Daniel C. Vaughan-Whitehead: Eu Enlargement versus Social Europe? The Uncertain Future of the European Social Model
 
    
   Heft 1/2005  
    
  Cheltenham / Northampton 2003
Edward Elgar, 567 S.
  
 

Dieses mächtige Konvolut bearbeitet das Thema, inwieweit das europäische Sozialmodell durch die Erweiterung der Europäischen Union (EU) beeinflusst wird, in zwei großen Schritten. Im ersten Schritt (S. 1-318) präsentiert der Autor das europäische Sozialmodell und stellt es der Realität in den Beitrittsländern (seit 1.5.2004 Neumitglieder) gegenüber. Das zentrale Ergebnis dieses ersten Teils lautet, dass die Gesellschaften der Beitrittslände weit hinter das (west-)europäische Modell zurückfallen. Im zweiten Schritt (S. 319-531) untersucht er, ob diese Diskrepanz zum Sozialdumping führt und damit das Modell selbst gefährdet. Hier bleibt der Befund eher vage. Zwar sieht er gewisse Risiken, aber die wirkliche Gefahr geht von einer Kombination mehrerer Entwicklungen aus, nämlich der neoliberalen Politik in den neuen und alten Mitgliedstaaten mit dem Versuch ihrer Verlängerung auf EU-Ebene sowie der Globali-sierung und dem globalen liberalen Trend in der wirtschaftpolitischen Debatte und Praxis.

Der Autor definiert das europäische Sozialmodell primär als einen Komplex von Regelungen und Institutionen. Der sozioökonomische Output taucht zwar nominell auf - etwa in Form "fairer Löhne" oder sozialer Sicherheit, Inklusion und Kohäsion - aber auch darunter versteht er, soweit er es am Anfang überhaupt ausführt, etwa Mindestlohnregelungen oder nationale und EU-Initiativen. Dieser Angang ändert sich etwas bei seiner Darstellung der Verhältnisse in den Beitrittsländern, in der er eine Fülle von Fakten und Statistiken präsentiert, die belegen, dass nicht nur die Regelungen und Institutionen vom in der Alt-EU üblichen Niveau (oder "Modell") abweichen, sondern auch die sozioökonomische Realität (Arbeitslosigkeit, Armut, Lohnniveau etc.). Aber auch diese umfangreiche Darstellung über fast 300 Seiten befasst sich überwiegend mit dem Stand der Gesetzgebung und Institutionenbildung. Er beklagt dabei den Einfluss liberalen Denkens und von Beratern (z.B. Weltbank) auf die Ausgestaltung der Politik in den Transformationsländern, die mangelnde Durchsetzung der eher schwachen vorhandenen Normen (Schattenwirtschaft) und die Schwäche der zivilgesellschaftlichen Akteure (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände). Es fehlt weitgehend eine ökonomische Analyse der Transformation, die alternative Entwicklungspfade aufzeigen würde. Nur punktuell tau-chen eher unausgegorene Ideen dazu auf, etwa in der Forderung nach einer Industriepolitik, die erfolgversprechende Unternehmen und Branchen identifiziert und fördert (S. 207). Erst zum Schluss kommen einige Vorschläge zu einer alternativen Entwicklungsstrategie, wenn auch fehlplatziert im Kapitel zum Handel (S. 486-490).

Angesichts dieser regulierungslastigen Sicht der Unterschiede zwischen alten und neuen Mit-gliedstaaten darf der Leser gespannt sein, was denn dann wohl die Folgen der Erweiterung sein würden. Sie impliziert ja nun gerade die Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtsbestandes ("acquis communautaire") durch die Beitrittsländer. In der Tat beginnt der zweite große Abschnitt mit einer bezeichnenden Definition von "social dumping" als Umgehung von Rechtsnormen und die Ausnutzung regulativer Unterschiede (S. 325). Die dann folgende Analyse folgt zwar einer klaren ökonomischen Logik, nämlich der Untersuchung der drei wesentlichen Transmissionsmechanismen Kapitalströme, Migration und Handel. Aber sie führt aufgrund der unterschiedlichen Ansätze kaum zu klaren Aussagen. Schon die Befunde sind trotz der Detailfülle wenig strukturiert. Bei den Direktinvestitionen etwa stehen vielen Daten zur Auswirkung in den Empfängerländern nur wenige zu den Folgen in den Herkunftsländern gegenüber (z.B. gibt es keine Tabelle über den Anteil der Investitionen in den Beitrittsländern an den gesamten Auslandsinvestitionen der Alt-EU: in der Tat war dieser nämlich gering!). Die These von der Verlagerung von Arbeitsplätzen wird nur mit einigen Beispielen belegt. Klar wird lediglich, dass ausländische Unternehmen produktiv sind, allerdings oft durch Mo-dernisierung, die Beschäftigung reduziert. Bei der Migration versucht der Autor dagegen die Risiken herunterzuspielen und tritt für sofortige Freizügigkeit (verbunden mit engen Kontrollen der Anwendung nationaler und europäischer Normen) ein, da legale Migration per definitionem nicht zu Sozialdumping führen könne (S. 454). Auch das Handelskapitel gibt eher Zeichen der Entwarnung und vermutet, dass die EU eine für die Beitrittsländer nachteilige Arbeitsteilung etabliert, bei der sie sich die hochwertigen Produktionen vorbehält und die ihr kontinuierlich Exportüberschüsse beschert. Es fehlt eine Verbindung zur sehr viel bedrohlicher formulierten Analyse der Investitionsströme, die vermuten lassen könnte, dass die scheinbar für die Altmitglieder vorteilhafte Handelsentwicklung vorübergehend ist und sich umkehrt, wenn die neu geschaffenen Kapazitäten mit gestiegener Produktivität den westeuropäischen Markt voll bedienen. Auch der wahrscheinlich geringere Arbeitsgehalt der Exporte aus der EU-15 bleibt unerwähnt. Dieser führt auch bei Handelsbilanzüberschüssen dazu, dass Arbeitsplätze in der EU-15 verloren gehen. Etwas abrupt folgen im gleichen Handelskapitel Überlegungen zu allgemeinen Chancen eines wirtschaftlichen Aufholprozesses der Neumitglieder, die der Autor skeptisch beurteilt, und einer dazu geeigneten Entwicklungsstrategie.

Neben einigen kritischen Bemerkungen zur Meinungsbildung zum Beitritt in den Kandidatenländern folgert der Autor im Schlusskapitel, dass das europäische Sozialmodell vor allem durch die (wegen liberaler Neigungen) mangelnde Verabschiedung und unzureichende Um-setzung "guter" Gesetze und Politiken gefährdet ist. Er fordert konsequent eine Durchsetzung sozialer Normen um ihrer selbst willen. Auch wenn man daher zuspitzend das Buch als ein Meisterwerk der gesinnungsethischen Analyse beurteilen darf, so sollte das nicht von der Lektüre abschrecken. Die Fülle der Daten, überwiegend zur sozialen Lage in den Beitrittsländern, bietet dem daran interessierten Leser reiches Material auch für vom Autor nicht vorgedachte Schlussfolgerungen.

 

Michael Dauderstädt
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

     
      
 
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