| Gisela Müller-Brandeck Bocquet: Frankreichs Europapolitik | |||||||||||||||||||
| Heft 3/2005 | |||||||||||||||||||
| Wiesbaden 2004 Verlag für Sozialwissenschaften, 295 S. |
|||||||||||||||||||
|
Frankreichs Beitrag zur europäischen Integration ist bekanntlich ebenso gewichtig wie ambivalent. Eine Europäische Union ohne das politische, ökonomische und in Zukunft verstärkt auch militärische Gewicht der Fünften französischen Republik, ebenso aber auch ohne den kulturellen und historischen Beitrag des Landes, scheint zwar kaum vorstellbar. Dennoch wird bisher mit Blick auf ein halbes Jahrhundert europäischer Geschichte oft konstatiert: „Der Beitrag Frankreichs zum Aufbau Europas ist widersprüchlich.“[1]
Erst vor wenigen Wochen hat sich Frankreichs Europapolitik zum ersten Mal seit dem Referendum über den Maastrichter Vertrag 1992 wieder dem öffentlichen Urteil stellen müssen – Frankreichs Wähler waren dazu aufgerufen, über den „Vertrag über eine Verfassung von Europa“ abzustimmen. Es kommt also sehr gelegen, dass die Würzburger Politikwissenschaftlerin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, von der bereits zahlreiche Arbeiten zu Frankreichs Stellung in der EU vorliegen, nun einen Band vorlegt, der sich eine „konzentrierte Analyse von über 50 Jahren französischer Europapolitik“ (S. 11) zur Aufgabe macht. Die Darstellung spannt dementsprechend einen Bogen von der französischen Forderung nach „Sicherheit vor Deutschland“ als Motiv einer europäischen Neugestaltung nach 1945 (S. 13) bis zum „deutsch-französischen Gleichklang“ (S. 259) in der Ablehnung des amerikanischen Vorgehens gegen den Irak 2003. Insgesamt wird die Entwicklung bis in den Herbst 2004 verfolgt, wobei der Schwerpunkt ganz deutlich auf den letzten zehn Jahren liegt: Der französischen Europapolitik unter Jacques Chirac (ab 1995) widmet die Autorin ganze 50 Prozent des Umfangs ihrer Darstellung, der Rest fällt zu gut 40 Prozent an die Politik François Mitterands (1981-1995), während den Präsidenten de Gaulle, Pompidou und Giscard d’Estaing weniger als 10 Prozent der gesamten Betrachtung gewidmet ist. Dies bringt Vor- und Nachteile mit sich: Hilfreich ist der Band in jedem Fall, wenn es um eine Zusammenfassung der neueren Ereignisse und eine Bündelung der französischen Positionen geht. Eine tiefergehende Analyse von langfristigen Kontinuitäten der französischen Politik und deren Ursprüngen ist damit aber nicht verbunden. So ist zum Beispiel immer wieder von der „gaullistischen Europapolitik“ Chiracs (bspw. S. 170) die Rede, jedoch ohne, dass eine definitorische Klärung von „Gaullismus“ und „Neogaullismus“ im europapolitischen Kontext vorgenommen würde. Hier würde man sich zumindest einen kurzen Vergleich der Positionen von de Gaulle und Chirac wünschen, oder etwa einen Blick auf die Veränderungen der europapolitischen Rhetorik der französischen Präsidenten, was für de Gaulle mit Hilfe des berühmten Europa-Kapitels seiner Memoiren[2] leicht zu leisten gewesen wäre. Auch für die schwerpunktmäßig behandelten Präsidentschaften Mitterands und Chiracs bleibt die Darstellung auf einer streng ereignisorientierten, narrativen Ebene. Damit gelingen der Autorin zweifelsohne gute Darlegungen der Maastricht-Ära (S. 87ff.), der Probleme der 1997-2002 folgenden Phase der Kohabitation (S. 186ff.) oder der Konsequenzen der letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2002 (S. 230ff.). Auch bezüglich der jüngsten „Relance des deutsch-französischen Motors“ (S. 243ff.) angesichts der Irakkrise werden die Ereignisse zusammengeführt und die Fakten „griffbereit“ dargestellt. Allerdings gelingt es einer solchen, rein chronologisch vorgehenden Darstellung kaum, eine systematische Ordnung des Themas, etwa nach