Internationale
Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 3/2002 |
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Die Notmaßnahmen, die Kuba Anfang der 90er Jahre vor dem Zusammenbruch retteten, haben ungewollt die Weichen für die künftige Entwicklung gestellt. Die Dollarwirtschaft untergräbt die sozialen Errungenschaften des Regimes und bereitet zugleich den Boden für eine neue post-sozialistische Elite. |
„Nächstes Jahr Weihnachten in Havanna“, frohlockte das kubanische Exil,
als der Fall der Berliner Mauer den Zusammenbruch des Ostblocks ankündigte.
Die Hoffnungen schienen berechtigt: mit dem Versiegen des sowjetischen
Subventionstropfs verlor Kuba bis 1992 drei Viertel seiner Importe und
Absatzmärkte. Der Insel wurde über Nacht das ökonomische Fundament weggerissen
und die Wirtschaftsblockade der USA kam erstmals voll zum Tragen. Doch
das Exil in Miami blieb – wieder einmal - auf seinen Koffern sitzen. Wie
konnte der vermeintliche Anachronismus „des ersten Sozialismus auf amerikanischen
Boden“ in der liberalisierten Welt von heute überleben? Der folgende Beitrag
sucht nicht nur Antworten auf diese Frage, sondern skizziert auch die
Konturen der Zukunft Kubas.
Schon 1991 entschied sich die kubanische Führungselite für das, was sie
nach der jahrzehntelangen Frontstellung zur USA am besten konnte: sie
setzte die Krise mit einer Kriegssituation gleich und propagierte, dass
diese nur über eine ökonomische Anpassung zu bewältigen war. Politisch
forderte sie bedingungslose Geschlossenheit und lehnte jegliche Reformüberlegungen
ab. Wirtschaftlich verwandelte sie die Insel mit der Einleitung des Notstandsprogramms
„periodo especial“ (Sonderperiode) in eine Kriegswirtschaft. Binnenproduktion
und privater Konsum wurden radikal gedrosselt. Über totale Güterrationierung,
eingefrorene Preise und Löhne sowie dem Verzicht auf Massenentlassungen
sollten die Kosten der Krise möglichst breit verteilt werden. Gleichzeitig
vermied man einen offenen Sozialabbau und versuchte auch in den härtesten
Krisenjahren, die Sozialleistungen des „ersten Wohlfahrtsstaats Lateinamerikas“
in voller Höhe aufrechtzuerhalten.
Zusätzlich wurden in bester planwirtschaftlicher Manier mehrere Industriezweige von der Restwirtschaft abgeschottet. Durch die Umstellung auf Dollarwirtschaft, Einführung von Marktmechanismen und betrieblicher Autonomie sowie durch das Recht auf Privateigentum für ausländische Investoren wurde dieser Devisensektor “fit” für die Weltwirtschaft gemacht. Über seine Einnahmen wollte die Insel ihre überlebensnotwendigen, aber verlorenen Importe jetzt für harte Währung auf dem Weltmarkt akquirieren. Am bedeutendsten sind in diesem „emerging sector“ die Biotechnologie, die Telekommunikation, die Öl- und Nickelförderung sowie der Tourismus.
Während die neuen Dollarbranchen nur langsam
in Fahrt kamen, stürzte die Binnenwirtschaft immer schneller ab.
Nach offiziellen Angaben brach das Bruttoinlandsprodukt
bis 1993 um insgesamt 40% ein und drückte Kuba an den Rand eines wirtschaftlichen
Kollaps: aufgrund fehlender Importe war selbst eine minimale Funktionsfähigkeit
der Wirtschaft sowie die Versorgung der Bevölkerung gefährdet. Die Regierung
zog eine ökonomische Notbremse, legalisierte kurzerhand den US-Dollar
als Zweitwährung und gestattete der Bevölkerung den privaten Devisenbesitz.
Viele der mehr als zwei Millionen im Ausland lebenden Kubaner schicken
seither regelmäßig Geld an ihre Angehörigen auf die Insel, welches der
Staat wiederum über Devisenläden abschöpft. Mit dieser spektakulären Maßnahme
konnte eine drohende Liquiditätskrise noch einmal abgewendet werden. Allerdings
um den Preis, dass nun zwei zirkulierende Währungen die duale Wirtschaft
der Insel formalisierten (Henkel 1996).
Die Freigabe des US-Dollar
markierte gleichermaßen einen Wendepunkt in der kubanischen Reformpolitik.
Offensichtlich setzte sich jetzt selbst auf höchster Ebene die Einsicht
durch, dass die Binnenwirtschaft einen Beitrag zur ökonomischen Konsolidierung
leisten musste. In mehreren Reformsequenzen legalisierte der Staat privates
Kleingewerbe und leitete eine überfällige Dezentralisierung und Entstaatlichung
der überdimensionierten Zucker- und Landwirtschaftsbetriebe ein. Mit dieser
“Dritten Agrarreform” fand die erste größere Landverteilung seit Revolutionsbeginn
statt.
Im Binnenraum herrscht eine konsequente Tatenlosigkeit, die
höchstens von dem Zurückdrehen frühere Liberalisierungen
unterbrochen wird.
Allerdings konnten diese Maßnahmen die angespannte Versorgungslage nicht
entschärfen. Nach sozialen Tumulten im August 1994 in Havanna sowie dem
darauffolgenden Exodus wurden darum Lebensmittelmärkte legalisiert und
die Privatwirtschaft weiter liberalisiert. Erst danach begann sich die
Versorgung der Bevölkerung auf minimalem Niveau zu stabilisieren (Burchardt
1996).
Im gleichen Jahr ging die Wirtschaft wieder
auf Wachstumskurs; vor allem Kubas Devisensektor begann langsam zu tragen.
Die Strategie, auf den Weltmarkt zu setzen, schien verspätet - aber nicht
zu spät - doch noch aufzugehen. Dementsprechend zeigte sich die Revolutionsspitze
zunehmend selbstsicherer und ihr Reformeifer ließ merklich nach. 1997
bestätigte die KP Kuba auf ihrem V. Parteikongress diesen - offiziell
als Politik der Kontinuität bezeichneten - Stillstand. Gleichzeitig wurde
unterstrichen, dass auch in Zukunft politische Reformen nicht auf der
Tagesordnung stehen. Damit wurde das weitere Muster des Reformverlaufs
festgeschrieben, an dem bis heute ausnahmslos festgehalten wird: zum einen
begrenzt sich der kubanische Umbruch als halbierte Transformation auf
Wirtschaftsreformen. Der ökonomischen folgte keine politische Liberalisierung,
sie dient nur der Absicherung des Status quo. Und zum anderen werden Reformen
nur reaktiv und minimalistisch als Krisenreaktion eingesetzt, nicht aber
als langfristige Strategie entwickelt.
Unter diesen Vorzeichen driftet die Inselwirtschaft
immer weiter auseinander: im Binnenraum herrscht eine konsequente Tatenlosigkeit,
die höchstens von dem Zurückdrehen frühere Liberalisierungen unterbrochen
wird. Die Leitsektoren Zucker und Landwirtschaft trocknen langsam aus.
Die Zuckerproduktion fuhr 1998 das schlechteste Ernteergebnis seit 50
Jahren ein und hat sich davon nicht mehr erholt. Die Landwirtschaft arbeitet
auf einem Niveau, das die fruchtbare Karibikinsel zwingt, ein Drittel
ihrer Devisen für Lebensmittelimporte auszugeben. Die Industrie funktioniert
nur in Abhängigkeit vom Devisensektor und das florierende Privatgewerbe
wurde wieder abgewürgt.
