Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 2/2003

 

 



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Eine europäische Perspektive für Israel:
Schlüssel zur Lösung des Nahostkonflikts

Winfried Veit* 

Eine langfristig angelegte, aber gleichwohl flexible EU-Nahoststrategie sollte Israel fest an Europa binden - evtl. bis hin zur EU-Mitgliedschaft. Dies würde einen dauerhaften Frieden in Palästina begünstigen. Im Rahmen eines revidierten "Barcelona-Prozesses" sollte die EU gleichzeitig die politische und ökonomische Entwicklung in Israels Nachbarländern voranbringen helfen.

 

 

Die Europäische Union steht in den nächsten Jahren vor zwei zentralen Herausforderungen: der Erweiterung um bis zu dreizehn neue Mitgliedsstaaten und der Reform (Vertiefung) ihrer Institutionen, die vom Europäischen Konvent erarbeitet werden soll. Zu den dringendsten Reformen wird gerade auch angesichts neuer globaler Herausforderungen im Gefolge des 11. September 2001 eine institutionelle und politische Neugewichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gehören. In diesem Zusammenhang spielen der Nahe Osten und der Mittelmeerraum nach dem Balkan zweifellos die wichtigste Rolle in einer zukünftigen gemeinsamen EU-Außenpolitik.

Dabei haben sich die Rahmenbedingungen für eine wirksame EU-Nahostpolitik seit dem Wiederaufbrechen des blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern und den damit einher gehenden verschärften Spannungen in der Region insgesamt verschlechtert. Gleichzeitig bedeutet dies für die EU aber eine verstärkte Herausforderung, von der bisher überwiegend betriebenen Reaktion auf aktuelle Krisen zu einer zukunftsorientierten Strategie zu gelangen, die kurzfristige Maßnahmen der Krisenintervention mit einer langfristigen Perspektive der Konfliktlösung verbindet. Dabei muss den regionalen Gegebenheiten, vor allem aber den grundlegenden Interessen Europas Rechnung getragen werden: Bekämpfung und Verhinderung des islamistischen Terrors; Eindämmung des Strebens nach Massenvernichtungswaffen und ballistischen Raketen in der Region; Verhinderung unkontrollierter Flüchtlingsströme und der Ausbreitung von Drogen; garantierte Energieversorgung; nachhaltiger Umgang mit Umwelt und Ressourcen; und Einhaltung von Menschenrechten, Pluralismus und Demokratie.

Der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Arabern hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass alle Staaten der Region Fragen der Sicherheit über wirtschaftliche Notwendigkeiten und dringend erforderliche gesellschaftliche und politische Reformen stellen. Insofern ist er mit verantwortlich für den im Vergleich zu anderen Weltregionen geringen Stand der regionalen Kooperation und tangiert damit auch das Bemühen der EU, im Rahmen des Barcelona-Prozesses zu einer regionalen Verflechtung beizutragen. Der neuerliche Ausbruch der Gewalt in der sogenannten zweiten Intifada, die trotz des israelischen Rückzugs aus dem Süd-Libanon weiter anhaltende Spannung an der Grenze zwischen beiden Ländern und die zunehmende Gefahr einer kriegerischen Eskalation in der gesamten Region, auch vor dem Hintergrund der Aufrüstungsbemühungen des Irak und des Iran, sollten die EU zu einem Überdenken ihres konventionellen Ansatzes der Konfliktverhinderung durch das Angebot regionaler Kooperation bewegen, das faktisch nur in geringfügigem Ausmaß und hauptsächlich wegen der damit verbundenen Finanzhilfen in Anspruch genommen wird.

Dabei geht es vor allem darum, trotz der widrigen Umstände die Vision eines friedlichen und stabilen Nahen Ostens aufrecht zu erhalten. Europa ist dazu in besonderem Maße geeignet, auch wenn es im Vergleich zu den USA nicht  über die gleichen Einflussmöglichkeiten verfügt; denn es verfolgt auch nicht vorwiegend machtpolitische Interessen in der Region.

