Review: Gabriele Metzler -
Der deutsche Sozialstaat - Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall

 
       
    Issue 1/2004  
       
  Stuttgart/ München 2003
Deutsche Verlags-Anstalt, 269 S.
Rezension von Nicole Breyer
Friedrich-Ebert-Stiftung
Bonn
   
  Gabriele Metzler, Privatdozentin an der Universität Tübingen, gelingt mit diesem Buch eine anschauliche und gut lesbare Analyse der Entstehung, Fortentwicklung und derzeitigen Krise des deutschen Wohlfahrtsstaates. Sie lässt den Leser tief eintauchen in die verschiedenen Epochen, beschreibt die durch die jeweilige gesellschaftspolitische Situation hervorgerufenen sozialen Fragen und deren sozialstaatliche Lösungen und zeichnet so ein präzises historisches Bild der Ereignisse. Ihr Ziel besteht darin, die "historische Gewachsenheit" der derzeitigen wohlfahrtsstaatlichen Probleme aufzuzeigen. Lösungsvorschläge für einen sinnvollen Umbau des Sozialstaates und für eine Krisenbewältigung hält sie nicht bereit.
 
In den ersten beiden Kapiteln schildert die Autorin die Entstehung und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme von den 1880er Jahren bis zum Ende der Weimarer Republik und beleuchtet die Herausforderungen, auf die der Sozialstaat eine Antwort geben sollte. Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Verstädterung hätten die alten sozialen Sicherungsnetze auf familiärer und kirchlicher Basis überlastet. Neue Risiken wie schlechte Entlohnung, unzureichende Wohn- und Lebensbedingungen sowie lange Arbeitszeiten und mangelnder Arbeitsschutz hätten die Arbeiterschaft bedroht. Die Sozialpolitik sei als politische Reaktion auf das soziale Elend zu verstehen. Mit einer Doppelstrategie aus „Zuckerbrot und Peitsche“, habe man einerseits die radikale Arbeiterbewegung zerschlagen (Sozialistengesetz von 1878) und andererseits mittels der Sozialgesetzgebungen Unterstützung für den monarchischen Staat sichern wollen. In der Genese des deutschen Sozialstaates spiegele sich ein „dramatischer Zuwachs der Staatsaufgaben“ (S.16) sowie ein Wandel im Denken über die Staatsfunktion wider. Mit der Bismarckschen Sozialversicherung seien erstmals soziale Leistungen als Rechte festgeschrieben worden, was den Status der Hilfsempfänger erheblich veränderte. Es sei fortan nicht mehr ihr Verschulden gewesen, in Not geraten zu sein, sondern sie hätten als Opfer eines generellen, der gesellschaftlichen Entwicklung inhärenten Risikos gegolten.
 
Kapitel III beschäftigt sich mit den gravierenden Veränderungen des deutschen Sozialstaates in der NS-Zeit. Den Nationalsozialisten sei es anhand umfangreicher staatlicher Beschäftigungsprogramme im Autobahnbau und im Rüstungssektor gelungen, die Erwerbslosigkeit bis 1936 fast vollständig abzubauen. Allerdings sei die Beschäftigungspolitik stark vom Primat der Aufrüstung bestimmt gewesen. Die Nationalsozialisten hätten zudem massiv in das System der Arbeitsbeziehungen eingegriffen. Gewerkschaften, Betriebsräte, Tarifautonomie und Schlichtungswesen seien aufgelöst und das Recht auf freie Berufswahl beschränkt worden. Damit seien maßgebliche Rechte, die sich die Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert erkämpft hatte, außer Kraft gesetzt worden. Die erb- und rassenbiologische Ideologie der Nationalsozialisten habe das gesamte System der Sozialversicherung durchdrungen und schließlich zu Euthanasie und Massenmord geführt.
 
In Kapitel IV dokumentiert Metzler, wie sich die beiden deutschen Staaten in den vier Jahrzehnten ihrer Teilung in sozialstaatlicher Hinsicht auseinanderentwickelt haben und welche Schwierigkeiten im Vereinigungsprozess von 1989/90 zutage traten.
 
In der DDR sei sozialpolitisch vor allem die Herstellung materieller Gleichheit und die Beseitigung der Klassengesellschaft propagiert worden. Die soziale Absicherung habe „Geborgenheit“ im Sozialismus vermitteln und auf diese Weise Legitimation und Systemloyalität erreichen sollen. In der herrschenden Lehre der DDR habe der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit als überwunden gegolten. Daher seien Ansätze zur Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen unter der Maßgabe der SED im Keime erstickt worden.
 