Dagegen boomt der Devisensektor weiter. Die Nickelproduktion
wurde durch ausländische Investitionen modernisiert und der Tourismus
expandiert mit hoher Dynamik (Wehrhahn/Widderich 2000). Beide Branchen
können sowohl bei den Produktions- bzw. Besucherzahlen als auch den Gewinnen
beeindruckende Wachstumsraten ausweisen (CEEC 2001). Doch der größte Devisenbringer der Insel sind heute die „remesas“
– die privaten Geldsendungen aus dem Ausland. Der Staat schöpft
diesen Geldstrom über ein breit ausgebautes Netz an Devisenläden ab, das
alle Konsumgelüste und Qualitätsanforderungen befriedigt – sofern in harter
Währung bezahlt wird.
Zwar garantieren die Erfolge
dieses „emerging sectors“ Kuba eine Mindestkaufkraft am Weltmarkt, die
der Insel das ökonomische Überleben sichert. Aber die Verzerrungen der
entkoppelten Wirtschaftskreisläufe und die große Außenabhängigkeit erlauben
nur ein stark zyklisches Wirtschaftswachstum, das z.B. von 7,8% im Jahr
1996 auf 1,2% im Jahr 1998 sank und sich mittlerweile bei circa 3% eingependelt
hat (Burchardt 2001). Zuletzt musste Kuba nach dem 11. September erfahren,
wie anfällig seine Wirtschaft ist: massive Einbrüche im Tourismus sowie
der Rückgang der privaten Geldsendungen provozierten umgehend Liquiditätsprobleme.
Die Insel befindet sich deshalb noch nicht auf dem von der Regierung immer
wieder propagierten wirtschaftlichen Konsolidierungskurs, sondern eher
im Zustand einer stabilen Stagnation (Burchardt 1999).
Die fehlende Konsistenz und
die Kurzsichtigkeit der Wirtschaftsreformen und der in den letzten Jahren
kaum gestiegene Lebensstandard der breite Masse unterstreichen, dass die
bis heute beeindruckende Stabilität des Tropensozialismus weder auf seiner
Wirtschaftspolitik beruht, noch ökonomisch fundiert ist. Dies macht es
erforderlich, die halbierte Transformation als Ganzes zu betrachten und
ihre Stabilisatoren im Außerökonomischen zu suchen: bei der Macht, Herrschaft
und Legitimation des Regimes.
Fälschlicherweise wird immer wieder versucht, den karibischen Staat mit
den sozialistischen Leviathans Osteuropas zu vergleichen. Dadurch verstellt
sich der Blick auf die spezifischen Grundzüge und eigene Dynamik der kubanischen
Macht. Zwar entspricht der institutionelle Aufbau des kubanischen Regimes
durchaus dem einstigen sowjetischen Vorbild und weist die gleichen Demokratiedefizite
auf. Kubas bürokratisch-autoritärer Staat ist aber kein Produkt übernommener
Ideologien, sondern hat authentische historische Wurzeln, die in der politischen
Tradition der Insel begründet liegen.
Alle politischen Systeme im letzten Jahrhundert waren
durch tiefgreifende Legitimitätskrisen und einem weitverbreiteten Misstrauen
gegenüber der öffentlichen Politik gekennzeichnet, die letztendlich eine
Konsolidierung demokratischer Strukturen verhinderten. Immer wenn sich
das System zu destabilisieren drohte, kam es zu militärischen Lösungen,
da einer Opposition kein Spielraum für reformistische Krisenbewältigungen
eingeräumt wurde. Zwar leitete die kubanische Revolution 1959 einen politischen
Neuanfang ein. Aber aufgrund der historischen Erfahrungen, dass politische
Krisen der Demokratie immer zu antidemokratischen Lösungen tendierten,
orientierte sich die neue Suche nach Legitimität nicht an demokratischen
Leitbildern. Die Revolution suchte statt dessen ihre Glaubwürdigkeit in
den faktischen Ergebnissen der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die sie
autoritär bestimmte und bürokratisch durchsetzte.
Politisch verfolgte
die Revolution als sozialistischer Entwicklungsstaat zwei Ziele: allgemeiner
Wohlstand und soziale Gleichheit. Zum einen wurde dafür eine bürokratisch
verwaltete Industrialisierung eingeleitet, die autoritär über Plandirektiven
ablief. Zum anderen wurde nach dem gleichen Muster eine expansive Sozialpolitik
betrieben, die der gesamten Bevölkerung eine umfassende sozialstaatliche
Versorgung garantierte. Die Homogenisierung
der zerrissenen Gesellschaft wiederum wurde nicht in einem partizipativen
Mit- und Gegeneinander verschiedener Kräfte erreicht, sondern gelang über
einen starken und geschlossenen Zentralstaat, der wie eine Entwicklungsdiktatur
die autoritär vorgegebenen Ziele bürokratisch effektiv umsetzte. Plakativ
gesagt: die soziale und wirtschaftliche Integration der Massen geschah
durch ihren politischen Ausschluss.
Ökonomisch
wurde versucht, die gesellschaftliche Modernisierung über den Außenhandel
abzusichern. Die Integration in den sozialistischen Weltmarkt provozierte
dann schnell eine Binnenmarktschwäche und zementierte die Funktion des
Außenhandels als materielle und die der Bürokratie als politische Basis
des Systems. Damit wuchs die Bedeutung des Staates, der, gestärkt durch
den externen Kapitalzufluss und kaum abhängig von internen Steuern, an
innergesellschaftlicher Autonomie gewann, was sich wiederum negativ auf
seine demokratische Verfasstheit auswirkte.
In diesem Kontext hat sich in den letzten 40 Jahren in Kuba ein bürokratisch-autoritärer Machtapparat herausbildet, der über eine hohe Effektivität bei der Implementierung von Politiken mit sozialer Breitenwirkung verfügt. Trotz ihres antidemokratischen Charakters besitzt diese Macht deshalb bis heute eine starke gesellschaftliche Legitimation. Dies ist der erste Stabilitätsfaktor, der Kubas Überleben sichert.
Ganz im Gegensatz zu anderen sozialistischen Staaten war Politik in Kuba
bis in die 1970er Jahre kaum institutionalisiert. Ihre Strukturen waren
stark von den militärischen Erfahrungen des Guerillakampfes sowie von
dem durch die US-Blockade ausgelöstem Belagerungsdenken geprägt. Massenmobilisierung
war die wichtigste Dialogform zwischen Regierung und Bevölkerung und diente
als Substitut für Partizipation. Die berühmt-berüchtigten, mehrstündigen
Reden Fidel Castros machten diese Politik weltweit populär.
Erst nach der zehnjährigen Suche nach einem eigenen Gesellschaftsmodell
begann Kuba mit dem Aufbau seines sozialistischen Staates. Dessen Institutionalisierung
wurde 1976 zwar mit der Verabschiedung der ersten Verfassung abgeschlossen
und gleicht mit seinem Zentralismus, seinem Einparteiensystem und fehlender
staatlicher Gewaltenteilung dem sowjetischen Staatsaufbau. Faktisch ist
das System allerdings weiterhin auf kubanische Besonderheiten zugeschnitten.