Die EU ist mittlerweile durch ein dichtes Netz von Hilfeleistungen, Assoziierungsabkommen, politischen Dialogmechanismen und nicht zuletzt durch den Barcelona-Prozess mit dem gesamten südlichen Mittelmeerraum verbunden.  Dennoch ist ihr Einfluss – gemessen an diesen Fakten und Strukturen – auf den Nahostkonflikt und die Konfliktparteien alles andere als zufrieden stellend. Dies liegt vor allem an den nach wie vor divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten, der damit zusammenhängenden Unfähigkeit zur Formulierung und Durchsetzung weitreichender Ziele und der unklaren Arbeitsteilung mit den Vereinigten Staaten im Nahostkonflikt. Die Vision eines friedlichen und stabilen Nahen Ostens kann eben nicht nur in Ratsdeklarationen und Sonntagsreden beschworen werden, so sehr Europa dafür ein hervorragendes Beispiel bietet; sie muss untermauert werden durch kühne Zukunftsentwürfe und konkrete Handlungsvorschläge.

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Der neuerliche Ausbruch der Gewalt und die zunehmende Gefahr einer kriegerischen Eskalation in der gesamten Region sollten die EU zu einem Überdenken ihres konventionellen Ansatzes der Konfliktverhinderung durch das Angebot regionaler Kooperation bewegen, das faktisch nur in geringfügigem Ausmaß und hauptsächlich wegen der damit verbundenen Finanzhilfen in Anspruch genommen wird.
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Europa in Gestalt der Europäischen Union kann aber allein schon deswegen eine glaubwürdige Rolle im Nahostkonflikt spielen, weil es aufgrund seiner Geschichte und seiner derzeitigen institutionellen Verfassung geradezu ein Musterbeispiel für friedliche Konfliktlösung und Friedensaufbau ist. Die – durchaus langwierige – Geschichte der europäischen Integration nach dem zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass Frieden und Versöhnung auch zwischen jahrhundertealten sogenannten Erbfeinden möglich ist.

Natürlich ist klar, dass der Nahe Osten von einem solchen – in nahöstlichen Augen geradezu paradiesischen – Zustand weit entfernt ist. Auch versteht es sich von selbst, dass Europa nicht eine Blaupause für andere Weltregionen sein kann und will. Worum es – gerade im Hinblick auf die Nahostregion – geht, ist das Aufzeigen von Wegen aus einer unlösbar scheinenden Situation.

Aber auch durchaus praktische Anregungen könnten sich aus der Beschäftigung mit der europäischen Entwicklung ergeben: so, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung mit der bescheidenen Kooperation in der Montanindustrie begann, könnte im Nahen Osten die Zusammenarbeit bei der Wasser- und Energieversorgung, dem Umweltschutz und im Tourismus starten. Es ist zu empfehlen, verstärkt fachliche Informationsprogramme in diesen Bereichen für Teilnehmer aus dem Nahen Osten zu organisieren, bei denen auch die historische Dimension der europäischen Einigung Beachtung findet. Erfahrungen mit Programmen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit an verschiedenen europäischen Beispielen mit Teilnehmern aus Israel, den palästinensischen Gebieten, Jordanien und Ägypten haben gezeigt, dass selbst unter den derzeit schwierigen Bedingungen solche Programme möglich sind, wenn sie nicht mit einem politischen Anspruch befrachtet werden. Auf den bescheidensten Nenner gebracht: auch ohne eine kohärente gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stellt die EU durch ihre bloße Existenz in ihrer gegenwärtigen Verfassung bereits einen Faktor bei der Lösung des Nahostkonflikts dar. Allerdings hängt dies in Zukunft verstärkt von ihrer Fähigkeit ab, in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten zu klaren Beschlüssen zu gelangen.

Die Grundlagen für eine wirksame EU-Nahostpolitik stärken

Eine vernünftige Arbeitsteilung mit den USA

Die zunehmenden Irritationen zwischen Amerika und Europa wirken sich auch auf den Nahen Osten aus bzw. haben ihren Ursprung zum Teil auch in den unterschiedlichen Einschätzungen der dortigen Lage. Der Hauptwiderspruch, der sich in Bezug auf den Nahen Osten besonders bemerkbar macht, liegt in den Worten des amerikanischen Politologen Robert Kagan darin, dass “Europas Ablehnung von Machtpolitik letztlich vom Willen Amerikas abhängt, weltweit Gewalt gegen jene anzuwenden, die immer noch an Machtpolitik glauben”. Jedenfalls gibt es im Hinblick auf den Nahen Osten grundlegende Unterschiede in der Einschätzung der dortigen Lage. Diese Unterschiede äußern sich sowohl im Inneren der jeweiligen Gesellschaften als auch in der außenpolitischen Zielsetzung.

