Review: Carles Boix - Democracy and Redistribution
 
       
    Issue 2/2004  
       
  Cambridge 2003
Cambridge University Press, 264 S.
Review Michael Dauderstädt, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
   
  Hier liegt eine Theorie des Regimewechsels vor, die Maßstäbe setzt. Carles Boix, Politikwissenschaftler an der Universität von Chicago, versucht zu erklären, warum und wann sich Länder demokratisieren und warum manche autoritäre Regime bleiben oder es wieder werden. Wie der zweite Teil des Titels („Redistribution“) andeutet, wählt Boix einen politökonomischen Ansatz. Nach ihm bestimmen zwei Faktoren im Kern das politische System einer Gesellschaft: das Ausmaß an Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung und die Struktur und der Charakter des Vermögens. Dieser zweite Faktor, die „asset specifity“, unterscheidet zwischen Gesellschaften, in denen das Vermögen der Reichen ortsgebunden ist (z.B. Land, Bodenschätze, Öl), und solchen, in denen es überwiegend mobil ist (z.B. Finanzkapital). Ist die Ungleichheit groß und das Vermögen immobil, so wehren sich die Reichen gegen eine Demokratisierung, da sie befürchten, dass die arme Mehrheit dann eine Umverteilung durch Besteuerung (oder gar durch Enteignung) durchsetzen würde. Ist die Ungleichheit dagegen gering und das Vermögen ziemlich mobil, so ist eine maßvolle Besteuerung zu erwarten, da sonst das Vermögen auswandert. Damit wird eine Demokratisierung wahrscheinlich.
 
Im ersten Kapitel formalisiert Boix dieses relativ einfache Grundmodell in mathematischer Form, was vielleicht manche Leser abschreckt, aber für das Argument sonst nicht weiter bedeutsam ist. Sie erlaubt ihm aber einige Präzisierungen und graphische Darstellungen. Er überprüft dann seine Theorie im zweiten Kapitel mit statistischen Verfahren aufgrund von Daten der Jahre 1950-1994. Dieser quantitativen Überprüfung folgt in Kapitel 3 eine zweite, qualitative, die verschiedene amerikanische Bundesstaaten (ab 1910) und Schweizer Kantone (ab 1830) vergleicht, die sich stark in ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur unterscheiden. Beide Überprüfungen bestätigen seine Theorie – wenn auch mit einigen Qualifikationen.
 
MIn den folgenden Kapiteln erweitert und differenziert Boix sein Grundmodell in mehrfacher Hinsicht. Er nimmt damit einigen Einwänden, die sich bei der Lektüre des ersten Kapitels schnell einstellen, den Wind aus den Segeln. So berücksichtigt er nun stärker die längerfristige Perspektive von Wachstumsprozessen und sozialer Mobilität, die Rolle von Handel und politischen Institutionen wie Wahlrecht, Gewaltenteilung und Dezentralisierung (Kapitel 4). In den Kapiteln 5 und 6 sieht er den öffentlichen Sektor nicht nur als eine Umverteilungsmaschine und den Staat als einen mit eigenen Interessen (vor allem „rent seeking“) ausgestatteten Teil der Gesellschaft. Zum Schluss bietet er einige Voraussagen zur Dauerhaftigkeit von Regimen an, die voluntaristische und idealistische Demokratisierer bedenklich stimmen sollten.
 
Dieses theoretisch-empirische Gebäude ist beeindruckend in seiner Plausibilität und Stringenz. Dank seiner klaren Struktur und Aussagen ist es auch angreifbar, vor allem in seiner schmucklosen Kerngestalt. Warum soll sich Umverteilung auf die Besteuerung der Reichen beschränken? Es geht auch durch Umverteilung des Vermögens oder durch politische Veränderung der Marktchancen, womit die primäre und nicht die sekundäre Verteilung korrigiert würde. Ist die außenwirtschaftliche Öffnung für einen größeren Staatssektor verantwortlich (S.178), da Öffnung mehr Verwundbarkeit bedeutet (S.182)? Das ist zwar weit verbreitete Lehrmeinung, aber nicht unumstritten (vgl. Torben Iversen „The Dynamics of Welfare State Expansion: Trade Openness, De-Industrialization, and Partisan Politics” in Paul Pierson (Hg.) “The New Politics of the Welfare State”, Oxford 2001). Und warum sollte die bei Marktöffnung steigende Nachfrage nach dem nicht knappen Faktor die Demokratie bedrohen? Der nicht knappe („abundant“) Faktor dürfte doch die Mehrheit haben und folglich auf demokratische Weise seinen Vorteil wahren können. Überhaupt fallen gesellschaftliche Konstellationen, in denen die Armen die Minderheit darstellen, aus dem Erklärungsmuster heraus. Und sind in Lateinamerika die Armen der knappe Faktor (S.143), deren Einkommenschancen durch Handelsliberalisierung bedroht werden und trägt das zur Erklärung der autoritären Tendenzen auf dem Subkontinent bei?
 
Auch bei der Empirie fallen einem Fälle ein, die durch den Ansatz kaum zu erklären sind. Wenn z.B. bei hohen regionalen Einkommensunterschieden die reicheren Regionen zur Unabhängigkeit tendieren, warum hat sich dann Deutschland wiedervereinigt, obwohl eine erhebliche Umverteilung abzusehen war? Und kann man in Osteuropa nach 1990 – analog zu Japan und Deutschland nach 1945 - von einer ausländischen Besatzung sprechen, die für den Erfolg der Demokratisierung verantwortlich war? Außer in Bosnien und im Kosovo wäre es bestenfalls angemessen, von starken internationalen Anreizstrukturen (EU-Beitritt, Kopenhagener Kriterien) zu sprechen. Überhaupt ist der Zusammenbruch des Kommunismus nur bedingt mit Boix zu erklären. Denn die Einkommensverteilung wurde ja mit dem Regimewechsel ungleicher. Er spielt auch eine bezeichnend untergeordnete Rolle in einem Buch, das grundsätzlich Regimewechsel erklären will. Erklärbar wird dagegen die unterschiedliche Entwicklung in Ostmitteleuropa einerseits und in Russland und Zentralasien andererseits.
 
Aber das sind Mängel am Rande, die einen nicht abhalten sollten, sich mit diesem Buch auseinander zu setzen. In seinem Kernargument besticht es, und jede alternative Erklärung muss sich daran messen lassen. Der Mut des Autors, es so simpel und klar zu formulieren, ist zu loben. Dass sich mit wenigen Grundelementen eine Fülle komplexer Entwicklungen ableiten lässt, sollte keinen stören, der mit modernen Wissenschaftskonzepten vertraut ist (viele mathematische Simulationen reproduzieren durch Anwendung einfachster Regeln rasch hochkomplexe Prozesse). Und die politischen Praktiker müssen überlegen, wie sie mit den fundamentalen Einwänden umgehen, die Boix etwa gegen eine Demokratisierung des Nahen Ostens (z.B. des Irak) erhebt.
 
Michael Dauderstädt
Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
         
         
 
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