Zu diesem Heft — Heft 1/2006
 
    
  

Die Erweiterungseuphorie ist verflogen, und das Projekt einer europäischen Verfassung hat einen schweren Rückschlag erlitten. Derzeit bestimmen Brüche und Rivalitäten das Innenleben der Europäischen Union. Der Integrations­prozess, der unaufhaltsam zu einer immer größeren Einigkeit in einer „ever closer union“ voranzuschreiten schien, ist aus dem Gleis gelaufen. Und dies just, wo es nach der gelungenen Osterweiterung darum ginge, Gemeinsamkeiten zu stärken, Verflechtungen zu intensivieren und mehr Interdependenzen zuzulassen.

Dass Europa gegenwärtig negativ besetzt ist und mit der Europäischen Union vor allem Widersprüche und Probleme assoziiert werden, verweist auf ein Paradox. Denn zum einen war der europäische Einigungsprozess bislang sensationell erfolgreich: in nur 50 Jahren transformierte er eine von kriegerischen Konflikten geprägte Region in eine stabile Friedenszone; das europäische Sozialprodukt, das anfangs nur halb so groß war, wie das der USA, ist heute ebenso groß; und mit der Inkorporation der ehemals autoritären Mittelmeerstaaten und später der ex-kommunistischen Transformationsländer leistete die Union einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung der Region. Diese Erfolge werden außerhalb Europas durchaus wahrgenommen. So erschienen in den letzten Jahren, u.a. in den USA eine Reihe von Büchern, die das „Europäische Modell“ hochloben und die These vertreten, das 21. werde ein „europäisches Jahrhundert“ sein.

Zum anderen scheint all dies das politische Publikum in den Mitgliedsländern der Union weitgehend kalt zu lassen. Insbesondere die Bürger der EU-15 – Staaten schwanken zwischen Indifferenz und Ablehnung, und dies, obwohl es an attraktiven zukunftsorientierten Projekten nicht mangelt. Die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, auf die die Lissabon-Strategie abzielt, und die Ausweitung des Einflusses in der Welt durch Weiterentwicklung der zwischenstaatlichen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik zu einer einheitlichen Außenpolitik sind zwei der wichtigsten. Würde die Union die gesetzten Ziele erreichen, würde sie just in jenen politischen Kernbereichen Wirksamkeit demonstrieren, in denen sich die Nationalstaaten zusehends schwerer tun, nämlich bei der Gewährleistung von Wohlfahrt und Sicherheit für die Bürger. In der Wahrnehmung der Betroffenen und in der politischen Diskussion in vielen Einzelstaaten erscheinen allerdings die Leitvorstellungen der Union insgesamt als wenig attraktiv: Als Friedensprojekt hat die EU nur geringe Zugkraft, denn Frieden gilt insbesondere den Jüngeren als selbstverständlich. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein zentrales Projekt der letzten Jahre, hat viel zu unklare Konturen, und der Lissabon-Prozess ist zu kompliziert und zu sehr auf die Bürokratie beschränkt, um sich als Stoff für eine Vision zu eignen. In den EU-15 –Staaten ziehen auch Wohlstandsversprechen nicht, denn Wohlstand ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger das Ergebnis der Wachstums- und Sozialpolitik der Nationalstaaten seit den 60er Jahren, und vielen gilt Europa als Bedrohung dieser Errungenschaften.