Wie kann unter solchen Umständen eine vernünftige Arbeitsteilung im Hinblick auf den Nahostkonflikt zustande kommen? Zunächst einmal gibt es eine durchaus gute Ausgangsposition für eine solche Arbeitsteilung, wenn man die vorhandenen Asymmetrien in sinnvoller Weise kombinieren würde: arabisch-palästinensisches Vertrauen in Europa, israelisches Vertrauen in Amerika einerseits, und militärische Stärke der USA, wirtschaftliche Präsenz der EU andererseits. Diese Kombination könnte vor allem bei einer in Zukunft zu erwartenden internationalen Intervention im Nahostkonflikt zum Tragen kommen. Sie setzt natürlich voraus, dass es eine Verständigung beider Seiten über Ziele und Mittel einer solchen Intervention gibt. Davon ist man zur Zeit weit entfernt, auch wenn man sich im allergrundsätzlichsten – einer Zwei-Staaten-Lösung für den Konflikt – einig ist.

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Schließlich liegt ein nicht zu unterschätzendes Element europäischer Einflussnahme in der Tatsache, dass amerikanische Vermittlungsvorschläge nur dann Aussicht auf Akzeptanz durch die arabisch-palästinensische Seite haben, wenn Europa voll und ganz dahinter steht.
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Empfehlenswert scheint es deshalb, unmittelbar einen gezielten Dialog auf unterschiedlichen Ebenen über eine praktikable Arbeitsteilung zwischen Amerika und Europa zu beginnen, der sich nicht damit begnügt, die zahlreich vorliegenden Friedenspläne in ihrer zwangsläufigen Allgemeinheit zu erörtern sondern Handlungsanleitungen für ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten. Dabei sollten sich die Europäer vom Unilateralismus der gegenwärtigen amerikanischen Regierung nicht entmutigen lassen und den Dialog sowohl auf höchster Ebene (Außenminister, Sicherheitsberater) wie auf der Ebene von Diplomaten, think tanks usw. zu suchen führen. Wichtig erscheint auch angesichts der oben beschriebenen Dissonanzen der zwischengesellschaftliche Dialog, insbesondere auch – von europäischer Seite – mit jüdisch-amerikanischen Organisationen, bei denen sich angesichts der Vorgänge im Nahen Osten und in Europa eine dramatische Verhärtung der Positionen feststellen lässt.

Der Dialog müsste aus psychologisch-taktischen Gründen vor allem auch auf amerikanische Interessen abzielen, nicht nur, was die finanzielle Belastung einer möglichen Konfliktlösung anbelangt (“Marshall-Plan für den Nahen Osten”) sondern auch im Hinblick auf die langfristig notwendige Abstützung eines dauerhaften Friedens. Die Balkan-Region, wo die Europäer mehr und mehr Verantwortung übernehmen müssen, könnte dafür ein lehrreiches Beispiel sein. Schließlich liegt ein nicht zu unterschätzendes Element europäischer Einflussnahme in der Tatsache, dass amerikanische Vermittlungsvorschläge nur dann Aussicht auf Akzeptanz durch die arabisch-palästinensische Seite haben, wenn Europa voll und ganz dahinter steht.