Die politische Entscheidungsmacht liegt
in Kuba vollständig beim Staats- und Ministerrat. Durch eine Verschmelzung
beider Organe zu einem einzigen Machtinstrument monopolisieren dann nur
wenige Personen die politische Herrschaft. Dieser Personenkreis ist identisch
mit den höchsten Entscheidungsträgern der KP Kubas (Stahl 1996). Der Erste
Sekretär des Politbüros der KP, der Vorsitzende des Staats- sowie des
Ministerrates und der Regierungspräsident ist natürlich niemand anderes
als Fidel Castro höchstpersönlich. Er hält eine Vielzahl von zentralen
Positionen besetzt und hat in allen Phasen der Revolution eine fundamentale
Rolle eingenommen. Zusätzlich speist sich seine Herrschaft aus vielfältigen
Netzwerken, die ausschließlich ihm verpflichtet sind. Mit anderen Worten:
Wer über Kuba redet, darf von Fidel Castro nicht schweigen.
Doch die Bedeutung Fidel Castros liegt weniger
in seiner institutionalisierten Macht als in seiner integrativen und konsensstiftenden
Autorität gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. Bis heute gelang es
ihm, die verschiedenen Strömungen seiner Führungselite so auszubalancieren,
so dass sich keine Seite von ihm unabhängig machen konnte. Und in der Bevölkerung
verfügt er als Patron der nationalen Unabhängigkeit noch über hohes Ansehen.
Diese Verbindung von nicht-institutionalisierter Macht
und integrativer Autorität lässt sich am besten als charismatische Herrschaft
beschreiben, die Max Weber einmal als eine “große revolutionäre Macht”
bezeichnete, die sich durch das „Außeralltägliche“ und das „Wirtschaftsfremde“
auszeichnet (Weber
1972:140ff). Das Außeralltägliche
verkörpert Castro bis heute durch seine Rolle als Initiator einer Revolution:
um ihn wurde zusammen mit Ernesto “Che” Guevara ein Mythos geschaffen,
er stilisierte sich zu einem Führer, der den Massen Hoffnung und eine
Vision gab. Auch das Wirtschaftsfremde an Castros Herrschaft ist unübersehbar:
selbst wenn seine Kritiker unzählige Besitztümer aufzählen - im Vergleich
mit seiner Macht nimmt sich diese mutmaßliche Bereicherung eher bescheiden
aus. Castro ist zwar an Macht, aber nicht an Geld interessiert. Sein Führungsstil
basiert auf einer streng moralischen Lebenseinstellung, die er mit seinem
jesuitisch geprägten Sendungsbewusstsein auch den Massen glaubwürdig vermitteln
kann.
Das Regime schürt den Nationalismus, macht ihn zum Programm
und stilisiert sich selbst zum Sinnbild und Castro zum Patron der
nationalen Selbstbestimmung.
Nach Weber verwandelt sich charismatische Herrschaft im politischen Alltagsgeschäft
oft in patrimoniale Herrschaft, die prinzipiell eher über Legitimität
als über Institutionalisierung verfügt. Sie legitimiert sich durch Protektion,
die der Herrscher seinen Anhängern gewährt und wird über Klientelismus
untermauert - der Herrschende ist nicht Vorgesetzter, sondern der persönliche
Herr. In neopatrimonialen Gesellschaften wird diese Patronage nicht
mehr traditionell hergeleitet, sondern häufig über gemeinsame Interessen
und Pfründe gesichert. Zwei zentrale Voraussetzungen sind dafür einmal
eine fehlende Solidarität innerhalb der herrschenden Elite: sie machen
die Herrschaftsbeziehungen unvorhersehbar, begünstigten einen autokratischen
Führungsstil und erhöhen die Loyalität gegenüber der Führung. Und zum
anderen eine Monopolisierung der zentralen Ressourcen, durch der den Klientelsystem
eine ökonomische Grundlage gegeben wird. Lange hierarchische Netzwerke
klientelistischer Beziehungen organisieren dann das ganze System über
eine Unzahl von Seilschaften, legitimieren es und laufen in der Führungsspitze
zusammen.
Das kubanische Regime besitzt genau diese beiden Voraussetzungen:
es verfügt über eine Machtelite, von der keine Seite ihre Positionen nach
außen artikulieren kann. Zwar wird über einen Reformflügel spekuliert,
dem “orthodoxe”, also reformfeindliche Kräfte gegenüberstehen. Die Öffentlichkeit
erfährt aber von internen Debatten und Machtkämpfen wenig. Da die Realpolitik
Kubas mit keiner Interessensgruppe zu identifizieren ist, hängt die Legitimation
der Herrschaft weitgehend von dem Charisma Fidel Castros ab, der an Einfluss
gewinnende Partikularinteressen immer neutralisierte.
Und die
ökonomische Logik des Tropensozialismus hat die neopatrimoniale Herrschaft
besonders begünstigt. Die Wirtschaft ist vom Staat fast völlig monopolisiert.
Gleichzeitig ist Geld kein jederzeit realisierbarer Tauschwert; diese
Funktion erfüllen die produzierten Güter noch selbst. Im Staatssozialismus
herrscht keine Warenwirtschaft, sondern eine entwickelte Naturalwirtschaft,
wodurch beim Tausch der Faktor Mensch (soziale Position, Kontakte etc.)
wichtiger ist als der Faktor Ware (Wert). Auf diesem Nährboden konnte
der Neopatrimonialismus ausgezeichnet gedeihen.
Jetzt entschlüsselt sich der tiefere Charakter der Herrschaft
in Kuba: Fidel Castro begründete mit seiner Revolution eine charismatische
Herrschaft, die sich in Neopatrimonialismus verwandelte. Der wiederum
durchdrang das gesamte politische System sowie die Gesellschaft und verbindet
beide bis heute. War es im Staatssozialismus der UdSSR und Osteuropas
schon bald der entpersonalisierte Apparat, der die Macht ausübte (und
schließlich verlor), ist es in Kuba noch ihr Charisma-Träger Fidel Castro,
der die Legitimität garantiert.
Andererseits bedarf Castros Charisma zu seiner politischen
Verfestigung eines funktionierenden Machtapparates – des Staates. Diese
Symbiose zwischen patronaler Herrschaft und bürokratisch-autoritärer
Macht, zwischen Legitimität und Institutionalisierung ist die zentrale
Quelle der politischen Dynamik Kubas und der zweite Faktor, der
die Stabilität des Tropensozialismus absichert.
Um sich als Schutzherr ganz Kubas zu profilieren, macht sich Fidel Castro
wiederum die Geschichte zunutze. Denn die kubanische Nation ist seit ihren
Ursprüngen intensiv mit dem Bestreben nach nationaler Autonomie verbunden.
Das traumatische Erlebnis der quasi doppelten Kolonialisierung erst durch
Spanien und dann durch die USA haben auf der Insel einen kollektiven Willen
zum Erhalt der nationalen Unabhängigkeit geschaffen, der für die Bevölkerung
nach 500 Jahren Fremdbestimmung erstmals durch die
Revolution von 1959 Wirklichkeit wurde.
Die nordamerikanische Kubapolitik scheint
dieses Geschichtsverständnis tagtäglich zu bestätigen. Seit vier Jahrzehnten sind
die Beziehungen zwischen beiden Ländern sehr angespannt. Der prägnanteste
Ausdruck dafür ist die fortbestehende US-Blockade, die 1996 weiter verschärft
wurde. Durch das sogenannte „Helms-Burton-Gesetz“ wurde für Kuba nicht
nur der Handel und der Zugang zu Krediten und Direktinvestitionen
deutlich erschwert. Vielmehr erhielt die Blockade Gesetzescharakter und kann nur noch durch den US-Kongress
selbst aufgehoben werden. Bedingung dafür ist ein „transition government“,
das erst nach Erfüllung präzise formulierter Kriterien von den USA anerkannt
wird. Dazu gehören die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems,
Rückgabe oder Entschädigung konfiszierten US‑Eigentums sowie eine
demokratische Liberalisierung, für die die USA sogar Personalentscheidungen
festlegt.
