| Britta Joerißen / Bernhard Stahl (Hrsg.): Europäische Außenpolitik und nationale Identität | |||||||||||||||||||
| Heft 3/2004 | |||||||||||||||||||
| Münster
2003 Lit Verlag, 440 S. | |||||||||||||||||||
| Nach über einem Jahrzehnt Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) kann die Europäische Union auf eine Reihe von Erfolgen verweisen: Die konzertierte Diplomatie der EU-Staaten hat wesentlich zur unbefristeten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages und zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes beigetragen, und der Ausbruch eines weiteren jugoslawischen Bürgerkrieges in Mazedonien konnte nicht zuletzt durch die frühzeitige und entschiedene Diplomatie Javier Solanas und Chris Pattens verhindert werden. Wann immer sich hingegen die Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Position einigen konnten, wurde die EU auf die Zuschauerränge verwiesen; zuletzt war das während der Irak-Krise der Fall, als "alte" und "neue" Europäer regelrecht gegeneinander intrigierten. Kein Wunder also, dass die Hoffnungen all derer, die "die Stimme Europas in der Welt" gerne deutlicher vernehmen würden, auf einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik liegen. Die Hindernisse und Hürden auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu identifizieren, ist daher nicht nur eine interessante wissenschaftliche Frage, sondern darüber hinaus von hoher praktischer Bedeutung. Den Schlüssel für die Chancen und Schwierigkeiten einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik sehen Britta Joerißen und Bernhard Stahl, die Herausgeber der vorliegenden Studie, in den nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten. Diese sind in unterschiedlichem Ausmaß bereit, am Prozess der Europäisierung der Außenpolitik teilzunehmen. Mit dieser Entscheidung positioniert sich die Untersuchung innerhalb einer "konstruktivistischen" Forschungstradition, die außenpolitische Interessen als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse begreift. Gleichzeitig ist mit dieser Entscheidung die Abgrenzung von "realistischen" Ansätzen verbunden, die die Chancen einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes steigen sehen, weil der Unilateralismus der USA als einzig verbliebener Supermacht ebenso unausweichlich erscheint wie ein in Reaktion darauf erfolgendes engeres Zusammenrücken der Europäer. Nationale Identitäten werden als recht stabile soziale Konstruktionen des Selbstverständnisses einer national verfassten Gesellschaft verstanden. Bei der Erhebung nationaler Identitäten können die Autoren auf ein diskursanalytisches Instrumentarium zurückgreifen, das im Zuge des "constructivist turn" in den Internationalen Beziehungen der neunziger Jahre verfeinert und in zahlreichen Studien erprobt worden ist. Die Ergebnisse dieser Diskursanalysen machen zusammen mit der Beschreibung des außenpolitischen Verhaltens den größten Teil des Bandes aus. Aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung für den Integrationsprozess haben sich ähnliche Forschungsvorhaben in der Regel auf die Analyse Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens konzentriert. Mit guten Gründen brechen die Autoren der vorliegenden Studie - neben den Herausgebern haben Henning Boekle, Anna Jóhannisdottir, Christos Katsioulis, Ilka Leisenheimer, Johanna Löhr, Jörg Nadoll und Veit Swoboda Beiträge geschrieben - jedoch mit dieser Tradition. Stattdessen versuchen sie, die Heterogenität der EU in der Länderauswahl zu berücksichtigen. Die Niederlande, Dänemark, Italien, Griechenland, Deutschland und Frankreich sollen die Bandbreite unterschiedlicher Größen, Wirtschaftspotenziale, geografischer Lagen sowie Verfassungstraditionen und Wertehaltungen repräsentieren - mit Blick auf eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik verwundert nur, dass kein (post)neutraler Staat in die Auswahl mit einbezogen wurde. Die Erhebung der nationalen Diskurse ist das größte Verdienst der Untersuchung. Gerade aufgrund der unkonventionellen Auswahl untersuchter Staaten bietet die Studie dabei zahlreiche interessante Einblicke in die weniger bekannten Begründungsmuster griechischer, dänischer oder niederländischer Außenpolitik. Die Autoren erreichen dabei eines der Kernanliegen konstruktivistischer Forschung, nämlich ein besseres Verstehen von Handlungsmotiven, die wiederum häufig auf "formative Ereignisse" in der frühen Nachkriegszeit zurückgehen. Die Bedeutung nationaler Identität zeigt sich nicht zuletzt in ihrer großen Stabilität. So finden sich zahlreiche "Identitätselemente" aus den Diskursen der fünfziger Jahre nach wie vor in den Diskursen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wieder. Gleichzeitig zeigt sich in den Diskursanalysen auch ein verbreitetes Problem konstruktivistischer Außenpolitikanalysen, denn die Autoren scheinen ganz im Nachvollziehen des Besonderen und Partikularen aufzugehen. Das zu Beginn genannte Ziel, "allgemeingültigere Aussagen zur vergleichenden Außenpolitikforschung in Europa [zu] gewinnen" (S. 3) scheint dabei zunehmend aus dem Blick zu geraten. Sympathisch ist dabei, wie offen die Autoren ihre Überraschung darüber mitteilen, dass nicht ein einziges Ereignis zu finden war, das in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen zu einer Debatte geführt hätte (S. 368). Von der "liebgewordenen Idee [...], für alle Länder die gleichen Ereignisse als Grundlage für Diskursuntersuchungen auszuwählen" (S. 368) sei daher Abschied genommen worden. Für das Projekt einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik lässt die hohe Stabilität nationaler Identitäten nur wenig Gutes hoffen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie deuten eher darauf hin, "wie hochgradig idiosynkratisch mitunter die Problemwahrnehmungen in verschiedenen Ländern sind" (S. 368). Sofern eine gemeinsame europäische Außenpolitik zunächst eine gemeinsame Problemwahrnehmung voraussetzt, scheinen nationale Identitäten das größte Hindernis europäischer Außenpolitik darzustellen. Die Irak-Krise 2003 mag diesem Ergebnis unmittelbare Plausibilität verleihen. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob die real existierende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik damit treffend skizziert ist. Schließlich hat die europäische Diplomatie nicht nur einige, eingangs erwähnte, Erfolge hervorgebracht. Vor allem haben verschiedene, häufig ebenfalls konstruktivistisch inspirierte Autoren, eine Annäherung mitgliedstaatlicher Politiken plausibel machen können. Im Gegensatz zur Trierer Forschungsgruppe stützen sich diese optimistischeren Untersuchungen auf die wachsende Europäisierung der außenpolitischen Bürokratien und Entscheidungsträger, deren Problemwahrnehmungen sich in den häufigen Treffen verschiedener Arbeitsgruppen der GASP über die Jahre annähern. Die pessimistische Schlussfolgerung, die die Länderstudien für eine gemeinsame europäische Außenpolitik nahe legen, vermeidet die Trierer Projektgruppe jedoch ebenso wie eine zur Theoriebildung beitragende Auswertung der Diskurse und ihrem Verhältnis zum beobachtbaren außenpolitischen Verhalten. Statt dessen geben die Autoren der Hoffnung Ausdruck, ausstehende Arbeitsschritte "in einer zukünftigen Publikation [...] nachzuholen" (S. 404). Der Leser hat somit Einblicke in die Forschungswerkstatt der konstruktivistischen Außenpolitikanalyse erhalten, auf eine Antwort auf die einleitend gestellte Frage nach den Chancen und Hindernissen einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik muss er jedoch noch warten. Wolfgang
Wagner | |||||||||||||||||||
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