| Pierre Rigoulot: Nordkorea. Steinzeitkommunismus und Atomwaffen. Anatomie einer Krise | |||||||||||||||||||
| Kang Chol-hwan zusammen mit Pierre Rigoulot: Les Aquariums de Pyongyang. Dix ans au Goulag nord-coréen | |||||||||||||||||||
| Heft 4/2004 | |||||||||||||||||||
| Köln
2003 Kiepenheuer & Witsch, 121 S. | |||||||||||||||||||
| Paris 2000
Robert Laffont, 237 S. | |||||||||||||||||||
| Nordkorea gehörte bis vor kurzem zu den letzten von der Außenwelt hermetisch abgeschirmten Bastionen des Stalinismus. Erst zu Beginn der 1990er Jahre machte die stalinistische Despotie seines Führers Kim Il-sung und Thronerben Kim Jong-il durch Hungerkatastrophen wieder auf sich aufmerksam. Sie kosteten nach Schätzungen der internationalen Hilfsorganisationen ungefähr zwei bis drei Millionen Menschen das Leben. Seitdem die US-Administration unter G. W. Bush das nordkoreanische Hungerregime wegen seiner nuklearen Ambitionen und Raketenexporte nach Syrien, Iran und Pakistan auf die Liste der "Schurkenstaaten" gesetzt hat, hat sich die internationale Berichterstattung vermehrt diesem stalinistischen Anachronismus zugewandt. Sie machte auf das Elend der Flüchtlingsmassen, welche die Grenze nach China überqueren konnten, aufmerksam. Die Berichte über das Massensterben, die Hungerkatastrophen, das weitverzweigte Netz der politischen Konzentrationslager, die öffentlichen Massenexekutionen, die Repression durch eine gut gerüstete Armee und Geheimpolizei oder das Luxusleben der obersten Partei- und Armeeränge sind nun nicht mehr ausschließlich über Dokumentationen von internationalen Hilfsorganisationen zugänglich. Diese hatten schon zuvor über den auch von Rigoulot angesprochenen Rassismus des Regimes berichtet, Behinderte aus den großen Städten zu vertreiben, sie in Sammellager zu deportieren und ihnen zu verbieten, Kinder zu bekommen. Die "Rasse der Zwerge", so die offizielle Begründung des Regimes, solle ausgemerzt werden, um die "Reinheit" der Rasse zu erhalten. Die gleiche inhumane Rassenideologie wurde auch an nordkoreanischen Frauen exerziert, die während ihres Flüchtlingsdaseins auf chinesischem Gebiet schwanger wurden und nach ihrer Ausweisung durch die chinesischen Behörden in den nordkoreanischen Gefängnissen und Lagern zur Abtreibung gezwungen wurden. "Ihr habt chinesisches Sperma in euch, ausländisches Sperma. Wir Koreaner sind ein auserwähltes Volk. Wie könnt ihr es wagen, ausländisches Sperma hierher zu bringen?" (S. 61) Pierre Rigoulot, Chefredakteur der "Cahiers d'Histoire", Mitautor des "Schwarzbuch des Kommunismus" und seit Jahren einer der wenigen kompetenten Nordkoreaspezialisten, hat diese Berichte zu einer verlässlichen und systematischen Dokumentation zusammengefasst. Rigoulot stützt sich auf Presseberichte bekannter Zeitungen (Le Monde, Figaro, New York Times, Far Eastern Economic Review, Economist usw.) sowie auf südkoreanische Zeitungen, Berichte von internationalen Hilfsorganisationen, aber auch auf die neuere Fachliteratur. Da seine Dokumentation für einen breiten Leserkreis geschrieben wurde, verzichtet er auf ausführliche Fußnoten und Belege. Einzelne Fakten, die Rigoulot präsentiert, sind inzwischen - auch dank seiner über zwanzigjährigen Pionierrolle in der Berichterstattung über Nordkorea - einer breiteren, interessierten Öffentlichkeit bekannt. Seine Dokumentation über Nordkorea bietet dem Leser jedoch einen ersten umfassenden Einblick in die Geschichte der Entstehung Nordkoreas im Kontext des Kalten Krieges, des Aufbaus einer stalinistischen Despotie mit Landkollektivierungen, Parteisäuberungen, groteskem Führerkult um Kim Il-sung, hochgerüsteter Armee, Nuklear- und Raketenindustrie und permanenter Hungerkatastrophen aufgrund einer verfehlten Wirtschaftspolitik. Besonders aufschlussreich sind die Kapitel, in denen sich Rigoulot mit der "Kunst des Überlebens" dieses "Schurkenstaates" befasst, der trotz katastrophaler Wirtschaftslage, Massensterben und Hungerkatastrophen in der Lage zu sein scheint, mit seiner Nuklear- und Raketenproduktion seine Nachbarn zu politischen Konzessionen zu zwingen. Ausführlich schildert der Autor die vergeblichen, mit beträchtlichen finanziellen Transferleistungen verbundenen Versuche der südkoreanischen