda Axer-Dämmer | 7/2006  < Top