Daniel Levy / Max Pensky / John Torpey (eds.): Old Europe, New Europe, Core Europe. Transatlantic Relations After the Iraq War
 
    
   Heft 1/2006  
    
  London/New York 2005
Verso, 231 S.
  
 

Am 31. Mai 2003 veröffentlichten verschiedene große europäische Tageszeitungen simultan Artikel führender Intellektueller, die sich mit dem Verhältnis zwischen Europa und den USA nach dem Krieg im Irak beschäftigten. Initiiert wurde diese in ihrer Form bis dahin einzigartige Aktion von dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas, dessen zusammen mit Jacques Derrida verfasster Essay „Unsere Erneuerung – Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ sowohl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als auch in der französischen Zeitung Libération erschien. Hinzu kamen Veröffentlichungen von Umberto Eco (La Repubblica), Adolf Muschg (Neue Zürcher Zeitung), Gianni Vattimo (La Stampa), Fernando Savater (El País) und, als einzige amerikanische Stimme, Richard Rorty (Süddeutsche Zeitung). Vor allem die Thesen von Habermas riefen zum Teil recht kontroverse Reaktionen hervor und waren Auslöser einer monatelangen Debatte unter europäischen Intellektuellen und Politikern. Diese Diskussion wurde größtenteils in den Feuilletons deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften geführt, was den Zugang zur Debatte gerade für den anglophonen Sprachraum bislang erschwerte. Nun legen Daniel Levy (State University of New York at Stony Brook), Max Pensky (Binghamton University, State University of New York) und John Torpey (University of British Columbia) erstmals ein englischsprachiges Kompendium über den Verlauf der Auseinandersetzung und damit indirekt auch eine vorläufige Bilanz der Diskussion vor.

Das Ziel der Herausgeber ist hierbei primär das der Information und Dokumentation: „This volume aims to make available to an English-speaking audience some of the important new debates that have emerged in Europe from the divisions between ‘old Europe’ and the Anglo-American-‘new’ European alliance over the decision to invade Iraq” (S. xii). Und weiter: “This ‘documentation’ of the discussion is intended to provide readers in the Anglophone world with access to the debate, and the opportunity to follow for themselves the discussions taking place among leading European intellectuals and their American interlocutors regarding the future of European-American relations and that of unifying Europe itself” (S. xii-xiii). Entsprechend werden die verschiedenen Artikel, Essays und Papers auch ohne Bewertung und Kommentar aneinandergereiht. Lediglich die knappe, aber dennoch gute Einführung gibt einen gröberen Rahmen vor.

Zunächst würdigen die Herausgeber in der „Editors’ Introduction“ die Initiative von Habermas als kühnen und bedeutenden Schritt (eine „unprecedented intervention in European public discussion“, S. xi). Im Folgenden begründen sie ihre chronologische Vorgehensweise als angemessen und für den Leser am authentischsten nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz erstellen Levy, Pensky und Torpey in ihrer Einführung als Ergänzung zur bloßen Dokumentation der Texte ein thematisches Gerüst. Sie identifizieren hierbei vier Kernbereiche der Diskussion, die allesamt sowohl die Frage nach dem Wesen und der Identität Europas („the question of a European ‚identity’“, S. xv) als auch die Perspektiven für eine zukünftige Ausrichtung europäischer Außen- und Sicherheitspolitik reflektieren. Erstens, die militärisch-politische Dimension als Teil einer langandauernden Kontroverse über die Rolle Europas in einer transatlantischen Allianz mit und gegenüber den Vereinigten Staaten (S. xviii-xx). Zweitens, die Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit eines „Kerneuropa“ in der Tradition und im Rückgriff auf das Diskussionspapier von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble aus dem Jahr 1994, welches den auch von Habermas verwandten Terminus des „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ erstmals artikulierte (S. xx-xxii). Drittens, die mögliche (oder unmögliche) Konstruktion einer europäischen Identität in Abgrenzung zu einem zu definierenden „Constitutive Other“ (S. xxii-xxiv). Schließlich, viertens, den Aspekt der Binnenheterogenität Europas und die Frage nach „konkurrierenden Traditionen“, speziell in Bezug auf die mittel- und osteuropäischen Staaten (S. xxiv-xxviii).

