Zu diesem Heft — Heft 2/2005
 
    
  

Die Welthandelsorganisation WTO beging am 1.1.2005 ihren zehnten Geburtstag – ein Jahrestag, der trotz der Bedeutung der Organisation in den Medien wenig Aufmerksamkeit erregte. Deutlich weniger jedenfalls als das – ebenfalls im Januar stattfindende - fünfte Weltsozialforum in Porto Alegre, bei dem nicht zuletzt die Misserfolge der WTO und Alternativen zur herrschenden Welthandelsordnung diskutiert wurden. Die anhaltende Kritik der Globalisierungsgegner und die Angst vor erneuten Protesten wie beim Ministertreffen in Seattle 1999 sind aber kaum der entscheidende Grund dafür, dass den Mitgliedern der WTO in diesem Jahr nicht recht nach Feiern zumute ist. Denn auch innerhalb der Organisation rumort es seit langem – die steigende Mitgliederzahl (mittlerweile sind es 148) ist ein trügerischer Erfolgsmesser. Die Verhandlungen über die sogenannte „Entwicklungsrunde“, die 2001 in Doha ausgerufen wurde, stocken. Neue Koalitionen von Entwicklungs- und Schwellenländern stellen die Verhandlungsziele und -methoden der Industrieländer, allen voran der USA und der EU, in Frage. Gleichzeitig schließen immer mehr Staaten – nicht nur die Industrieländer - bilaterale und regionale Handelsabkommen ab, die die Wirksamkeit des multilateralen Regelwerks schwächen. Aber ist eine (schleichende) Abwicklung der WTO wirklich wünschenswert, insbesondere aus Sicht der Entwicklungsländer, die mittlerweile in der WTO in der Mehrheit sind? Oder ist die Organisation grundlegend zu reformieren? Über diese Fragen debattieren in dieser Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT Mike Moore, ehemaliger Generaldirektor der Welthandelsorganisation, sowie Nicola Bullard und Chanida Chanyapate , beide von der Nichtregierungsorganisation Focus on the Global South. Eine Kontroverse, die nicht nur die Konfliktpunkte der gegenwärtigen Welthandelsordnung, sondern auch generelle Ambivalenzen der Global Governance-Architektur verdeutlicht: Zum einen reflektieren Institutionen die Interessen der einflussreichsten Mitglieder der Staatengesellschaft und verfestigen somit Machtverhältnisse – zum anderen unterwerfen sie auch die reichen Industrieländer gewissen Spielregeln und sind damit potenziell ein Instrument der Machtbegrenzung.

Mike Moore hebt in seinem Debattenbeitrag die letztere Funktion der Welthandelsorganisation hervor und widerspricht der Kritik der Globalisierungsgegner, die WTO sei undemokratisch und schade den Entwicklungsländern. Vielmehr bedeute das auf Gleichheit der Mitglieder und Konsensverfahren basierende System einen Schutz für die ärmeren Staaten vor einer machtpolitischen Verzerrung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Bullard und Chanyapate argumentieren dagegen, dass die Industrieländer in der WTO ihre neoliberale Agenda vor allem über informelle Machtstrukturen immer wieder auch gegen die Interessen der ärmeren Länder durchsetzen können. Im Kern verfolge die WTO – so die Autoren – eine „anti-development“-Agenda.

Vielen BeobachterInnen zufolge sind die Tage ökonomischer Vorherrschaft der westlichen Industrieländer, insbesondere der USA und der EU, allerdings gezählt. Verschiebungen in den globalen Wirtschaftsbeziehungen und damit auch in den Machtstrukturen deuten sich an. Die aufstrebenden, wirtschaftlich erfolgreichen Staaten, für die Begriffe wie „newly industrialized countries“ und „emerging market economies“ geprägt wurden, fordern andere Politiken und eine Anpassung der Global Governance - Architektur an die neuen Machtverhältnisse. Die Allianz der G20 symbolisiert dieses neue Selbstbewusstsein, dessen Ursachen und Konsequenzen der Direktor des Institute for Global Dialogue in Johannisburg, Garth le Pere, in dieser Ausgabe analysiert. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob die „emerging powers“, gleichsam die „neue Mittelschicht“ der internationalen Beziehungen, sich auch für die Anliegen der ärmsten Länder einsetzen werden. Eine neue Weltwirtschaftsordnung ist jedenfalls derzeit nicht in Sicht.