Umorientierung des Barcelona-Prozesses

1995 wurde in der spanischen Hafenstadt Barcelona der Grundstein für die “Euro-Mediterrane Partnerschaft” (EMP) gelegt.  Die EMP orientiert sich an dem erfolgreichen KSZE-Prozess zwischen Ost und West und versucht analog dazu die Beziehungen der EU zu den 12 Partnerstaaten am südlichen und östlichen Mittelmeer in drei Bereichen (“Körben”) zu bündeln:

  • politische und Sicherheitsfragen
  • wirtschaftliche Beziehungen
  • zwischengesellschaftliche Beziehungen und Menschenrechte

Lediglich im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen konnte man mit dem Abschluss mehrerer Assoziierungsabkommen relative Erfolge erzielen. Insgesamt war der Barcelona-Prozeß weniger in der Schaffung einer nahöstlichen regionalen Dynamik als in der Etablierung bilateraler (Wirtschafts-) Beziehungen zwischen der EU und den Mittelmeeranrainern erfolgreich.

Das heißt aber nicht, dass Barcelona ein vollständiger Misserfolg war und deshalb zu den Akten gelegt werden sollte. Vielmehr sollte aus den Erfahrungen der letzten sieben Jahre der Schluss gezogen werden, jene Elemente zu stärken, bei denen Aussicht auf Erfolg besteht und nicht auf der Verfolgung von Initiativen und der Aufrechterhaltung von Strukturen zu beharren, die nachweislich keinen großen Nutzen bringen. Dies bezieht sich vor allem auf die offensichtlich von der Mehrzahl der Partnerstaaten nur zögerlich und eher deklamatorisch akzeptierte regionale Zusammenarbeit, für die die Voraussetzungen aufgrund des in der Region besonders ausgeprägten Souveränitätsstrebens, der zahlreichen inneren wie zwischenstaatlichen Konflikte und der geringen komparativen Vorteile nur in Ansätzen gegeben ist. Statt künstliche Strukturen schaffen zu wollen, die ein Fremdkörper bleiben und lediglich Geld verschlingen, sollte ein pragmatischer Ansatz der kleinen Schritte gewählt werden, wie dies auch in der Geschichte der europäischen Einigung der Fall war. Wirkliche regionale Zusammenarbeit wird nur nach einer Lösung des Nahostkonflikts möglich sein.

Unter solchen Bedingungen erscheint es sinnvoller, spezifisch auf kooperationswillige Partner gerade auch im nicht-politischen Bereich zugeschnittene Programme anzubieten, die nicht den Anspruch erheben, das gesamte Barcelona-Spektrum einzuschließen. Für solche Programme zwischen einzelnen Staaten, gesellschaftlichen Gruppen oder professionellen Vereinigungen bietet die EU eine hervorragende Plattform, weil sie eben durch ihr bisheriges Bemühen im Barcelona-Prozess gezeigt hat, dass sie es – vielleicht als einzige – mit den regionalen Kooperationsbemühungen Ernst meint. Auch ist eine Schwerpunktverlagerung auf sub-regionale Gruppierungen denkbar, die dann in Form konzentrischer Kreise die Grundlage für eine langfristige gesamt-regionale Zusammenarbeit darstellen könnten. Insgesamt gilt für die regionale Zusammenarbeit das gleiche wie – wenngleich unter wesentlich dramatischeren Umständen – für die Lösung des Nahostkonflikts: nur wenn die beteiligten Parteien ein wirkliches Interesse haben, wird dies zum Erfolg führen. Die EU sollte sich deshalb auch nicht scheuen, die Illusion eines uniformen Nahen Ostens aufzugeben und jene Staaten und Kräfte besonders zu fördern, die Fortschritte in Richtung Frieden, Demokratie und Menschenrechte machen.

Klare Bedingungen für die Konfliktparteien

Wenn die EU im Nahost-Konflikt nicht nur Ernst genommen werden sondern auch eine wichtige Rolle spielen möchte, dann muss sie sich als erstes auf  klare, unmissverständliche Bedingungen an die Konfliktparteien (einschließlich Syrien und Libanon) verständigen. Diese Bedingungen müssen aber nicht nur klar formuliert sein und dürfen keinen Spielraum für Interpretationen lassen, sie müssen auch realistisch sein und – im Falle ihrer Nichterfüllung – unnachgiebige Konsequenzen nach sich ziehen. Die Konfliktparteien müssen wissen, was sie erwartet und dass die Europäer es Ernst meinen.