Durch derartige regelmäßige Demonstrationen äußerer Einmischung
lassen sich die USA von der kubanischen
Regierung bis heute zum externen Feind stilisieren, der für sämtliche
interne Schwierigkeiten verantwortlich gemacht wird und die eigene Politik
als nationalistischen Akt legitimiert, der innere Geschlossenheit erfordert.
Die zahlreich belegten Versuche, von den USA aus Dissidentengruppen
auf der Insel aufzubauen, um das Regime zu destabilisieren, setzt oppositionelle
Stimmen sofort dem Verdacht des Vaterlandsverrat aus. Dies nutzt das kubanische
System als politisches Disziplinierungsinstrument und zur Legitimierung
seiner repressiven Verfolgung jeglicher organisierter Opposition und zivilen
Öffentlichkeit. Solange politisch Andersdenkende auf Kuba in dem Spannungsfeld
zwischen nordamerikanischer Beeinflussung und staatlicher Repression zerrieben
werden, können sie keine Glaubwürdigkeit erlangen. Somit ist der primäre
Grund für das Fehlen einer starken politischen Opposition auf der Insel
nicht die Repression, sondern die Abwesenheit von Handlungsalternativen,
die ebenfalls den Erhalt der nationalen Unabhängigkeit garantieren.
Das Regime ist sich dieser Legitimationsquelle
völlig bewusst und versucht weiterhin, sie für sich zu monopolisieren:
es schürt den Nationalismus, macht ihn zum Programm und stilisiert sich
selbst zum Sinnbild und Castro zum Patron der nationalen Selbstbestimmung.
Ein plakativer Ausdruck dieser Politik waren die Ereignisse um den Verbleib
des kubanischen Jungen Elián González, der im Jahr 2000 als Flüchtling
in die USA gelang und nicht nur die Weltmedien monatelang beschäftigte.
In Kuba wurden das Geschehen genutzt, um in einer populistischen Kampagne
sämtliche Würdenträger zu verpflichten, ihre Regimeloyalität öffentlich
unter Beweis zu stellen. Mit diesem Eliánismo - wie Kritiker jene Wendung
ironisch bezeichneten - ist es gelungen, über subtile Appelle an den ausgeprägten
kubanischen Familiensinn und an den nationalen Stolz jegliches anderes
Thema von der innenpolitischen Bühne zu verbannen und die Bedrohung der
nationalen Souveränität durch die USA öffentlichkeitswirksam vorzuführen.
Die Rückkehr des Kindes nach Kuba bewies schließlich die unbestreitbare
Rolle Castros und der Revolution als Wächter der eigenen Traditionen und
Unabhängigkeit.
Folgerichtig mutierten auch die einst
sozialistischen Positionen der KP Kubas in den 1990er Jahren zu einer
radikalnationalen Doktrin, bei der Partei, Staat und Nation inhaltlich
gleichgesetzt werden. Der kubanische Sozialismus verbindet also eine leninistische Staatsdoktrin
mit einem ausgeprägten Sozialstaatsanspruch - legitimiert durch den Imperativ
der Verteidigung der nationalen Souveränität. Kuba muss heute deshalb
weniger als ein orthodox sozialistisches, sondern vielmehr als ein radikal
nationalistisches Regime verstanden werden.
Die Politik des Tropensozialismus und der kubanische
Nationalismus verschmolzen in den letzten 40 Jahren hierbei zu einer sozialen,
kulturellen und nationalen Identität. Damit soll eine einzige bevölkerungsübergreifende
Gruppenidentität entlang den Territorialgrenzen beschrieben werden, deren
Heranwachsen durch die gemeinsame historische Erfahrung der Fremdbestimmung,
die gesellschaftliche Homogenisierung, den kollektiven Aufstieg, den ausgeprägten
Sozialcharakter des Systems, seinen hohen Organisations- und Vernetzungsgrad,
die Möglichkeit einer räumlichen Ausgrenzung jeglicher Opposition oder
individueller Unzufriedenheit (bis heute verließen rund 10% der Bevölkerung
die Insel), die autoritäre bis repressive Politik des Staates, die Allgegenwärtigkeit
seiner Doktrin sowie die räumlichen Eingrenzung von Information (fehlende
Pressefreiheit) und pluralistischen Diskurs begünstigt wurde.
Diese Gruppenidentität – mit Bourdieu (1983) auch als soziales und kulturelles Kapital zu verstehen - steht in permanenter Interdependenz mit Politik, Wirtschaft und Nation. Sie hält nach dem Wegfall der ökonomischen Grundlagen bis heute die Legitimationsbasis des Regimes aufrecht und verhindert sein Auseinaderbrechen. Es handelt sich hier um den dritten Stabilitätsfaktor des kubanischen Systems.
Sichern Macht, Herrschaft und Legitimation zwar bis heute die Stabilität
des Tropensozialismus, wird sie durch die soziale Dynamik der letzten
zehn Jahre kontinuierlich aufgeweicht. Denn
die momentane ökonomische Stabilität wird durch eine wachsende soziale
Ungleichheit erkauft: während der im Einflussbereich der Landeswährung
liegende Binnenbereich völlig abgewirtschaftet ist, konzentrieren sich
im Devisensektor heute Gewinne, Einkommenschancen, Qualitätsstandards
und Konsumpräferenzen. Diese als „dolarización“ bezeichnete Landnahme
der „Feindwährung“ verzehrt alle sozioökonomischen Kreisläufe auf der
Insel. Wohlstand und Anerkennung basieren oft nicht mehr auf Arbeit oder
sozialen Funktionen, sondern auf einem Zugang zum Dollar.
Einmal ist die begehrte Währung
über Arbeit im „emerging sector“
erhältlich. Zwar werden auch
hier Gehälter grundsätzlich in Nationalwährung gezahlt – aber in fast
allen mit Devisen operierenden Unternehmen fließen die Dollar auch in
die Taschen der Angestellten. Da sich die kubanische Wettbewerbsfähigkeit
am Weltmarkt oft auf Niedriglohnbereiche begrenzt, wird durch einen den
Dollar überbewertenden Wechselkurs (ein durchschnittliches Monatsgehalt
in Nationalwährung entspricht seit Jahren dem Tauschwert von rund 10 US-$)
der Bezug zwischen Berufsqualifikation und Lebensstandard ausgehebelt.
Ein Kellner kann heute über Trinkgelder täglich das Monatsgehalt eines
Universitätsprofessors verdienen. Aus solchen Einkommensdisparitäten folgt
eine dramatische Entwertung von Qualifikationen und Spezialisierungen,
die langfristig verheerende Auswirkungen auf die gesamte Sozialpyramide
des Landes hat.
Im noch größeren Umfang besteht der Dollarsegen aus den
privaten „remesas“ – und hängt somit von Auslandskontakten und meist von
Familienbanden ab. Hierüber findet eine brisante Selektion statt, die
zwei besonders regimeloyale Gruppen diskriminiert: einmal die Revolutionskader
des Apparates, die einst aus politischen Gründen alle Verbindungen zum
Ausland abgebrochen hatten. Und zum anderen die ehemalige Unterschicht
der Schwarzen, von denen bis heute nur circa 5% emigrierten, weil die
Revolution ihnen bessere Lebensbedingungen ermöglichte.