Dennoch lassen sich auf der regionalen und nationalen Ebene wirtschaftspolitische Strategien umsetzen, die Entwicklung voranbringen – dies zeigen die Beiträge von Marcel Vaillant, Robert H. Wade, Hansjörg Herr und Jan Priewe. Der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Vaillant zeigt am Beispiel des MERCOSUR die Vorteile, die die Entwicklungsländer aus regionalen Integrationsabkommen ziehen können. Allerdings verschweigt der Beitrag auch nicht die vielen ungenutzten Chancen, etwa die einer echten gemeinsamen Handelspolitik, die die Verhandlungsposition des MERCOSUR mit den Industrieländern des Nordens stärken würde.

Die Berliner Ökonomen Herr und Priewe fordern die Entwicklungsländer auf, sich auf Makropolitik und den Aufbau eines funktionierenden nationalen Finanzsektors zu konzentrieren – Maßnahmen, die im Washington Consensus, selbst in seiner erweiterten, institutionenzentrierten Variante, vernachlässigt werden. China sei diesem Rat - und nicht dem Consensus – gefolgt, mit äußerst positiven wirtschaftlichen Resultaten.

Ein Blick nach Asien lohnt auch in der Industriepolitik, argumentiert Robert Wade. Die wirtschaftlichen Erfolge der ostasiatischen Tigerstaaten wurden nicht zuletzt durch geschickte staatliche Eingriffe – jenseits von Markt und Plan – ermöglicht. Eine wichtige Lektion auch für die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas, die - so Wade - allzu treu dem liberalen Credo folgen, ein Rückzug des Staates müsse am Anfang des wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses stehen.

Für Lateinamerika kommt diese Warnung vermutlich zu spät. Über zehn Jahre neoliberale Politik und Anpassungsmaßnahmen haben – so Dietmar Dirmoser in seiner kritischen Analyse der Befindlichkeit des Kontinents – wirtschaftliche und soziale Strukturen in einer Weise zerstört, die für die schleichende Aushöhlung der Demokratie mit verantwortlich ist. Antipolitische Haltungen und Politkverdrossenheit sind endemisch. Die linken Parteien, die von der Bevölkerung nicht mit der neoliberalen Umstrukturierung in Verbindung gebracht werden, könnten sich nun als die einzigen möglichen Retter der Demokratie erweisen. Eine schwere Bürde, denn wenn die Demokratisierungswelle hier einen Rückzug antritt, wird dies nicht nur Konsequenzen für die Menschen in Lateinamerika, sondern auch für viele junge Demokratien in anderen Regionen haben.

In Europa wird derzeit ein neuartiges demokratisches Experiment durchgeführt: Zum ersten Mal wird in Volksbefragungen über die Verfassung eines supranationalen Gemeinwesens abgestimmt – mit der realen Option, dass dieser Prozess zum Scheitern des EU-Verfassungsvertrages führt (vgl. auch den Beitrag von Andreas Maurer in der IPG 1/2005). Der Integrationsprozess steht somit an einer wichtigen Weggabelung, an dem die Mitgliedstaaten unterschiedliche Wege einschlagen und einige sich gar für eine Umkehr entscheiden könnten. Winfried Veit analysiert die aktuelle Lage der EU unter geopolitischen Gesichtspunkten, die ihn zu einer klaren Richtungsempfehlung führen: Um den neuen sicherheitspolitischen Bedrohungen und ökonomischen Herausforderungen begegnen zu können, kommt die EU – selbst mit neuer Verfassung - an einer Kerneuropa-Struktur nicht vorbei.

Die Länder des afrikanischen Kontinents spielen in geopolitischen Überlegungen heute nicht mehr die Rolle von Stellvertretern im ideologischen Kampf zwischen West und Ost, sondern gelten vor allem als Hort von neuen Bedrohungspotenzialen. Die zahlreichen schwachen oder scheiternden Staaten sind schwer kontrollierbar und entziehen sich internationalen Ordnungsversuchen, seien diese imperialer oder solidarischer Natur. Im Sudan wird derzeit der Weltöffentlichkeit mit besonderer Brutalität vor Augen geführt, wie sich komplexe Konfliktdynamiken in einem schwachen Staat entwickeln können. Manfred Öhm zeigt in seiner Analyse, dass der lang ersehnte Friedensschluss zwischen dem Norden und dem Süden des Landes wiederum zur Eskalation des Konflikts in der Darfur-Region beitrug. Zu deutlich war für die dortigen Rebellen das Signal, dass die Regierung nur mit Waffengewalt zu Verhandlungen gezwungen werden kann. Dennoch sollte, so bilanziert Öhm, die internationale Gemeinschaft nun die Umsetzung des Friedensschlusses konsequent unterstützen. Denn er ist die einzige Chance für den Sudan, der jahrzehntelangen Gewaltdynamik zu entkommen.

     
 
     
 
 
     
© Friedrich Ebert Stiftung  net edition: Gerda Axer-Dämmer | 04/2005  < Top