Jagdish Bhagwati: In Defense of Globalization

Paul A. Samuelson: "Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Arguments of Mainstream Economists Supporting Globalization"

Ricardo Hausmann/Lant Pritchett/Dani Rodrik:
Growth Accelerations



 
  Heft 1/2006  
  
 

Die Angst vor der Globalisierung geht um. Nicht nur in Deutschland, dem Exportweltmeister, gibt es bekennende Globalisierungsgegner, sondern (fast) überall auf der Welt. Bei ihren jährlichen Treffen, der Gegenveranstaltung zu dem World Economic Forum der Reichen und Mächtigen, klagen sie unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" die Globalisierung an, verantwortlich für (fast) alle Übel dieser Welt zu sein, für Lohndumping und Arbeitslosigkeit in den Industrieländern, für Kinderarbeit, zunehmende Verelendung und Raubbau an der Natur in den Entwicklungsländern.

Mit der Kritik an der wirtschaftlichen Globalisierung setzt sich der international renommierte Wirtschaftswissenschaftler Jagdish Bhagwati in seinem Buch "In Defense of Globalization" dezidiert auseinander. "Does the world need yet another book on globalization?" Die Antwort auf diese rhetorische Frage, mit der Bhagwati sein Buch beginnt, liegt für ihn, der durch zahlreiche Bücher und Artikel als vehementer Verfechter von globalem Freihandel und Liberalisierung der Märkte bekannt geworden ist, auf der Hand: Ja, es müssen die Fakten benannt werden, damit die Globalisierungsgegner begreifen, dass Globalisierung nicht das Problem ist, sondern die Lösung vieler Probleme.

Nicht die „hard-core“ Anti-Globalisierer, die Bhagwati kaum für dialogfähig hält, will er von den positiven Aspekte der ökonomischen Globalisierung überzeugen, sondern er wendet sich mit seinem Buch an Globalisierungskritiker, die vernünftigen Argumenten zugänglich seien. Globalisierungsressentiments sind für Bhagwati ohnehin typisch vor allem für die Gesellschaften der reichen Industrieländer des Nordens, die sich den Luxus von gegen die Globalisierung gerichteten Straßentheatern und Campusprotesten leisten können, während die Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit der armen Länder des Südens die Globalisierung als einen positiven Prozess betrachten würden (S. 8).

Anti-Kapitalismus, Anti-Globalisierung und die Verdammung multinationaler Konzerne - diese "trilogy of discontents" (vermutlich eine ironische Anspielung auf den Bestseller "Globalization and its Discontens" des "abtrünnigen" Nobelpreisträgers und ehemaligen Chefökonomen der Weltbank, Joseph Stiglitz) ist für Bhagwati die Quelle der militanten Globalisierungsgegner. Die kritische Einstellung gegenüber der Globalisierung speise sich aber auch noch aus anderen ideologischen und intellektuellen Quellen, wie beispielsweise aus der kruden Xenophobie eines Pat Buchanan, dem Kommunitarismus oder dem Anti-Amerikanismus. Die Anti-Globalisierungsbewegung werde von sehr unterschiedlichen Ideen und Leidenschaften animiert, umso notwendiger sei es, sich mit ihren Protesten und ihrer Kritik konstruktiv auseinander zu setzen, zumindest mit denjenigen, die leise diskutieren, aber falsch informiert seien.

"Globalisierung ist gut, aber nicht gut genug!" Mit dieser Kapitelüberschrift (S. 32) macht Bhagwati seine Argumentationslinie deutlich, der er in der Auseinandersetzung mit den Hauptkritikpunkten der Globalisierungsgegner konsequent folgt. Erhöht Globalisierung die Armut in der Welt? Führt Globalisierung zu mehr Kinderarbeit? Werden Frauen durch die Globalisierung benachteiligt oder begünstigt? Bedeutet Globalisierung eine Gefahr für die Demokratie? Bringt die kulturelle Globalisierung eine Verarmung oder eine Bereicherung mit sich? Stehen Löhne und Arbeitsschutzstandards durch die Globalisierung auf dem Spiel? Sind die transnationalen Konzerne Übeltäter? Und was wird aus der Umwelt? Auf jede dieser Fragen bietet Bhagwati Antworten an, die er wirtschaftstheoretisch und empirisch zu belegen versucht - und wer ihm dabei zu folgen bereit ist, wird begreifen, dass die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung und in den Prozess der Globalisierung für Entwicklungsländer die Chance bietet, wohlhabender zu werden und Probleme wie Kinderarbeit und Armut allmählich zu überwinden. Nicht durch die Öffnung der Märkte würden für die armen Länder besondere Probleme entstehen, sondern dadurch, dass sie dem Druck von Lobbygruppen aus den reichen Ländern nachgeben und Zugeständnisse machten, die mit Freihandel nichts zu tun hätten, wie etwa in den Bereichen intellektuelle Eigentumsrechte und Arbeitsstandards (S. 262). Angesichts der analytischen Befunde lässt sich für Bhagwati die Überzeugung nicht aufrechterhalten, der Globalisierung fehle ein menschliches Gesicht; diese Überzeugung sei ein Fehlalarm, zumal sie implizit doch auch die Möglichkeit einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz einschließe.