Was aber sind die Einwirkungsmöglichkeiten der EU auf die Konfliktparteien, um diese zu einer friedlichen Lösung zu bewegen, wie sie der Europäische Rat in seinen unterschiedlichen Deklarationen skizziert hat und die im wesentlichen – wie alle verhandlungsfähigen Vorschläge – auf den wichtigsten UN-Resolutionen zu dieser Frage (insbesondere 242 und 383 ) basiert ?

Zunächst einmal kann die EU über ihren Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik Einfluss auf die diplomatischen Verhandlungen und Vermittlungen, vor allem im Rahmen des sogenannten “Quartetts”, nehmen, wie dies bisher schon ansatzweise geschehen ist. Darüber hinaus kann sie – eine einheitliche Position vorausgesetzt – über ihre Mitgliedsstaaten das Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung und – wichtiger noch – im Sicherheitsrat zugunsten der einen oder der anderen Seite mitbestimmen. Gewichtiger und druckvoller sind aber jene Möglichkeiten, die sich aus vertraglichen Vereinbarungen, finanziellen Hilfen und der Anwendung internationaler Rechtsnormen ergeben. Dazu gehören unter anderem:

  • die in den Assoziierungsabkommen mit Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sowie in den Verhandlungen mit Syrien und Libanon festgelegten bzw. verhandelten Klauseln und Bestimmungen insbesondere hinsichtlich der Friedenspolitik, der Demokratisierung und der Einhaltung der Menschenrechte;
  • die Teilnahme Israels als einziger nicht-europäischer Staat am EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramm;

  • die sich aus der großen finanziellen Abhängigkeit der PA von EU-Mitteln, insbesondere der seit November 2000 geleisteten monatlichen Budgethilfe in Höhe von 10 Mio. Euro, ergebenden Einflussmöglichkeiten;

  • die im Einklang mit internationalem Recht und im Verein mit den USA bestehende Möglichkeit, terroristische Organisationen wie Hamas, Hisbollah und andere zu bekämpfen und gegen die sie beherbergenden und/oder unterstützenden Staaten (Syrien, Libanon) vorzugehen.

Die Palette der Möglichkeiten ist hier nur angedeutet; ihre Ausgestaltung und Anwendung sollte in folgenden Schritten erfolgen:

  • Schaffung einer einheitlichen Position der Mitgliedsstaaten über die Frage, welche Bedingungen gestellt bzw. welche Sanktionsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden sollten;
  • Ausarbeitung eines zeitlich und inhaltlich abgestimmten, detaillierten Programms der “konditionierten Zusammenarbeit” und der bei Nichterfüllung vorgesehenen Sanktionen;

  • Vertrauliche Gespräche einer hochrangigen EU-Delegation unter Leitung des Hohen Beauftragten mit den Konfliktparteien, um mit allem Nachdruck auf die Ernsthaftigkeit des EU-Programms hinzuweisen und den Parteien die Möglichkeit und den zeitlichen Rahmen zu geben, entsprechend reagieren zu können;
  • Offizielle Übermittlung des Forderungskatalogs an die Konfliktparteien und unmittelbare Umsetzung der darin vorgesehenen Schritte.
Eine Gesamtstrategie der EU im Nahost-Konflikt kann sich natürlich nicht auf solch einen  quasi summarischen “Negativkatalog” beschränken; sie muss einher gehen mit dem Willen zu weiter gehender “Einmischung” und der Schaffung positiver Anreize.