Das Buch ist im weiteren Verlauf in drei große Abschnitte unterteilt. Der erste Teil, etwas martialisch „The Initial Salvos“ tituliert, dokumentiert die schon angeführten Ausgangspunkte der Diskussion in den Veröffentlichungen des 31. Mai 2003. Ein zweiter Abschnitt, „Initial Responses“, zeichnet die Feuilleton-Debatte des Frühjahrs und Sommers 2003 nach. Der dritte Teil des Bandes versammelt unter dem Titel „Further Reflections“ Beiträge, welche nicht direkt Teil der ursprünglichen Diskussion waren, darunter bislang unveröffentlichte Artikel von Ulrich Beck und Andrei S. Markovits. Alle Beiträge wurden (natürlich mit Ausnahme der Übersetzung) unverändert publiziert und nur teilweise mit erklärenden Noten zu Personen, politischen Akteuren oder wichtigen Ereignissen versehen.

Kernstück des ersten Abschnittes ist selbstverständlich der Artikel von Jürgen Habermas und Jacques Derrida („February 15, or, What Binds Europeans Together: Plea for a Common Foreign Policy, Beginning in Core Europe“, S. 3-13). Habermas (Derrida hatte den Beitrag zwar unterzeichnet, war jedoch aus persönlichen Gründen nicht an der Verfassung beteiligt) entwickelt hier aus dem Antagonismus zweier Daten die Idee von der Geburt einer europäischen Öffentlichkeit. Er stellt dem am 31. Januar 2003 veröffentlichten sogenannten „Brief der Acht“, eine Loyalitätsbekundung europäischer Staats- und Regierungschefs zu den USA und ihrer Außenpolitik, die Massendemonstrationen gegen einen Krieg im Irak vom 15. Februar 2003 als direkte Reaktion entgegen. Hier offenbarte sich laut Habermas zum ersten Mal eine Art staatsbürgerliches Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Bürger und damit eine auf die politische Ebene transferierte Form gemeinsamer europäischer Identität. Es ist dieser gemeinsame Wille, welcher das Ziel einer transatlantischen Balance aufzeigt. Derselbe Wille zeichnet als europäische Identität den Weg für die „Vision“ eines zukünftigen Europa durch den Diskurs einer zwar vielstimmigen, aber dennoch verbundenen europäischen Öffentlichkeit. Die Frage nach der Existenz einer gemeinsamen europäischen Identität ist somit untrennbar mit der Zukunft Europas – nicht nur als außenpolitischer Akteur – verknüpft. In seinem Buch „Der gespaltene Westen“ (2004) fasst Habermas die identitätsstiftenden Merkmale Europas nochmals klar zusammen: Säkularisierung, soziale Gerechtigkeit (Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung), Technikskepsis und Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren sowie, schließlich, Friedensorientierung durch historische Verlusterfahrung.

Eine derartige europäische Identität konstruiert Habermas in strenger Abgrenzung zur amerikanischen Gesellschaftsordnung und zum amerikanischen Sozialbewusstsein, welchem die genuin europäischen Erfahrungen fehlen. Aufbauend auf dieser, einzigartigen und eigenen, Identität kann und muss Europa sich nunmehr einigen und seine bürgerlich-gesellschaftliche Kohäsion in (außen)politische Wirkmächtigkeit umsetzen. Träger dieser Entwicklung ist für Habermas zunächst das schon erwähnte „Kerneuropa“, eine Avantgarde, bestehend aus Frankreich, Deutschland, den Benelux-Staaten und (eventuell) Italien. Dieses „Kerneuropa“ fungiert als „Lokomotive“ und weist den Weg in einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, dem sich die übrigen, vor allem mittel- und osteuropäischen Länder, mittel- und langfristig gleichsam naturgemäß anpassen.