Wer in Kuba
nicht in den Genuss eines regelmäßigen Devisenbesitzes kommt – also mehr
als die Hälfte der Bevölkerung – ist zunehmend von Armut bedroht. Nach
kubanischen Berechnungen benötigt eine Durchschnittsfamilie zum Überleben
mindestens das Doppelte ihres regulären Lohnes (Togores
2000).
Solche Zusatzeinkommen können neben dem Devisenbesitz meist nur im Schwarzmarkt
erzielt werden. Wohlstand
hängt deshalb immer stärker von informellen Netzen ab und Löhne sowie
sozialpolitische Geldtransfers verlieren ihre frühere Funktion als Ausdruck
von Arbeitsleistung bzw. sozialem Ausgleich (Widderich/Wehrhahn 2000).
So öffnet sich durch eine klandestine Umverteilung auch im Bereich der
Nationalwährung die Einkommensschere: sanken in den letzten Jahren die
Spareinlagen der Kleinstsparer um knapp 50%, verdoppelte sich im gleichen
Zeitraum der Geldbesitz der Reichsten (Beruff 1997). Da die Kapitalakkumulation
unangetastetes Staatsmonopol blieb, gibt es für diese Neureichen allerdings
noch keine legale Form der Investition.
Aufgrund der Rückkehr dieser materiellen
Ungleichheit werden in Kuba erste Tendenzen zukünftiger Marginalisierung
sichtbar. Davon sind primär die Schwarzen betroffen. Zwar hat die Revolution
den institutionalisierten Rassismus des früheren Kubas eliminiert - allerdings
ohne breitere Lerneffekte zu schaffen: rassistische Stereotypen sind auf
der Insel weiter wirksam. Ein Anzeichen dafür ist die geringe Präsenz von Schwarzen
in Funktionen mit hohem Prestige und letztendlich im Dollarsektor. Selbst
die Zulassung des privaten Kleingewerbes benachteiligt sie indirekt: denn
dieses darf nur im heimischen Domizil ausgeübt werden und erfordert somit
frei verfügbaren Wohnraum. Eine Bedingung, die die Nachkommen der alten
- weißen - Mittel- und Oberschicht öfter als die schwarze Bevölkerung
erfüllen. In diesen latenten Diskriminierungen liegen Gefahren, die in
eine ethnische Restrukturierung der Sozialstruktur münden könnten.
Wohlstand hängt immer stärker von informellen Netzen
ab und Löhne sowie sozialpolitische Geldtransfers verlieren
ihre frühere Funktion als Ausdruck von Arbeitsleistung bzw.
sozialem Ausgleich.
Auch die einst ausgeglichenen Stadt-Land-Beziehungen Kubas weichen einer
immer stärkeren Disparität. Die Migration in die Hauptstadt – vor allem
aus den ärmeren Ostprovinzen - ist seit 1990 sprunghaft angestiegen und
beginnt, die bisherige Integrität des Territorialstaates auszuhöhlen (Klopfer/Mertins
2001). Der Grund dieser Landflucht liegt in der stagnierenden Agrarpolitik,
die die Arbeits- und Lebensbedingungen in ruralen Zonen immer schwieriger
und dadurch die Städte attraktiver macht.
Andere Beispiele
der sozialen Regression in Kuba, die hier nur am Rande erwähnt
werden können, sind die Abnahme weiblicher Beschäftigung, der Anstieg
von Kriminalität und Prostitution sowie das Anwachsen von Korruption und
offener Bettelei. Sind diese Phänomene im regionalen Vergleich eher noch
unbedeutend, haben sie für die kubanische Bevölkerung oft unerträgliche
Ausmaße angenommen. Da sie an den Zustand des vorrevolutionären Kubas
erinnern, besitzen sie eine hohe politische Brisanz.
Zwar wird
die asymmetrische Einkommensverteilung noch über die „conquistas sociales“,
die Sozialsysteme, ausgeglichen. Der Staat pumpt bis heute jährlich
fast 40% seines Haushaltes in ein Gesundheitssystem, dass trotz Materialmangel
nicht substantiell an Effizienz eingebüßt hat; in ein Bildungssystem,
das weiterhin den kostenlosen Zugang zu allen seinen Einrichtungen garantiert;
sowie in Altersversorgung, Arbeitslosenunterstützung und Subventionierung
von Lebensmitteln (Mesa-Lago 1996). Diese „Sonnenseiten“ des Tropensozialismus
erschweren die Reproduktion einer sozialen oder ethnischen Selektion
über die Sozialstruktur und verhindern zusammen mit der Repression, dass
sich die neue Ungleichheit politisch artikuliert.
Aber diese freundliche Sozialpolitik
wird zunehmend ausgehöhlt: bleibt ein Arztbesuch auch kostenlos, ist die
verschriebene Medizin oft nur noch über Dollar erhältlich. Und die dahingeschmolzenen
Einkommenschancen für akademische Berufe sind einer der Gründe, dass die
Hochschulimmatrikulationen in den 1990er Jahren um die Hälfte sanken.
Eines Tages wird sich die neue Ungleichheit auch nicht mehr über eine
einzige politische Maxime wie nationale Unabhängigkeit auffangen lassen.
Der monetäre Dualismus führt deshalb schnurstracks in die gesellschaftliche
Spaltung. Politische Stabilität
ist in Kuba langfristig nur noch durch sozialen Ausgleich und Partizipation
möglich. Die halbierte Transformation muss zur Ganzen werden, wenn sie
einen zivilen und sozialen Charakter bewahren will.
Beharrt die Rhetorik des kubanischen Regimes auch darauf, an einer sozialistischen
Entwicklung festzuhalten, weist seine Realpolitik in die Gegenrichtung:
die gespaltene Wirtschaft demonstriert, dass es nicht gelungen ist, eine
konsistente Entwicklungsstrategie zu formulieren. Bei der politischen
Partizipation wurden alle Ansätze erdrückt, die eine systemimmanente Demokratisierung
fördern wollten. Bei der Eigentumsfrage wurden im Devisensektor völlig
untransparente Aktiengesellschaften geschaffen, die einer kleinen Schicht
die Bereicherung ermöglichen; den 1993 gegründeten Agrargenossenschaften
nimmt man hingegen durch permanente Bevormundung alle Chancen auf Konsolidierung;
und eine verschleppte Unternehmensreform hält die meisten Staatsbetriebe
bis heute in Unproduktivität gefangen, wodurch Privatisierungsbestrebungen
geradezu das Wort geredet wird. Im Bereich des Marktes verfolgt die Regierung
eine stark restriktive Politik – allerdings mit dem Ergebnis, dass eine
informelle Marktallokation stattfindet, die umso stärker Ungleichheit
provoziert.
Diese kurze Aufzählung macht deutlich, dass der Tropensozialismus
heute – trotz widrigster äußerer Umstände – am stärksten unter inneren
Entwicklungsblockaden leidet. Sowohl Kubas Stabilität als auch seine weitere
Entwicklung sind primär endogen begründet. Dies sei nebenbei all den Apologeten
in die Agenda geschrieben, die seit Jahren über die entfesselte Globalisierung
und die abnehmende Steuerungsfähigkeit von Nationalstaaten sinnieren;
als auch denen, die schon bereitstehen, um nach einem Systemzusammenbruch
die USA und den Weltmarkt für das Scheitern des „alternativen Experiments“
Kuba verantwortlich zu machen.