Für eine internationale Intervention

Die blutige Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern hat den Ruf nach einer internationalen (auch “robusten” militärischen) Intervention immer lauter werden lassen – nicht zuletzt auch in Israel selbst, das bisher eine solche Intervention strikt ablehnte. Der bisherige Verlauf des Konflikts hat deutlich gemacht, dass ohne massive Einmischung von außen auf absehbare Zeit kein Frieden einkehren wird, vom Erreichen einer dauerhaften Lösung ganz zu schweigen. So ist die eine oder andere Form internationaler Intervention Bestandteil fast aller vorliegenden Friedenspläne und immer mehr Experten innerhalb und außerhalb der Nahost-Region sind damit beschäftigt, entsprechende internationale Erfahrungen auszuwerten und “Blaupausen” für den “Fall Nahost” auszuarbeiten. Neben zeitgenössischen Erfahrungen wie Balkan und Ost-Timor bietet gerade auch die historische Entwicklung der Nahost-Region selbst einen Ansatzpunkt, denn schließlich verdanken die meisten Staaten der Region ihre Existenz in den gegenwärtigen Grenzen “internationaler Einmischung”: die siegreichen Westmächte zogen nach dem ersten Weltkrieg die Grenzen in Nahost und schufen auch die Grundlage für eine “jüdische Heimstätte”; nach dem zweiten Weltkrieg waren es die Vereinten Nationen, die mit ihrem Teilungsbeschluss einen jüdischen und einen arabisch-palästinensischen Staat im britischen Mandatsgebiet Palästina ermöglichen wollten. Die seitherige Entwicklung bestimmt die Haltung der Konfliktparteien zu einer möglichen internationalen Intervention: Während die Palästinenser (und ihre arabischen Verbündeten) 1947/48 den UN-Teilungsbeschluss ablehnten, berufen sie sich heute auf die entsprechenden UN-Resolutionen und fordern die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen auf, um diese in die Tat umzusetzen. Umgekehrt verdankt Israel seine Existenz der internationalen Völkergemeinschaft, sah sich in der Folge jedoch durch die zahlreichen UN-Beschlüsse, die es als Belohnung für die arabischen Agressionsversuche ansah, benachteiligt.

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Die Glaubwürdigkeit der EU bei den Konfliktparteien steht und fällt mit
ihrer Bereitschaft, sich auch mit robusten Militäreinsätzen zu beteiligen.
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Die Haltung beider Konfliktparteien ist natürlich mit entscheidend für den Erfolg einer internationalen Intervention und hier unterscheiden sich beide Seiten grundlegend, insbesondere auch was die Beteiligung Europas anbelangt.

Die Palästinenser befürworten eine Einmischung von außen, weil sie sich davon das Ende der israelischen Besatzung, die Räumung der jüdischen Siedlungen und die Schaffung der Grundlagen eines eigenen Staates in den Grenzen von 1967 gemäß der einschlägigen UN-Resolutionen erwarten. Kurzfristig erhoffen sie sich davon Schutz vor der israelischen “Agression” und – zumindest in demokratischen Kreisen – die Garantierung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Aufbaus ihres zukünftigen Staates. Für die Palästinenser wäre eine UN-geführte Schutztruppe unter massiver Beteiligung der Europäer die Ideallösung.

Israel lehnt bis heute ein internationales Eingreifen in den Konflikt strikt ab und beruft sich dabei auf schlechte Erfahrungen wie Libanon (in den achtziger Jahren), Somalia (neunziger Jahre) und Bosnien (Srebrenica). Insbesondere ein UN-Mandat kommt für Israel nicht in Frage, vor allem weil die UNIFIL-Schutztruppe im Süd-Libanon in israelischen Augen versagt hat und bis heute keine wirksamen Maßnahmen gegen die Provokationen der fundamentalistischen Hisbollah an Israels Nordgrenze ergreift. Dazu kommen die zahlreichen Verurteilungen Israels in verschiedenen UN-Gremien, die man als einseitig ansieht. Dennoch befasst man sich in Sicherheitskreisen und think tanks zunehmend mit der Möglichkeit einer internationalen Intervention, wobei aus israelischer Sicht lediglich eine US-geführte Aktion in Frage käme, bei der die Europäer wegen ihrer vermeintlich pro-palästinensischen Haltung nur eine nachgeordnete Rolle spielen sollten.

Unter diesen Prämissen ist vorläufig eine Rolle der EU im Falle einer internationalen Intervention nur schwer zu erkennen. Doch steht und fällt ihre Glaubwürdigkeit bei den Konfliktparteien mit ihrer Bereitschaft, sich auch mit robusten Militäreinsätzen zu beteiligen und für einen solchen Fall vorbereitet zu sein. Dazu gehört in erster Linie der eindeutige politische Wille, sich an einer Konfliktlösung im Nahen Osten auch unter schwierigen Bedingungen und mit allen Konsequenzen zu beteiligen, und nicht zuletzt die möglichst rasche Bereitstellung entsprechender militärischer Mittel in Form der geplanten schnellen Eingreiftruppe. Nur dann kann überhaupt erwartet werden, dass Konfliktparteien wie Verbündete die EU als ernst zu nehmenden Akteur akzeptieren. Dabei sollte weder das derzeitige israelische Misstrauen noch die manchmal allzu große palästinensische Erwartungshaltung überbewertet werden; lediglich was eine deutsche Beteiligung anbelangt, wird Rücksicht auf das historisch belastete deutsch-israelische Verhältnis genommen werden müssen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die EU unter einem UN-Mandat, einer US-geführten Aktion oder im Verein mit dem “Quartett” beteiligen würde.