Regierung unter Kim Dae Jung, mit einer "sunshine policy" das nordkoreanische Regime zu bewegen, im Innern die inhumane Repression zu lockern und sich außenpolitisch in ein Sicherheitssystem einzubinden. Diese südkoreanische sunshine policy sowie die amerikanische Politik, durch Öllieferungen den Verzicht auf ein nordkoreanisches Atomprogramm zu erreichen, müssen als gescheitert angesehen werden. Sie haben, so Rigoulot, nur das Überleben des Regimes ermöglicht, das sich überdies durch Raketenexporte, Drogenhandel, Korruption, Entführungen, Ausbildungscamps für Terroristen und Selbstmordattentäter sowie Geldwäsche in großem Stil zusätzliche Devisen erschlossen hat. Insbesondere die Raketenexporte Nordkoreas geben Anlass zur Besorgnis. Die Taepodong-2-Raketen lieferten die Bausteine für die pakistanische Ghaury-1 und die iranische Shahab-4 Rakete mit einer Reichweite von 2000 Kilometern. Rigoulot verweist darauf, dass zwischen 1980 und 1988 mehrere hundert nordkoreanische Techniker an der Entwicklung des iranischen Raketenprogramms beteiligt waren. Die Auswirkungen dieses forcierten iranischen Raketenprogramms auf die nahöstliche Sicherheitslage, insbesondere für Israel, sind zur Zeit noch nicht kalkulierbar. Leider schweigt sich Rigoulot über den Export von Nukleartechnologie durch Pjöngjang aus. Hier wären die neuerdings in den internationalen Medien (zum Beispiel in der New York Times) vermuteten Verbindungen zu Pakistan aufschlussreich gewesen. Interessant sind auch die Hinweise auf den Luxuskonsum, den Kim Jong-il für seine Hofhaltung im Stile eines Thronerben der Kim Il-sung Dynastie entfaltet hat. Die luxuriösen Villen in der Schweiz und in Portugal, das Einfliegen von Mangelwaren durch Sondermaschinen sowie die Luxusjachten in Hongkong passen schlecht zum offiziell propagierten spartanischen Lebensstil eines Regimes, das die "breiten Volksmassen" verhungern lässt, dafür aber den internen Zusammenhalt der Nomenklatur durch eine luxuriöse Selbstisolation fördern. Kim Jong-il's Verhandlungsstrategie, auf Zeit zu spielen und sich die Rückkehr zu den nächsten Verhandlungsrunden mit den USA, China, Japan und Südkorea durch umfangreiche Nahrungsmittelhilfen und verlorene Kredite bezahlen zu lassen, hat den Zusammenbruch des Regimes verhindert. Auch die Hilfsprogramme der internationalen Organisationen tragen zur Stabilisierung des Regimes bei, da sie nicht die Hungernden in den städtischen Elendsquartieren und abgelegenen Provinzen erreichen, dafür aber die Depots für die Parteikader und Eliteeinheiten aus Armee und Sicherheitsorganen aufstocken. Das nordkoreanische Regime wird, so das Fazit von Rigoulot, überleben, solange seine Nachbarn die politischen Folgen und die wirtschaftlichen Kosten seines Kollapses mehr fürchten als die humanitären Katastrophen, welche dieser "Schurkenstaat" - "état voyou", so der französische Titel - permanent produziert. Zu diesen humanitären Katastrophen gehört sicherlich das nordkoreanische Gulag-System. Mit dem ersten authentischen Bericht eines Überlebenden aus dem Totenreich der politischen Gefangenen Kim Il-sung's löste Rigoulot, der die Leidensgeschichte von Kang Chol-hwan redigierte, keine Begeisterung in Frankreich und Südkorea aus. Nicht wenige französische Linksintellektuelle wurden an ihre früheren Freundschaftsbesuche in Pjöngjang und an ihre Kondolenzschreiben erinnert, die im Mausoleum zu Ehren von Kim Il-sung auch heute noch den staunenden Besuchern präsentiert werden. Die freundlichen und verständnisvollen Kommentare von Mitterand und Sartre über Kim Il-sung und sein Arbeiter- und Bauernparadies können auch heute noch dort nachgelesen werden. Rigoulot zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich die Reportagen, die Philippe Grangereau für die Libération geschrieben hat. Auch in Südkorea stieß die Veröffentlichung in Regierungskreisen auf verlegenes Schweigen und massive Ablehnung, weil negative Reaktionen für die sunshine policy befürchtet wurden. Interessant wäre es auch, die Besucherlisten in den Gästehäusern Pjöngjangs nach prominenten Pilgern aus den Reihen der westdeutschen Dritte Welt-Befreiungsaktivisten durchzumustern, die vor Ort die "Juche"- Ideologie studieren wollten