Die Entwicklung des westdeutschen Sozialstaates habe im Gegensatz hierzu ganz im Licht gesellschaftlicher Demokratisierung und Teilhabesicherung gestanden. Die Besatzungsmächte hätten die Intention gehabt, die Bundesrepublik eindeutig von der NS-Herrschaft abzugrenzen, was sich in nahezu allen Bereichen des (sozial-)politischen Institutionengefüges ablesen lasse. Der ökonomische Aufschwung der 50er und 60er Jahre mache den „bedeutendsten sozialpolitischen Faktor der Geschichte der BRD" aus. (S. 180) Durch die boomende Wirtschaft und den Anstieg der Löhne hätten soziale Transferleistungen überhaupt erst finanziert und "Wohlstand für alle" gesichert werden können. In der garantierten Tarifautonomie, der im Grundgesetz verankerten Koalitionsfreiheit und der etablierten paritätischen Mitbestimmung sieht die Autorin weitere wichtige Katalysatoren des westdeutschen Wohlfahrtstaates. Im Gegensatz zur DDR seien in der BRD Interessenkonflikte zwischen den Sozialpartnern im Rahmen eines grundsätzlichen Konsenses geregelt worden.
 
Die Vereinigung beider deutscher Staaten habe zu neuen sozialpolitischen Schwierigkeiten geführt. Nachdem die Wirtschaftsunion vollzogen und die D-Mark eingeführt worden war, seien ostdeutsche Produktionsstätte im großen Stil zusammengebrochen mit der Folge eines massiven Beschäftigungsabbaus und ansteigenden Arbeitslosenquoten. Hierin sieht Metzler das sozialpolitische Kernproblem der Wiedervereinigung. Dazu seien materielle Probleme, wie beispielsweise bei der Rentenversicherung, aufgetaucht. „Bedeutende Transferleistungen von West nach Ost“ (S. 191) seien notwendig gewesen, um den Lebensstandard der ostdeutschen Rentner an den der West-Rentner anzugleichen und um das „Wohlstandsgefälle abzuschwächen“ (S. 191).
 
In den Kapiteln V und VI beleuchtet die Autorin die derzeitige Krise des Sozialstaates unter drei verschiedenen Dimensionen:
ökonomisch, politisch und soziokulturell.
 
Unter ökonomischen Gesichtspunkten macht sie den steigenden Anteil der öffentlichen Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt, die hohen Lohnnebenkosten in der Wirtschaft und die steigende Arbeitslosenquote für die Krise des Wohlfahrtsstaates verantwortlich. Die politischen Probleme beschreibt sie als „Effizienz- und Legitimationskrise“: Die Komplexität der Steuerungsmechanismen sei inzwischen zu groß geworden. Außerdem verhindere die Struktur der politischen Prozesse tiefgreifende Reformen. In Deutschland gäbe es besonders viele Akteure mit „Vetomacht“, die ihre Zustimmung verweigern könnten, was zu einer Handlungsblockade im Sozialstaat führe.
 
In soziokultureller Hinsicht sei die Alterung der Gesellschaft und der Wandel der Erwerbswelt für die Krise verantwortlich. Die demographische Entwicklung zerstöre das Gleichgewicht zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern. Die Veränderungen in der Erwerbsbiographie führten zu Diskontinuitäten in der Sozialversicherung und somit zu vielfältigen Absicherungsproblemen.
 
Schließlich untersucht die Autorin die Frage der Reform- und Zukunftsfähigkeit des deutschen Sozialstaates. Ihr Urteil fällt dabei sehr pessimistisch aus. So befürchtet sie beispielsweise, dass der Wohlfahrtsstaat seinen Aufgaben (Risiken abfangen und gesellschaftliche Ungleichheit abfedern) nicht mehr nachkommen kann. Die Gesellschaft drohe auseinander zu fallen in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. In einer neuen „Unterklasse“ könnten sich die sozial Benachteiligten bündeln und von der
Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden. In seiner bisherigen Form werde der Sozialstaat „wohl kaum mehr existieren“. (S. 253) Dabei verkennt sie, dass es sich im Grunde um lösbare Leistungs- und Anpassungsdefizite handelt. Beispielsweise ist die Erosion der Finanzierungsgrundlage angesichts hoher Arbeitslosigkeit vor allem ein Problem von lohnarbeitszentrierten Versicherungssystemen. Die Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung und somit die Entkoppelung der Sozialversicherung vom Beschäftigungsverhältnis stellt eine mögliche Lösung dar. Außerdem könnten durch die Einbeziehung von Beamten und Selbständigen die gesetzlichen Sicherungssysteme finanziell entlastet werden. Ist daher der Sozialstaat wirklich ein historisches Projekt, welches sich überlebt hat? Zahlreiche Studien (Scharpf/Schmidt 2000; Esping-Andersen 2002) beweisen doch, dass der moderne Wohlfahrtsstaat – trotz der Notwendigkeit seines Umbaus - international wettbewerbs- und überlebensfähig ist. Indem Metzler die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates allzu schnell negiert, verkennt sie, welche Bedeutung ihm gerade in Zeiten der Globalisierung zukommt. Schließlich ist ein solides Sozialsystem Garant für Integration, Gerechtigkeit und Solidarität einer Gesellschaft.
 
Nicole Breyer
Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
         
 
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