Für den Fall, dass die EU für einen Einsatz im Nahen Osten bereit und vorbereitet ist, gibt es verschiedene Optionen:

  • Bereitstellung unbewaffneter Beobachter zur Flankierung militärischer Maßnahmen durch andere (US-) Truppen, um zunächst einen Waffenstillstand als Voraussetzung für Friedensverhandlungen herbeizuführen; informell agiert bereits eine kleine Truppe von EU-Beobachtern in Teilen der Westbank und die EU hat sich an der Lösung der “Geburtskirchen-Frage” in Bethlehem maßgeblich beteiligt;
  • Einsatz bewaffneter Streitkräfte in zu schaffenden Pufferzonen zwischen den Konfliktparteien; dies könnte auch für die Grenze Israels zum Libanon gelten, um die dortige angespannte Lage zu entschärfen;
  • Aufbau einer (demokratischen) Übergangsverwaltung in den palästinensischen Gebieten, verbunden mit einem “robusten” Militäreinsatz nach dem Muster des Kosovo; in diesem Fall müsste allerdings (im Unterschied zum Kosovo) der angestrebte Endstatus (Zwei-Staaten-Lösung) klar definiert sein, weil sonst die internationale Schutztruppe leicht in das Feuer beider Konfliktparteien geraten könnte.

Ein solch massiver (Militär-) Einsatz außerhalb Europas wäre ein Novum in der Geschichte der EU. Doch handelt es sich beim Nahen Osten nicht um irgendeine Krisenregion der Welt sondern um diejenige, die Europas Grenzen am nächsten liegt und deren fortwährende Instabilität die in den nächsten Jahren erforderliche Konzentration auf die Probleme von Erweiterung und Vertiefung empfindlich stören könnte.

 

Kühne Visionen für eine Konfliktlösung ins Auge fassen

Die Ereignisse seit dem Ausbruch der zweiten “Intifada” im September 2000, die – im Gegensatz zur ersten “Intifada” – schon längst zum Kleinkrieg geworden ist, haben zweierlei deutlich gemacht:

  • Die Israelis fühlen sich wieder massiv in ihrer staatlichen und sogar physischen Existenz bedroht, nachdem in den sieben Jahren des Oslo-Friedensprozesses ihre Akzeptanz im Nahen Osten – wenn schon nicht die Integration – möglich erschien.
  • Die Araber/Palästinenser wiederum sehen sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass Israel im Grunde nicht ernsthaft den Gedanken an ein Groß-Israel zwischen Jordan und Mittelmeer aufgegeben hat.

Auch wenn diese beiden Sichtweisen vorerst “nur” als Ausfluss mentaler Befindlichkeiten aufgrund der verzweifelten Lage auf beiden Seiten – mörderische Selbstmordanschläge gegen die Zivilbevölkerung hier, Besatzung und militärische Attacken dort – angesehen werden können, so drohen sie doch sich zu verfestigen und zum Grundkonsens der jeweiligen Lager zu werden. Je länger der blutige Konflikt andauert, desto mehr werden diese Sichtweisen sich zu politischen Handlungsmaximen entwickeln. Und man kann jetzt schon sagen, dass der niemals so richtig überwundene Graben zwischen beiden Lagern sich zu einer tiefen Kluft verbreitert hat – mit möglicherweise irreparablen Folgen.

„Neuer Naher Osten“ oder „altes Europa“?