und vom Regime Kim Il-sung's bestens versorgt und beflissen hofiert wurden. Zu K. D. Wolff's Pilgerreise nach Pjöngjang (1970) und seinem Korea-Komitee gibt es erste Hinweise bei Gerd Koenen ("Die großen Gesänge", 1991; "Das rote Jahrzehnt", 2001). Kang Chol-hwan wurde 1977 zusammen mit seiner Familie im Alter von neun Jahren in das Konzentrationslager Yodok deportiert, wo er zehn Jahre bis zu seiner Entlassung um sein physisches und psychisches Überleben zu kämpfen hatte. Seine Großfamilie gehörte in Japan zu der koreanischen Exilgemeinde, die es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Vor allem auf Betreiben seiner Großmutter, einer glühenden Kommunistin und Verehrerin Kim Il-sung's, kehrte die Familie nach Pjöngjang zurück, spendete das beträchtliche Vermögen des Großvaters der Partei und konnte für einige Jahre die Privilegien der Nomenklatur genießen. Kang spricht denn auch in diesem Zusammenhang von einer glücklichen Jugend im Schatten des "Großen Führers". Erst die Denunziation und Verhaftung des Großvaters zerstört diese Kinderwelt. Die Familie des kleinen Chol-hwan wird getrennt. Die Mutter, eine verdiente Parteiaktivistin, lässt sich scheiden und bleibt in Pjöngjang, während der Vater, die siebenjährige Schwester, die Großmutter und der Onkel im Zuge der Sippenhaftung für die "Verbrechen" des Großvaters eine zehnjährige Haftstrafe in Yodok antreten müssen. Den geliebten und als Vorbild bewunderten Großvater sieht Kang nie mehr wieder, dafür kann er jedoch sein Aquarium (daher der Titel des Buches), auf dem sein ganzer kindlicher Stolz beruht, zusammen mit ein paar wenigen Habseligkeiten mit ins Lager nehmen. Der Lageralltag wird in allen Einzelheiten beschrieben. Die Familie hat zunächst Glück. Ihre "Verbrechen", so die offizielle Version, können durch "Arbeit und Studium" "korrigiert" werden. Sie bezieht deshalb mit vier anderen Familien eine Holzbaracke und entgeht damit dem Los der anderen Häftlinge, die als Minenarbeiter Tag und Nacht in den Schächten zu Tode geschunden werden. Die tägliche Maisration von 400 Gramm zwingt jeden, der überleben will, zu zusätzlicher Nahrungssuche (Ratten, Schlangen, Frösche etc.), um bei extremer Kälte, fehlender Schutzkleidung, permanenter Arbeit, Krankheiten (ohne Medikamente und ärztliche Betreuung) ein Minimum an physischer Widerstandskraft zu entwickeln. Die hohe Sterblichkeitsrate, besonders auch die häufigen Selbstmorde unter den zwei- bis dreitausend Häftlingen ist eine Folge dieser Bedingungen. Hunger, Unterernährung, Erschöpfung und klirrende Kälte im Winter bilden aber nur den äußeren Rahmen. Ausführlich geht Kang auch darauf ein, wie er im Laufe seiner Lagerkarriere ein Repertoire an psychischen Verhaltens- und Reaktionsformen erwirbt, um sich den zahlreichen Spitzeln zu entziehen, prügelnde Aufseher zu täuschen und winzige zusätzliche Rationen aus dem Lagerdepot zu stehlen. Minutiös werden die öffentlichen Hinrichtungen geschildert, das Ritual der regelmäßig abgehaltenen Kritik- und Selbstkritiksitzungen notiert und die stumpfsinnige, mit Prügeln und Schikanen gespickte ideologische Schulung beobachtet, die für die Kinder der Häftlinge an einigen Tagen in der Woche inszeniert wird. Bewegend fallen die Kapitel aus, in denen der heranwachsende Kang über erste Freundschaften und Beziehungen zu gleichaltrigen Jungen und Mädchen im Lager berichtet. Nach seiner Entlassung aus zehnjähriger Lagerhaft (1987), die Kang bitter mit "Merci Kim Il-sung" kommentiert, wird die Familie in ein Dorf in der Nähe von Yodok einquartiert, überwacht und kontrolliert. Trotz anfänglicher Erfolge, erste Schritte gesellschaftlicher Aktivitäten zu unternehmen, droht eine erneute Verhaftung, der sich Kang durch eine abenteuerliche Flucht nach China und schließlich nach Südkorea zu entziehen weiß. Hannah Arendt hat die Konzentrationslager als die Laboratorien totalitärer Herrschaft bezeichnet. Wer das nordkoreanische Experimentierfeld der Inhumanität aus der Nähe betrachten möchte, sollte diesen Bericht lesen. Er gehört sicher zu den klassischen Zeugnissen der condition humaine unter totalitären Bedingungen. Klaus-Georg Riegel | |||||||||||||||||||
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