Offenkundig ist Bhagwatis Welt jene schöne Welt, die jeder Studierende der Wirtschaftswissenschaften schon in den ersten Semestern kennen lernt, die Modellwelt der Ökonomen, in der Freihandel eine für alle Seiten vorteilhafte internationale Arbeitsteilung fördert, zu Produktivitätssteigerungen führt und rund um den Globus einen höheren Lebensstandard ermöglicht. Er wiederholt die Mantras der mainstream Ökonomik, angereichert um empirische Belege für seine positive Beurteilung des Globalisierungsprozesses, die sich aber bei genauerer Kenntnis der tatsächlichen Hintergründe als Bruchstücke selektiver Wahrnehmung von Empirie erweisen. Substanziell neue Erkenntnisse zu der Globalisierungsdebatte hat Bhagwati mit seinem Buch kaum beigetragen.

Tatsächlich läuft ja der Prozess der Globalisierung nicht ganz so ab, wie das in den Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaft idealtypisch beschrieben wird. Liberalisierung der Märkte und Integration in die internationale Arbeitsteilung mögen langfristig den allgemeinen Wohlstand erhöhen, kurz- bis mittelfristig gibt es dabei aber nicht nur Gewinner, sondern auch viele Verlierer. Kein geringerer als der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson hat in seinem Artikel "Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Arguments of Mainstream Economists Supporting Globalization" deutlich gemacht, dass die zusätzlichen Gewinne aus dem Übergang zu Freihandel keineswegs immer und überall groß genug sein werden, um die Verlierer entschädigen zu können. Ausgehend von einem relativ einfachen formalen Modell, das auf der klassischen ricardianischen Außenhandelstheorie der komparativen Vorteile aufbaut, zeigt Samuelson, dass der freihandelsinduzierte Produktivitätsanstieg in einem Land unter bestimmten Bedingungen ausschließlich diesem Land zugute kommt, während das andere am Freihandel beteiligte Land Einbußen erleidet, obwohl aus diesem Land die arbeitssparende technologische Innovation stammt, die zu dem Produktivitätsanstieg geführt hat. Damit wird aber das Freihandelsdogma der (neo-)klassischen Außenhandelstheorie in Frage gestellt. Denn mit Samuelsons Modell ließe sich durchaus argumentieren, dass es für die USA oder für andere Industrieländer nachteilig sein könne, wenn sich die Volkswirtschaften Indiens oder Chinas durch Freihandel rasch entwickeln und die dortige Adaption des technischen Fortschritts zu sinkenden Reallöhnen der Arbeitnehmer in den Industrieländern führt.

Die politische Brisanz des Beitrags von Samuelson spiegelt sich in dem Echo wider, dass er in der Fachwelt und in den Medien ausgelöst hat. Auch Jagdish Bhagwati hat sich veranlasst gesehen, in einem Leserbrief an die Financial Times Deutschland (vom 21.12.2004) zu dem Samuelson-Beitrag Stellung zu nehmen. Als bekennender Befürworter des freien Handels will Bhagwati den Kollegen Samuelson nicht von den gegnerischen Protektionisten und Globalisierungsgegnern vereinnahmen lassen, denen er unterstellt, schon die Champagnerkorken knallen zu lassen, weil sie dächten, einen Giganten zum Verbündeten gewonnen zu haben. Für Bhagwati ist das von Samuelson modellierte Szenario von keiner größeren politischen Relevanz; zudem sei zu berücksichtigen, dass eine mögliche Verringerung des Freihandelsgewinns für ein Land den noch größeren Einbußen gegenüber gestellt werden müsse, die durch Protektionismus entstünden. Bhagwati plädiert dafür, die Debatte "Freihandel versus Protektionismus" nicht noch einmal über die Theorie zu führen, sondern über die empirische Analyse.

Diesem Plädoyer werden sich Befürworter eines Abschieds von dem autistischen Modellplatonismus des wirtschaftswissenschaftlichen mainstream durchaus anschließen können. Allerdings darf man die Wirklichkeit nicht nur selektiv wahrnehmen, wenn man die Effekte des Übergangs zu Freihandel aus der empirischen Erfahrung ableiten will. Man muss beispielsweise auch zur Kenntnis nehmen, dass das Auslaufen des protektionistischen Multi-Faser-Abkommens zum Ende des Jahres 2004 in Bangladesh zu einem Wegfall von mehreren zehntausend Arbeitsplätzen führen wird, für die kein Ersatz in Aussicht ist. Und in der empirischen Analyse wäre exemplarisch zu berücksichtigen, dass sich im Falle Mexikos zehn Jahre nach dem Beitritt zu dem Nordamerikanischen Freihandelsbündnis NAFTA keineswegs der Effekt vertikaler Lohnnivellierung eingestellt hat, der nach dem Heckscher-Ohlin-Samuelson-Modell zu erwarten wäre. Zwar ist es zu einer Verlagerung von Produktionsprozessen niedriger technologischer Komplexität aus den USA in das Niedriglohnland Mexiko gekommen, und theoretisch hätte dort die steigende Nachfrage nach nicht oder geringqualifizierter Arbeit zu einem Lohnanstieg führen müssen, bei gleichzeitig sinkendem Lohnniveau für höher qualifizierte Arbeit in Folge rückläufiger Nachfrage, da freihandelsbedingt die damit zuvor in Mexiko produzierten Güter verstärkt aus den USA importiert werden. Für Mexiko lässt sich diese Entwicklung bislang jedoch nicht bestätigen: Die Lohnspreizung hat sich eher noch verstärkt und das Land weist nach wie vor eine der ungleichsten Einkommensverteilungen in Lateinamerika auf. Auch der Fall Deutschland wäre für die empirische Analyse des Globalisierungsprozesses von Bedeutung, denn hier ist der Abbau industrieller Arbeitsplätze durch Outsourcing in ausländische Produktionsstätten keineswegs durch neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor kompensiert worden.