Der zu erwartende Verlust einer
antikapitalistischen Alternative bedeutet für Kuba aber kein „Ende der
Geschichte“. Vielmehr besitzt die Insel alle Potenziale, um zu einem Entwicklungsmodell
zu werden, das beweist, dass eine relativ gleiche Verteilung und eine
ausgebaute soziale Infrastruktur Voraussetzungen
sind, um die Bedingungen
ökonomischer Entwicklung zu erfüllen. Deshalb besteht Kubas größte Herausforderung
heute in einer inkrementellen Reform von Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft, also in einer Veränderung des Systems aus dem System heraus
und auf das System aufbauend.
Im ökonomischen Bereich geht
es primär um eine Zusammenführung der gespaltenen Wirtschaft. Erste Maßnahmen
wären eine Währungsreform, die ab einem generellen Sockelbetrag höhere
Geldmengen progressiv abnehmend umtauscht und so die auseinaderklaffende
Einkommensschere schließt; eine graduelle
Preisliberalisierung, die Marginalisierung durch die Umstellung
von Preissubventionen auf direkte
Trotz widrigster äußerer Umstände leidet Kuba heute am stärksten
unter inneren Entwicklungsblockaden. Sowohl seine Stabilität als
auch seine weitere Entwicklung sind primär endogen begründet.
Einkommensbeihilfen verhindert; sowie eine marktgestützte Wettbewerbsförderung,
die zu mehr Produktion und zu niedrigeren Preisen führt. So kann im Binnenmarkt
ein einheitliches Preisniveau hergestellt werden, das die Benachteiligung
der mit staatlichen Niedrigpreisen arbeiten Unternehmen abbaut.
Danach ist die Einführung einer
staatlich gelenkten Kredit- und Zinspolitik und von Investitionsfreiheit
erforderlich: heute befindet sich auf kubanischen Bankkonten circa dreimal
soviel Geld, wie der Staat im gleichen Jahr investiert. Während also einerseits
mit allen Mitteln versucht wird, internationales Kapital zu akquirieren,
liegen andererseits gigantische Geldmengen brach. Die regulierte Aufhebung
des Investitionsmonopols würde die Produktion stimulieren, das Interesse
an der eigenen Währung steigern und diese aufwerten. Die dafür nötige
Zentralbank könnte trotz Unabhängigkeit auch auf politische Ziele verpflichtet
werden, z.B. auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik, eine Mittelstands- und
Genossenschaftsförderung, etc.
Flankiert werden müsste sie
durch eine Steuerbehörde, die das Steueraufkommen deutlich steigert. Denn
Kuba leidet – wenn auch unter sozialistischen Vorzeichen – an dem gleichen
Strukturgebrechen aller Länder Lateinamerikas: eine chronische Unterbesteuerung.
Doch eine nachhaltige Aufrechterhaltung der Sozialsysteme kann nur über
Steuereinnahmen finanziert werden.
Derartige Reformen würden die
Geldmenge vernünftig verknappen und dem Geld eine aktive Rolle als Wertindikator
zusprechen. Ein erster Produktionsschub würde das Warenangebot vergrößern
und die Nationalwährung gegenüber dem US-Dollar spürbar aufwerten. Der
Tauschkurs würde auf ein ökonomisches Verhältnis sinken, das die Einführung
eines offiziellen Wechselkurses und den Verkauf aller Waren in der Nationalwährung
erlaubt. Die nationalen Artikel werden konkurrenzfähiger und die Landeswährung
weiter gestärkt. Die Dualität der Währung wäre aufgehoben.
Nach dieser makroökonomischen
Stabilisierung muss als zweiter Schritt die Unternehmensreform angegangen werden.
Hier handelt es sich zweifellos um das Herzstück jeglicher Bemühungen,
die den sozialen Charakter der Insel maßgeblich mitbestimmt. Notwendig
ist die Formulierung einer Meso- und Industriepolitik, die nach nationalen
Bedürfnissen, Wettbewerbsfähigkeit, Spezialisierung, Technologiepotenzial
etc. Schwerpunkte für eine neue, dezentrale Wirtschaftsförderung definiert.
Über Marktkonkurrenz sowie „harter“ Finanzierungskonditionen sind danach
betriebliche Rationalität, Rentabilität und Autonomie zu stärken. Obwohl
der Zielkonflikt zwischen unternehmerischer Marktkompetenz und staatlicher
Zentralverwaltung bis heute nicht lösbar scheint (Brus/Laski 1990), lassen
sich z.B. über Genossenschaften Eigentumsverhältnisse fördern, die mit
Mitbestimmung und sozialen Komponenten verknüpft sind. Ein entsprechendes
Steuer- und Zollinstrumentarium muss zusätzlich produktive Kräfte unterstützen
und neue heranreifen lassen, bis sie internationale Wettbewerbsfähigkeit
erlangt haben.
Mit
einem derartigen Reformfahrplan könnte Kuba zum „karibischen Tiger“ werden.
Seine überdurchschnittlich
hochqualifizierten und sozial gutversorgten Arbeitskräfte, die zahlreichen
wissenschaftlich-technologischen Institutionen und das vorhandene Know-how
könnten dabei einen raschen Anschluss an weltwirtschaftliche Spitzenanforderungen
sichern (Henkel 2001).
Dazu kommt die geostrategische Lage, bei der sich Kuba innerhalb der Freihandelszone
FTAA zu einer Dienstleistungsdrehscheibe zwischen dem nord- und lateinamerikanischen
Handelsraum entwickeln könnte.
Allerdings verlangt ein derartiges
Reformszenario vom Staat enorme Anpassungsleistungen. Und zwar nicht nur
im Wirtschaftsbereich, sondern noch
stärker im politischen Feld, wo er seine Hegemonialstellung aufzugeben
und eine gesellschaftliche Demokratisierung einzuleiten hätte. Die Zielanforderungen
zur Demokratisierung autoritärer Staaten sind allgemein anerkannt. Neben
den klassischen Komponenten wie freie Wahlen, Gewaltenteilung, politische
Rechte, etc. wird heute auf die Bedeutung einer entfalteten Rechtsstaatlichkeit
und von „accountability“ zur (Selbst-) Beschränkung und Kontrolle des
Staates aufmerksam gemacht (Lauga 1998; O´Donnell 1999).
Kontrovers diskutiert wird hingegen, warum in vielen Transformations-
und Entwicklungsländern trotz eines liberaldemokratischen „institutional
setting“ eklatante Demokratiedefizite und soziale Desintegration
herrschen (Lauth 2002).
Solche Erfahrungen lassen es
ratsam erscheinen, in Kuba politische Reformen anzustreben, die nicht beim institutionellen Wandel stehen bleiben.
Ein erster Schritt wäre die Stärkung einer parlamentarischen Kultur: die
Umwandlung der Nationalversammlung in ein öffentliches Forum für Politik
und die Angleichung ihrer formalen an ihre faktischen Funktionen sowie
eine stärkere Autonomie der regionalen und kommunalen Ebenen würden eine
maßgebliche Demokratisierung der Regierung bedeuten und öffentliche Räume
schaffen, in dem partizipative Mitbestimmung eingeübt werden kann. Auf
kommunaler Ebene existieren in Kuba heute schon bemerkenswerte basisdemokratische
Elemente, die hierfür vielfältige Anknüpfungspunkte bieten, bisher aber
nur die Modernisierung des Zentralstaates absicherten (Hernández 2001).
Bei der politischen Repräsentation empfiehlt sich als
gradueller Übergang eine innerparteiliche Demokratisierung der KP Kubas.
Zwar ist die KP schon seit einiger Zeit dabei, sich von einer Avantgarde-
in eine Massenpartei zu verwandeln. So wuchs sie im letzten Jahrzehnt
jährlich um circa 50.000 Mitglieder und bindet heute knapp 10% der Bevölkerung.