In eine ähnliche Richtung argumentiert Adolf Muschg („Core-Europe: Thoughts About the European Identity“, S. 21-27), der Europa als Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft auf Basis der deutsch-französischen Aussöhnung sieht. Das gemeinsame europäische Gedächtnis verpflichtet Europa zur Abkehr von den „fatalen Gewohnheiten“ der Gewalt und mahnt es zugleich, sich als politisch handlungsfähiger Akteur zu konstituieren. Auch Fernando Savater („Europe, both Needed and in Need“, S. 41-43) zitiert die Lehren der Vergangenheit als Leitbild für die europäische Zukunft als „zivilisierende“ Macht in der internationalen Politik. Gianni Vattimo („The European Union Faces the Major Points of Its Development“, S. 28-33) betont die Gegensätzlichkeit von Europa und den USA. Er attestiert den Europäern im Vergleich zu den Amerikanern eine andere (und, unausgesprochen, bessere) Idee und Vision eines „guten Lebens“, einen grundlegend anderen „existentiellen Plan“.

Umberto Eco hingegen sind derartige Ressentiments fern. Eco argumentiert vorwiegend auf europäischer Ebene und sieht eine Weiterführung des Projekts „Europa“ als zwingend notwendig, um nicht in völliger Bedeutungslosigkeit zwischen Amerika und Asien zu verschwinden und zu einem „Guatemala“ der internationalen Politik zu werden. Der Amerikaner Richard Rorty schließlich ruft Europa zur Einigkeit und Solidarität auf. Zum einen, um Europas zukünftige Position im internationalen System nicht durch eine amerikanische „Demütigung“ weiter zu schwächen und jeglichen Anspruch auf eine Rolle als „Gegenmacht“ unwiederbringlich zu verlieren. Zum anderen, um durch eine geschlossene Stimme einen signifikanten Gegenentwurf zur Außenpolitik des Amerika unter George W. Bush zu artikulieren, um damit gleichsam Rortys Landsleute aufzuwecken und so Europa, Amerika und die Welt zu retten.

Der zweite Teil des Buches, „Initial Responses“, stellt Reaktionen auf die Initiative von Habermas und seinen Mitstreitern zusammen. Hierbei waren die Herausgeber natürlich gezwungen, sehr selektiv vorzugehen und im Zweifelsfall Mut zur Lücke zu beweisen. So fehlen zwar einige Beiträge gerade aus der deutschen Medienlandschaft, wie zum Beispiel die lesenswerten Artikel Gunter Hofmanns aus der „Zeit“, doch dieser Mangel wird durch die Einbeziehung anderer, oft wenig beachteter Stimmen mehr als ausgeglichen. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Diskussionsbeiträge einiger mittel- und osteuropäischer Autoren. Der Ungar Péter Esterházy („How Big is the European Dwarf?”, S. 74-79) würde dieser geographischen Einordnung wohl sofort widersprechen und sich statt dessen humorvoll-sarkastisch als „Nicht-Kerneuropäer“ titulieren. Ebenso wie Adam Krzeminski („First Kant, Now Habermas: A Polish Perspective on ‚Core Europe’“, S. 146-152) steht er Habermas’ Konzept des „Kerneuropa“ sehr skeptisch gegenüber. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk („Wild, Cunning, Exotic: The East Will Completely Shake Up Europe“, S. 103-106) vergleicht gar die Ankunft der neuen EU-Mitgliedstaaten, für manchen Westeuropäer wohl nur bedingt ironisch, mit der Invasion wilder Barbarenhorden und sieht Europa erst am Beginn eines völlig neuen Selbstfindungsprozesses.