Die zentrale Frage lautet deshalb: Wie kann die europäische Integration in den Gesellschaften der Mitgliedsländer verankert, wie kann Europa stärker gesellschaftlich fundiert werden? Wenn die europäische Idee wieder mehrheitsfähig werden soll, ist es notwendig, die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und nachzuweisen, dass die europäische Politik zu Erfolgen fähig ist, betont die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Angelica Schwall-Düren. Dafür setzt sich auch der britische Europaminister Douglas Alexander ein, der dies allerdings weniger durch den Schutz der Menschen vor globalisierungsbedingten Ungerechtigkeiten erreichen möchte, als durch eine Kombination von wachstumsfördernden Liberalisierungsmaßnahmen und Reformen der Sozialsysteme. Dabei gelte es nicht zuletzt das zu verallgemeinern, was bei den einzelnen Varianten des Wohlfahrtsstaats gut funktioniere. Der Artikel von Bruno Palier, Mitarbeiter des Pariser Forschungszentrum CEVIPOF, bietet diesbezüglich konkrete Fingerzeige. Er unterteilt die konkreten Ausformungen des europäischen Sozialmodells in Typen und setzt sich mit den unterschiedlichen Reformerfahrungen auseinander.

René Cuperus von der Wiardi Beckman Stichting, T hink Tank der holländischen Partei der Arbeit, warnt indessen vor einem unfruchtbaren Modellstreit zwischen Liberalisierern und Verteidigern des zentraleuropäischen Sozialmodells. Vielmehr gelte es eine Reihe von Entwicklungen in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Dazu gehöre unter anderem, mit den Ängsten umzugehen, die durch die weitere Expansion Europas geschürt werden, den Druck zu verarbeiten, der auf dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft wegen der massiven Immigration laste und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Diskussion über die Reform oder den Abbau des Sozialstaats Identitätsfragen berühre. Die Identifikation mit dem europäischen Sozialmodell sei für die Bevölkerung einer Reihe von Ländern nach wie vor ein zentraler Aspekt des Selbstverständnisses.

Überzeugende politische Konzepte zum Umgang mit dieser Situation existierten, so Cuperus, bislang nicht. Deshalb gebe es ein wachsendes „Unbehagen“ in der Bevölkerung und immer mehr Misstrauen gegenüber den Eliten, und zwar gleichermaßen in reformfreudigen wie in Reformstau-Ländern. Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Politik sei aber letztlich nur durch die Stärkung des Nationalstaats, nicht aber durch die Vollendung eines Bundesstaats oder gar die Schaffung eines großeuropäischen Superstaats möglich. Auch Ulrich Beck hat kürzlich auf diesen Aspekt abgehoben: nationalstaatlich verfasste Vielfalt und offene Kooperation nach innen und außen seien die Grundlage und der zentrale Politikmechanismus einer anzustrebenden „kosmopolitischen Integration“.

In einem engen Zusammenhang mit der Frage der Europäischen Identität steht in der Abteilung „Debatte“ des Heftes eine Kontroverse über die Rolle, die die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU in der Staatenwelt spielen soll. Die Friedensforscherin Giovanna Bono kritisiert, dass sich hinter der Fassade eines Europa, das die „Zivilisierung“ der internationalen Beziehungen propagiere, die „Versicherheitlichung“ der Außenpolitik und ihre Unterordnung unter die Interessen der USA verberge. Der Trierer Politikwissenschaftler Hanns W. Maull, der das Konzept von Europa als Zivilmacht in die Diskussion eingebracht hat, hält dagegen, dass eine Zivilmacht die Geltung zentraler Prinzipien in bestimmten Fällen mit Hilfe militärischer Intervention durchsetzen müsse, z.B. wenn es darum geht, systematische Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. In der EU verhinderten Kontrollmechanismen und Gegengewichte, das dies einseitig, willkürlich oder heimlich geschehe.

Außerdem enthält das Heft Beiträge zur EU-Ausweitung aus ungarischer Sicht, zur Beschäftigungspolitik, sowie zum europäischen Öffentlichkeitsdefizit. In Ergänzung des Schwerpunkts präsentiert Winfried Veit eine Bilanz der Außenpolitik der rot-grünen Koalition und Sabine Fischer analysiert die Integrationsprozesse im post-sowjetischen Raum.

 

     
 
     
 
 
     
© Friedrich Ebert Stiftung  net edition: Gerda Axer-Dämmer | 1/2006  < Top