Eine gleichzeitig zu beobachtende Machtkonzentration an der Parteispitze
lässt es allerdings bezweifeln, ob die Partei mit mehr Masse auch an Meinungsvielfalt
gewinnt. Nötig wäre dafür die Zulassung von Fraktionen, kollektiven Entscheidungsprozessen
und dem Verbot einer mehrfachen Funktionsausübung, welches personalisierte
und klientelistische Politikmuster abbaut.
Parallel dazu müsste eine Entpolitisierung des Rechtssystems,
die Ausweitung von Bürgerrechten und eine graduelle Medienpluralisierung
eingeleitet werden. Allein solche Veränderungen würden einen gewaltigen
Demokratisierungs- und Modernisierungsschub auslösen. Ziel wäre nicht
weniger Staat, sondern ein starker, aber anderen Staat, der sich an neue dezentrale,
partizipative und indirekte Regulierungsmechanismen anpasst.
Nur über eine so zu
steigernde staatliche Effizienz kann das Regime seinen egalitären und
sozialen Charakter erhalten. Untersuchungen haben vielfach gezeigt, dass
der Erfolg von Steuererhebungen als Finanzierungsbasis für öffentliche
Dienste nicht nur vom administrativen Durchsetzungspotenzial abhängt,
sondern viel stärker von der Legitimationsbasis des Staates selbst (Boeckh/Rubiolo 1999). Verfügt der Staat nicht über
die Effizienz, seine öffentlichen Dienste qualitativ hochwertig anzubieten,
verringert sich die Bereitschaft auf Besteuerung, worauf wiederum erst
die finanzielle Basis und dann die Qualität der öffentlichen Leistungen
abnimmt. Dieser Circulus vitiosus
ist in vielen Transformationsländern die Ursache für die Verlotterung
staatlicher Gesundheits- und Bildungssysteme sowie die Privatisierung
öffentlicher Dienste, die letztendlich zur Quelle sozialer Ungleichheit
werden. In Kuba hingegen werden Bildung und Gesundheit von der breiten
Bevölkerung einheitlich als hohes öffentliches Gut angesehen. Es ist –
noch - ein
Kubas überdurchschnittlich hochqualifizierten und sozial gutversorgten
Arbeitskräfte, seine zahlreichen wissenschaftlich-technologischen
Institutionen und das vorhandene Know-how könnten einen raschen
Anschluss an weltwirtschaftliche Spitzenanforderungen sichern.
leichtes, für den staatlichen Erhalt der vorhandenen Sozialstandards
die nötige Legitimation dafür zu erlangen, das jeder einzelne über Steuern
einen Beitrag leistet. Diese Legitimation wird allerdings ohne eine Modernisierung
des Staates kontinuierlich sinken.
Soll außerdem die politische Dynamik Kubas, die aus der
Symbiose zwischen autoritär-bürokratischer Macht und charismatischer Herrschaft
entspringt, aufrechterhalten werden, braucht der Staat auch in Zukunft
einen Antipoden. Zur Re-Politisierung einer von staatlicher Vormundschaft
zu emanzipierenden Gesellschaft sollte deshalb neben einer Staatsreform
der zivilen Gesellschaft ein breiterer Raum eingeräumt werden. Nur so
kann einem neuen Regime eine neue Legitimität verschafft werden, die sich
nicht mehr durch äußere Bedrohungsszenarien, sondern durch politischen
und sozialen Ausgleich auszeichnet.
Ein wichtiger ziviler Akteur
wären hier z.B. die Agrargenossenschaften, die über eine größere Selbstverwaltung
zu einem gesellschaftlichen Fundament heranwachsen könnten, das sich durch
eine breite Sozialisierung und partizipative Kultur auszeichnet und mit
dem dann jede zukünftige Regierung rechnen müsste (Burchardt 2000). Weiterhin
ist die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften für die Zukunft Kubas strukturdeterminierend.
Solange sie als Transformationsriemen des Systems in Erscheinung treten,
werden sie auch mit diesem diskreditiert werden. Deshalb müssen sie
schon jetzt eine politische Neubestimmung vornehmen, die sie primär zum
Anwalt von Arbeitnehmerinteressen macht.
Das gleiche trifft auf die anderen Massenorganisationen
- die häufig soziale Großgruppen wie Frauen oder Jugendliche präsentieren
– zu. Ihre Funktion erschöpft sich meist in politischer Instruierung,
anstatt auf die Alltagsnöte ihrer Mitglieder einzugehen. Hier müssten
über eine „Zivilisierung“ Angebote aufgefächert und mitgliederfreundlicher
gemacht werden. Noch dringlicher ist der Imperativ der Selbstorganisationen
für die Gruppen, die bis heute über keine Interessensvertretung verfügen.
Dies betrifft besonders die von Marginalisierung bedrohten Schwarzen,
die das erste Ziel einer erneuten Diskriminierung werden könnten.
Eine breite Partizipation über zivile Strukturen könnte
Kubas heterogener werdenden Gesellschaft helfen, ihre Selbststeuerungsfähigkeit
zu sichern. Netzwerke, Initiativen und überlappende Mitgliedschaften würden
tieferliegende soziale Konfliktlinien überbrücken, können politische Krisen
entschärfen helfen, zu einer Mäßigung bei gesellschaftlichen Konflikten
beitragen, würden die Handlungsfähigkeit des Staates im Krisenfalle stabilisieren
und gleichzeitig den bürokratisch-autoritären Regimecharakter abbauen. Aber
die zivile Gesellschaft muss gleichzeitig in starke politische Institutionen
eingebettet werden, denn sie ist nicht zwangsläufig eine zivilisierte
Gesellschaft. Sie kann genauso gut aggressiv, intolerant, reaktionär,
antidemokratisch und im hohen Maße egoistisch sein. Die wünschenswerte
Rückbesinnung auf den Staatsbürger entpuppt sich nicht selten als Apologie
der Marktgesellschaft, wenn sie sich ohne institutionelle Vermittlung
auf die Verteidigung des autonomen und rationalen Individuums beschränkt
(Meschkat 2000). Deshalb sollte in Kuba Zivilgesellschaft nicht ohne Staat
gedacht werden - und umgekehrt.
Die Stoßrichtung all solcher Vorschläge ist klar: es
geht darum, den Grad der Autonomie und Interdependenz der Akteure Staat
- Markt - Gesellschaft neu zu bestimmen. Dies ist nur durch einen starken
Staat und eine starke zivile Gesellschaft möglich. Dabei kann nicht der
schon brüchig gewordene alte Konsens restauriert werden. Es muss eine
Erneuerung stattfinden, in der sich die Nation statt durch Einheit über
Einigung definiert und dies als neues Projekt anvisiert.
Betrachten wir Kuba nicht mit Robert Musils Möglichkeitssinn, sondern
mit der Gewissheit, dass Interessenskonstellationen oft wirkungsmächtiger
sind als Chancen, ist ein anderes Zukunftsszenario wahrscheinlich: die
Attitüden Fidel Castros machen deutlich, dass er bis zu seinem Ableben
an seiner Macht festhalten wird. Mit Blick auf sein hohes Lebensalter
- er feierte 2001 seinen 75. Geburtstag - könnte man provokant formulieren,
das dem aktuellem Regime Kubas somit eine biologische Grenze gesetzt ist. Daran schließt sich direkt die Frage an, wer auf Fidel Castro folgt.