Mit Aldo Keel („The View from Up Top: Core Europe from the Scandinavian Perspective“, S. 80-83) findet auch ein Vertreter der euro-skeptischen skandinavischen Sichtweise Eingang in das Buch. Es fehlen ebenso nicht Gianni Riottas kritische Anmerkungen zur ersten Initiative („Europeans, Americans, and the Exception of France“, S. 64-66) und Vattimos direkte Antwort darauf („The European Union and the United States: The Values We Defend – A Response to Riotta“, S. 72-73). Überhaupt ist es den Herausgebern gelungen, ein breites Spektrum an verschiedenen Meinungen und Standpunkten abzubilden. Karl Otto Hondrichs Essay über die „ordnende Gewalt“ Amerika („The Organizing Power“, S. 84-90), in dem er das weltweite hegemoniale System verteidigt, steht neben Matthias Greffraths Aufruf an Habermas, er hätte besser demonstrativ bei Attac eintreten sollen („Europe Has to Europeanize Itself: The Pothole“, S. 137-140). Kritisch anzumerken ist lediglich die stellenweise ungenaue Übersetzung. Darüber hinaus fehlt bei dem Beitrag von Gerd Langguth („Who Came Up With the Idea of a ‚Core Europe’?“, S. 160-164) die komplette zweite Hälfte seines ursprünglich in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Artikels „Wem gehört die Idee eines ‚Kerneuropa’?“. Insgesamt aber ist den Herausgebern im zweiten Teil des Buches eine gelungene Mischung aus unterschiedlichsten Diskursbeiträgen namhafter Autoren (u.a. auch Dieter Grimm, Timothy Garton Ash und Ralf Dahrendorf) geglückt.

Der dritte Abschnitt, „Further Reflections“, versammelt vier nicht direkt zur Debatte gehörige Artikel. Die vergleichsweise etwas längeren Beiträge von Ulrich K. Preuss („The Iraq War: Critical Reflections from ‚Old Europe’“, S. 167-185) und Ulrich Beck („Power and Weakness in a World Risk Society“, S. 186-197) bestechen hierbei durch kritische Distanz und intellektuelle Schärfe. Besonders hervorzuheben ist der Aufsatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Andrei S. Markovits („Anti-Americanism in Europe: From Elite Disdain to Political Force“, S. 198-207). Markovits analysiert hier die Initiative Habermas’ im Lichte einer langjährigen Tradition von Amerikaskepsis und Antiamerikanismus innerhalb der (kontinental)europäischen intellektuellen Elite und konstatiert die besorgniserregende Entwicklung eines nunmehr kontinuierlichen politischen Paradigmas einer unhinterfragten europäischen Opposition zu den USA.

Ein Artikel der leider viel zu früh verstorbenen Susan Sontag ist immer ein Gewinn für ein Herausgeberwerk. So bringt auch der Abdruck ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2003 in Frankfurt („Literature is Freedom“, S. 208-222) eine weitere interessante Perspektive in die Debatte ein und beschließt gleichzeitig den letzten Teil des Bandes.

„Old Europe, New Europe, Core Europe“ ist eine überaus gelungene Zusammenstellung verschiedenster Beiträge zu einer Debatte, die Europa auch und gerade nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden noch auf Jahre hinaus beschäftigen muss und wird. Die Frage nach einer europäischen Identität und nach der zukünftigen politischen Ausrichtung eines vereinten Europas ist von größter Bedeutung und Wichtigkeit nicht nur für die Zukunft unseres Kontinents. Die besondere Leistung von Levy, Pensky und Torpey besteht darin, nunmehr auch eine breite anglophone und natürlich vor allem amerikanische Öffentlichkeit an dieser Diskussion teilhaben zu lassen. Sie handeln damit ganz im Sinne der unbestreitbaren „urgency of the issue of European-American understandings of each other“ (S. xxviii).

Pierre Gottschlich
Universität Rostock

     
      
 
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