Die wirtschaftliche Realität ist offensichtlich doch komplizierter als die schöne Welt der Wirtschaftstheorie, in der Allokationseffizienz und Verteilungsgerechtigkeit analytisch sauber getrennt werden, obwohl sie nicht zu trennen sind. Und in der realen Wirtschaftswelt geht es keineswegs immer um first-best-Optionen, suboptimale institutionelle Arrangements können in einer Gesellschaft dauerhaft Bestand haben, wenn sie bestimmten Interessengruppen nutzen. Zudem deutet die empirische Evidenz darauf hin, dass gesamtwirtschaftliche Entwicklungsprozesse pfadabhängig sind, und von dem einmal eingeschlagenen Pfad kann mit einer Reform hier und einem Reförmchen dort nicht ohne weiteres abgewichen werden.

Wirtschaftswunder lassen sich nicht herbei zaubern, auch nicht mit buchstabengetreuer Befolgung vermeintlich sicherer neoliberaler oder neokeynesianischer Erfolgsrezepte. Wie die Harvard-Ökonomen Ricardo Hausmann, Lant Pritchett und Dani Rodrik heraus gefunden haben, erklären die aus der herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehrmeinung bekannten Erfolgsdeterminanten nur einen relativ kleinen Teil der Fälle, in denen während der zurückliegenden Dekaden ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum über mehre Jahre hinweg anhielt. Unter der Überschrift "Growth Accelerations" haben die Autoren für mehr als 100 Länder untersucht, unter welchen Bedingungen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum anhaltend beschleunigte. Immerhin konnten sie 83 Fälle einer dynamischen Wachstumsperiode von mindestens acht Jahren identifizieren (am häufigsten in Asien), und 125 Fälle, in denen fünf Jahre lang beschleunigtes Wirtschaftswachstum anhielt. Welche Faktoren mit dem "Wachstumswunder" korreliert waren, wurde mit Hilfe ökonometrischer Tests untersucht; tendenziell führten Ausweitung des Außenhandels, höhere Investitionen, Liberalisierung der Finanzmärkte, Abwertungen der eigenen Währung sowie politische Regimewechsel zu einer Dynamisierung des Wirtschaftswachstums. Allerdings erwies sich der Zusammenhang nur als relativ schwach ausgeprägt, und insbesondere marktwirtschaftliche Reformen blieben in den meisten Fällen ohne nachweisbare Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum. Nur in 16 Prozent der Fälle ging den anhaltenden Wachstumsperioden eine wirtschaftliche Liberalisierung voraus oder hat diese begleitet. Mit anderen Worten: "Wachstumswunder" haben auch ohne strikte Befolgung der gängigen ökonomischen Heilslehren stattgefunden.

Die Autoren von "Growth Accelerations" raten der Ökonomenzunft daher zu Bescheidenheit: Wachstumsschübe werden vermutlich hauptsächlich durch viele kleine Änderungen ausgelöst, aber welche das genau sind, in welcher Kombination, in welcher Intensität und unter welchen Rahmenbedingungen, das wissen auch die Ökonomen nicht so genau. Statistisch gäbe es solche Wachstumsschübe häufiger, als es in der heutigen pessimistischen Politikdiskussion wahrgenommen werde. Von den 110 untersuchten Länder hatten in der Periode 1957-1992 immerhin 55 Prozent mindestens ein "Wachstumswunder" - und zwar meistens ohne größere Veränderungen in der Wirtschaftspolitik, in den institutionellen Arrangements oder den politischen Rahmenbedingungen. Vielleicht sollten wir uns also die aufgeregte wirtschaftspolitische Reformdiskussion in Deutschland ersparen und einfach auf das nächste Wirtschaftswunder warten. Zumindest aber sollten die Ökonomen ihren ehrgeizigen Anspruch relativieren, als proskriptive Leitdisziplin den Gesellschaftswissenschaften den Weg in eine bessere Zukunft weisen zu können.

Hartmut Sangmeister
Universität Heidelberg

     
      
 
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