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In der islamischen Welt gibt es seit geraumer Zeit eine lebhafte Diskussion
über den richtigen Umgang mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Modernisierung, die längst auch die islamisch geprägten
Länder erfasst hat. Doch anders als im christlichen Europa bedeutet Modernisierung
dort nicht automatisch Säkularisierung, und aus der sozialen
Modernisierung erwächst auch kein Mechanismus zur Trennung von
Religion und staatlicher Politik. Im Gegenteil: die Bedeutung des Islam
in der Politik und im öffentlichen Leben des Nahen Ostens, Nordafrikas
und diverser asiatischer Länder hat seit den 1970er Jahren kontinuierlich
zugenommen.
Die Erscheinungsformen und Existenzweisen des politischen Islam
sind überaus vielfältig und von Land zu Land unterschiedlich. Das Spektrum
reicht von Massenbewegungen bis zu Splittergruppen, von konventionellen
Parteien bis zu Guerilla-Bewegungen, von sozialen bis zu ausschließlich
politischen Organisationen, von religiösen Bruderschaften bis
zu Unternehmerverbänden. Differenzen und Differenzierungen sind historisch
gewachsen; bisweilen sind sie aber zurückführbar auf die Verbindung
mit unterschiedlichen Rechtsschulen oder auf den Einfluss von
Leitfiguren, die für Toleranz und Weltoffenheit oder für fundamentalistischen
Radikalismus stehen.
Trotz aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit sind die wenigsten Exponenten
des politischen Islam bereit, die Säkularisierung Europas als verbindliche
Matrize der Modernisierung zu akzeptieren und das westliche
Demokratieverständnis, sowie die westlichen Vorstellungen von Menschenrechten,
individueller Freiheit und Frauenrechten eins zu eins zu
übernehmen.
Dass die muslimische Welt nicht so werden will wie der Westen, nährt
bei diversen Politikern unter-schiedlicher Couleur Zweifel an der Möglichkeit
eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens mit islamisch
geprägten Ländern und muslimischen Minderheiten. Mehr noch:
Seit den Anschlägen in New York und Washington, in Madrid und London gilt die Existenz weltweit operierender islamistischer Terrornetz-werke
zunehmend als Beleg für eine Generaloffensive »des Islam« gegen
»den Westen«. Selbst Experten streiten sich darüber, ob die zahlreichen
Facetten des politischen Islam überhaupt von Belang sind oder ob es sich
dabei – letztlich – um ein uniformes und gefährliches Phänomen handelt,
das es rücksichtslos zu bekämpfen gilt. Durch solche Positionen kommt
auch Samuel P. Huntington erneut zu Ehren, der den Islam bereits vor
zehn Jahren zu einer Gefahr für den Westen stilisiert und damit für allerlei
Disput gesorgt hatte.
Die Gleichsetzung der muslimischen Welt mit dem islamischen Extremismus
ist eine Generalisierung, die Frontstellungen suggeriert, wo
keine Fronten existieren, und die zu Polarisierungen führt, wo der Abbau
von Spannungen und die Entwicklung guter Beziehungen geboten ist.
Für Europa sind gute Beziehungen zur muslimischen Welt und insbesondere
zu den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas aus mindestens
drei Gründen von erheblicher Bedeutung: Konflikte und Krisen »direkt
vor der Haustür« wirken in die EU hinein. Die europäische Energieversorgung
hängt zu einem relevanten Teil von Lieferungen aus der Region
ab. Die Beziehungen der Europäer zur Herkunftsregion ihrer muslimischen
Immigrantengruppen wirken auf die Beziehungen zwischen Mehrheitsgesellschaften
und Einwandererkolonien zurück. Nach Lage der
Dinge sind gute Beziehungen zur muslimischen Welt aber nicht zu haben
ohne gute Beziehungen auch zu Islamisten, denn diese sind als gesellschaftliche
und politische Akteure nicht ignorierbar.