politischen Akteuren oder nach Politikfeldern vorzunehmen oder die administrative und organisatorische Ebene der französischen Europapolitik in den Blick zu nehmen. So erfährt der Leser wenig bis nichts über die Arbeit der französischen Diplomatie in Brüssel oder über die personelle Präsenz Frankreichs in den europäischen Gemeinschaftsinstitutionen. Auch eine so einflussreiche, für die Organisation der französischen Europapolitik „typische“ und grundlegende Einrichtung wie der SGCI ( Secrétariat général du Comité interministériel pour les questions de coopération économique européenne) bleibt völlig unerwähnt. Wichtiger waren der Autorin zweifelsohne die Ausführungen zur aktuelleren europapolitischen Lage: Hier stehen vor allem die Auswirkungen der einmütigen deutsch-französischen Position in der Irakkrise auf die europäische Integration zur Debatte (S. 253ff.). Trotz des damit provozierten Zusammenbruchs der GASP, des Scheiterns des Brüsseler Gipfels Ende 2003 und den erheblichen Differenzen unter den europäischen Partnern kommt Müller-Brandeck-Bocquet zu einer letztlich positiven Bewertung. Die Krise habe Deutschland und Frankreich „wieder in ihre angestammte Motorenrolle hineinkatapultiert“ und Impulse sowohl für das Verfassungsprojekt, als auch für die sicherheits- und verteidigungspolitische Stärkung der EU gegeben (S. 264). Dass die deutsch-französische Kooperation derzeit leider insbesondere dort gut zu funktionieren scheint, wo es darum geht, europäisches Regelwerk wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu demontieren, bleibt in diesem Zusammenhang allerdings unerwähnt. Die Autorin schließt ihre Darstellung berechtigterweise mit dem derzeit wohl brennendsten Thema der europäischen Agenda, dem Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrages und den sich daraus ergebenden Zukunftsszenarien (S. 268ff.). Die „überwiegend positiven Einstellungen der Franzosen zu Europa“ (S. 276) lassen sie dabei von einem positiven Ergebnis des Referendums ausgehen. Für Frankreichs Zukunft in einer EU von 27, 28 oder mehr Mitgliedern sieht Müller-Brandeck-Bocquet eine „neue Führungsstruktur“ in Form eines „Triumvirats zwischen Frankreich, Deutschland und Großbritannien“ (S. 282) als wahrscheinliche Option an. Nun gut, auch Expertinnen können irren. Aber eine etwas spätere Veröffentlichung hätte dem Buch vielleicht gut getan. Denn so wäre es nicht nur möglich gewesen, die Ergebnisse des französischen Ratifizierungsprozesses zu berücksichtigen.[3] Sondern es wäre auch Zeit geblieben, Personen- und Sachregister zu erstellen und die große Zahl von Druckfehlern zu minimieren, was Benutzbarkeit und Lektüre-Eindruck des Buches für den Leser deutlich verbessert hätte. Die Darstellung Müller-Brandeck-Bocquets bietet somit zwar eine Zusammenstellung der wichtigsten Fakten, mit deren Hilfe eine Orientierung über Ereignisse und Positionen der französischen Europapolitik möglich ist. Das Versprechen einer „konzentrierte[n] Analyse von über 50 Jahren französischer Europapolitik“ (S. 11) bleibt jedoch leider uneingelöst. [1] Henri Ménudier, „Frankreich“, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Staatenwelt Europas, Bonn 2004, 131-145, hier 135. [2] Vgl. Charles de Gaulle, Mémoires, hrsg. von Marius-François Guyard (Bibliothèque de la Pléiade Bd. 465), Paris 2000, S. 1022-1054. [3] Vgl. hierzu jetzt: Andreas Maurer/ Deniz Devrim/ Amandine Crespy/ Kai-Olaf Lang/ Jan-Hendrik Lauer/ Andrea Stengel, Ratifikationsverfahren zum EU-Verfassungsvertrag (Diskussionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik), Berlin, März 2005, hier S. 10-19. Johannes Bronisch | |||||||||||||||||||
| << zurück Rezensionen/ Übersicht | |||||||||||||||||||
| |||||||||||||||||||