Doch dies ist längst geklärt:
auf Castro folgt Castro! Nämlich der fünf Jahre jüngere Bruder Raúl Castro,
der schon auf dem IV. Kongress der KP Kubas 1997 zum Nachfolger bestimmt
wurde. Raúl Castro wird aber nicht aus Gründen der Erbfolge neuer Staatspräsident,
sondern weil er als Armeechef auf die integerste und bestfunktionierendste
Organisation innerhalb Kubas zurückgreifen kann. Mit einer Machtübergabe
an das Militär soll der Zusammenbruch des Regimes verhindert werden. Allerdings
wird das Militär weder von der eigenen Bevölkerung noch von der internationalen
Gemeinschaft lange als führende Kraft anerkannt werden. Eine Militärregierung
hätte nur Interimscharakter, seine Funktion wäre die Stabilisierung des
Übergangs.
Welche Entwicklungen werden sich dann aus dem politischen
Gemengelage Kubas ergeben? Die meisten Überlegungen wählen dazu als Ausgangspunkt
den „emerging sector“. Es wird ein politisches
Bündnis zwischen der Elite, den Technokraten im Dollarbereich und einem
Teil der traditionellen Bürokratie vermutet, welches heute dem Land ökonomische
Stabilisierung, dem Regime gesellschaftliche Kontrolle und der Nomenklatura
ihre Privilegien garantiert, das aber gleichzeitig zu einer neuen Machtelite
verschmilzt, die morgen als kubanische Bourgeoisie zum Träger eines kapitalistischen
Umbruchs werden könnte (Dilla 2001).
Zwar sind solche Konstellationen noch keine
gefestigten Realitäten, denn politische Allianzen, also „Subsysteme im
System“, sind noch zu risikoreich. Doch es ist davon auszugehen, dass
die Reformgewinnler des Devisensektors bestens organisiert sind und große
Durchsetzungspotentiale besitzen. Sie wären vermutlich rasch in der Lage,
sich zu artikulieren und über Seilschaften schlagkräftig durchzusetzen
sowie mit neuen kapitalkräftigen Investoren im In- und Ausland Allianzen
einzugehen. Andere Akteure müssten
politische Artikulation erst erlernen, sich konstituieren und dann verbünden;
ihre Handlungsfähigkeit würde sich in einem Prozess rascher Veränderungen
eher langsam entwickeln.
Aus diesem Grunde ist in dem
Kuba nach Castro eine weitere Expansion des Devisensektors - der unter
anderem der Elite die Absicherung ihrer Pfründe sichert - sehr wahrscheinlich.
Die neue Legitimationsquelle einer solchen Strategie könnte die Institutionalisierung
einer liberalen Demokratie sein, die noch nicht diskreditiert ist. Mit
Blick auf die Region ist dabei mit dem Erstarken eines Neopopulismus zu
rechnen.
Dieser neue Politiktyp entstand
im letzten Jahrzehnt in Ländern mit einer tiefgreifenden wirtschaftlich-sozialen
Umbruchssituation, die nicht selten eine Erosion des traditionellen politischen
Systems auslöste; wichtige Beispiele sind Argentinien, Peru, Mexiko und
Venezuela. Mit seinem Anti-Institutionalismus und einem hohen Grad an
Personalismus könnte ein Neopopulismus an traditionelle kubanische Politikmuster
anknüpfen, die immer noch greifen. Gegenüber einer völlig apolitisierten
Bevölkerung, die in Bezug auf demokratische Prozedere noch unerfahren
ist, würde ein Neopopulismus auf fruchtbaren Boden fallen; seine personalisierten
und autoritären Politikformen sowie sein Klientelismus bieten dann einen
exzellenten Treibsatz. Und eine Politik, die zumindest im Diskurs sozial
Unterprivilegierte begünstigt, würde einem liberaldemokratischen Regime
anfangs den benötigten breiten Konsens garantieren.
Das politische Bündnis zwischen der Elite, den Technokraten im
Dollarbereich und einem Teil der traditionellen Bürokratie, das
heute dem Land ökonomische Stabilisierung, dem Regime
gesellschaftliche Kontrolle und der Nomenklatura ihre Privilegien
garantiert, verschmilzt zu einer neuen Machtelite, die morgen als
kubanische Bourgeoisie zum Träger eines kapitalistischen Umbruchs
werden könnte
Das Neue am Neopopulismus Lateinamerikas sind aber nicht seine Politikmuster,
sondern seine gesellschaftlichen Allianzen: denn während er sich über
eine populistische Rhetorik wahlpolitisch seine Legitimation bei den sozial
Benachteiligten holt, zieht er ökonomisch ein neoliberales Deregulierungsprojekt
durch, das die Eliten begünstigt und die noch formalisierten Arbeits-
und Sozialbeziehungen abbaut. Umverteilung also aus der Mitte nach oben,
aber auch nach unten (Boris 2001).
Genau diese Konstellation macht
einen liberaldemokratischen Neopopulismus für bestimmte einflussreiche
Kräfte in Kuba attraktiv: denn er legitimiert auf demokratische Weise
den Ausbau des Devisensektors und entmachtet den bürokratischen Apparat,
der Liberalisierungen am feindlichsten gegenübersteht. Darüber wird es
möglich, Privatisierungen, die Demontage von Bürokratien, unrentablen
Binnenbereichen und von Teilen der öffentlichen Dienste durchzusetzen.
Die ökonomische Spaltung würde sich zementieren. Ob dabei neben kurzfristigen
Renditeerwägungen eine wirtschaftspolitische Weitsicht entsteht, die Bildung
und Sozialstandards als Standortvorteil begreift, darf nach dem bisherigen
Reformverlauf bezweifelt werden. Wie stark ein kubanischer Neopopulismus
die ökonomische Spaltung dann auf die Gesellschaft überträgt, hängt allerdings
von zu vielen Komponenten ab, um darauf schon eine präzise Antwort zu
geben.
Bekannt ist aber, dass Populismus
oft mit Nationalismus und Ausgrenzungen arbeitet. Zwar wird jedes zukünftige
Regime in Kuba eine besondere Sensibilität im Umgang mit den USA an den
Tag legen müssen, so dass nur eine graduelle Annäherung beider Länder
zu erwarten ist. Aber als Bedrohungsszenario
taugt der ehemalige Erzfeind in einer Post-Castro-Ära sicherlich nicht
mehr. Dies legt es nahe, neue Feinde im Innern zu stilisieren, die populistisch
verwertet werden können. Mit Blick auf die historischen Entwicklungen
und der aktuellen sozialen Dynamik droht deshalb besonders der schwarzen
Bevölkerung Kubas eine neue rassistische Stigmatisierung.
Klar ist außerdem, dass ein
Neopopulismus den Aufbau intermediärer politischer Institutionen und Organisationen
in Kuba erschweren und somit eine gesellschaftliche Re-Demokratisierung
weiter bremsen würde. Seine fehlende Reformkonsistenz könnte schon bald
die institutionelle Demokratie als Ganzes diskreditieren und zu der gleichen
Politikverdrossenheit führen, die heute viele Transformationsländer auszeichnet.
Die Perspektive auf eine integrale Entwicklung, gesellschaftliche Demokratisierung,
reformistische Politiklösungen und auf einen zivilen und sozialen Transformationscharakter
wäre Kuba weiter verstellt. Der karibische Tiger würde bestenfalls zu
einem gelegentlich knurrenden Bettvorleger...
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*1962; Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler; Privatdozent, Institut für Soziologie, Universität Hannover; HJ.Burchardt@t-online.de |