Eine wesentliche Voraussetzung für eine differenzierte und unaufgeregte
Politik der Koexistenz, Kooperation und Wechselseitigkeit ist die
Bereitschaft, Klischees zu überwinden und die widersprüchliche Vielfalt
der realen Prozesse zur Kenntnis zu nehmen. In den Analysen der vorliegenden
Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT ist
der Fokus vor allem auf den Nahen Osten und Nordafrika gerichtet. In
seinem Überblicksartikel zeigt Holger Albrecht, dass die islamistischen
Organisationen, die im gesamten Vorderen Orient die wichtigste Gegenelite
darstellen, in den politischen Systemen der einzelnen Länder unterschiedliche
Rollen und Funktionen übernehmen. In einigen autoritären
Regimen sind sie Teil der Machtstruktur, zumeist stellen sie aber die Opposition,
und als Opposition können sie integriert sein, toleriert oder unterdrückt
werden. Albrecht kommt zu dem Schluss, dass der Islamismus
für die autoritären Regime der Region eine viel größere Herausforderung
darstellt als für den Westen.
Am Beispiel von Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien setzen sich
Florian Kohstall, Steffen Hertog und Ferhad Ibrahim mit Demokratisierungs-
und Liberalisierungsprozessen in den genannten Ländern auseinander.
In allen drei Fällen wird die Reichweite und Intensität der Reformen
durch die Machterhaltungsinteressen der etablierten Regime beschränkt.
Einen Kontrapunkt setzt Michael Bröning in seiner Analyse des
westafrikanischen Islam, der traditionell als liberaler, friedlicher und weniger
orthodox gilt als der arabische. Zwar gibt es auch in Westafrika interreligiöse
Konflikte, und die Gefahr einer »Talibanisierung« ist nicht völlig
von der Hand zu weisen. Trotzdem scheint die friedliche Koexistenz
von Christen, Animisten und Muslimen grundsätzlich möglich. In Mali
und Senegal haben sich die institutionellen Arrangements der »islamischen
Demokratie« bewährt. Und in Nigeria und Elfenbeinküste, wo politische
Konflikte oft als interreligiöse Konflikte ausgetragen werden, haben
muslimische Organisationen zumeist zur Deeskalation beigetragen.
Warum es im Irak nicht gelungen ist, durch Einsatz militärischer Gewalt
eine Demokratie aufzubauen, erläutert Henner Fürtig. Konzeptionslosigkeit
ist einer der wesentlichen Gründe: Die US-Strategie für die
»demokratische Rekonstruktion« des Irak basierte auf Versuch und Irrtum;
ihre Inkohärenz und häufige Kurswechsel frustrierten die Demokratisierungsbefürworter
und spielten den Gegnern in die Hände. Statt
auf die staatsbürgerlich geprägte städtische Mittelschicht stützte sich die
Besatzungsmacht auf Exilpolitiker, Geistliche und Stammesnotabeln; die
Neuordnung des Institutionensystems und die Besetzung von Ämtern
erfolgte entlang ethnisch-konfessioneller Trennlinien, die mittlerweile zu
tiefen Gräben wurden. Inzwischen drohen zentrifugale Kräfte die Oberhand
zu gewinnen.
Außerdem enthält das Heft Beiträge zu den Problemen der Geschlechterdemokratie
im arabischen Raum (Martina Sabra), zur Entstehung der
Stereotypen des modernen Islambildes (Dietrich Jung) und zu den Perspektiven
der Hamas-Regierung in Palästina (Alastair Crooke). Die islampolitische
Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Lale Akgün, fordert
den Abbau von Feindbildern als Voraussetzung für einen rationalen Umgang
mit muslimischen Mitbürgern. Ergänzend zum Schwerpunkt: ein
Plädoyer von Thomas Palley für einen neuen Denkansatz über den Zusammenhang
zwischen Handel, Entwicklung und Armutsreduzierung.
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