Eine internationale Intervention – so massiv sie auch sein mag – hat nur dann Aussicht auf dauerhaften Erfolg, wenn sie mit einer langfristigen Zukunftsperspektive verbunden ist. Das zeigen im (hoffentlich) positiven Sinne das Beispiel Balkan und im (vermutlich) negativen Sinne das Beispiel Afghanistan. Im ersten Fall ist es die Aussicht, irgendwann zur europäischen Völkergemeinschaft zu gehören, die zu – meist zähneknirschenden – Zugeständnissen in Fragen der Minderheiten- und Menschenrechte, des politischen Pluralismus und der wirtschaftlichen Öffnung führt; im zweiten Fall droht die Gefahr eines Rückfalls in die alten Grabenkämpfe, weil nach der Befreiung vom Taliban-Regime die Amerikaner sich anderen Schauplätzen zugewandt haben und die Europäer mit einer dauerhaften Präsenz überfordert sind.

Auch für den Nahen Osten gilt, dass eine internationale Intervention nur dann auf Dauer erfolgreich sein kann, wenn sie den Konfliktparteien Anreize für eine gesicherte Zukunft bieten kann. Im Falle der Palästinenser ist dieses Ziel relativ einfach zu definieren: für die Mehrheit unter ihnen wäre es die Erfüllung ihres nationalen Traums, wenn sie einen territorial homogenen und demokratisch legitimierten unabhängigen Staat erhielten, der freilich auf längere Sicht der kräftigen finanziellen Unterstützung von außen bedürfte. Im Falle Israels verhält es sich komplizierter: den Staat gibt es zwar und er ist auch militärisch auf unabsehbare Zeit nicht zu gefährden, doch fühlen sich die Israelis – paradoxerweise im Unterschied zu den derzeit noch “staatslosen” Palästinensern – als Volk auf Dauer nicht in ihrer Existenz gesichert. Das hat zum einen mit der jahrhundertealten Erfahrung von Verfolgung und – im Holocaust kulminierenden – Ermordung zu tun, vor allem aber mit der Tatsache, dass sie bis heute ein von ihren Nachbarn nicht wirklich akzeptierter “Fremdkörper” im Nahen Osten geblieben sind. Die sieben relativ friedlichen Jahre zwischen dem Oslo-Abkommen (1993) und dem Ausbruch der zweiten Intifada (2000) haben diese Realität nur zeitweise übertüncht; mit der erneuten Eruption brutaler Gewalt sind die Visionen von einem “neuen Nahen Osten”, in dem Israel die Rolle einer Wirtschaftslokomotive für seine Nachbarn spielen würde, für unabsehbare Zeit in das Reich der Wunschträume verbannt.

Möglicherweise waren dies schon immer Wunschträume, denn  zum Konflikt um das Land kommt eine völlig unterschiedliche sozio-ökonomische Entwicklung in Israel und in seinen arabischen Nachbarstaaten hinzu, die den jüdischen Staat als „strukturellen Fremdkörper“ in der Region erscheinen lässt. Israel ist trotz der konfliktbedingten Wirtschaftskrise der letzten beiden Jahre ein Industrieland mit einem hochentwickelten High-Tech-Sektor, dessen Pro-Kopf-Einkommen (15 000 US-Dollar) um ein Mehrfaches über dem seiner arabischen Nachbarn liegt (zwischen 3 500 in Syrien und 4 300 im Libanon); zudem ist es – bei allerdings zunehmenden Defiziten – eine funktionierende Demokratie mit einem pluralistischen politischen System, einer freien Presse und einer blühenden Zivilgesellschaft. Die Entwicklung in der arabischen Welt ging währenddessen in eine andere Richtung, wie ein im Herbst 2002 veröffentlichter Bericht eines arabischen Wissenschaftlerteams im Rahmen des „UN Human Development Report“ bestätigte. Danach schneidet die arabische Welt im Vergleich mit den meisten anderen Weltregionen schlecht ab:

  • Im allgemeinen Vergleich des „Human Development Index“ liegen die arabischen Länder lediglich vor Schwarzafrika und Südasien, aber hinter Ostasien und Lateinamerika.

  • Unter sieben Weltregionen liegen die arabischen Staaten bei der Bemessung des „Freiheitsgrades“ an letzter Stelle; „die Demokratisierungswelle in Lateinamerika und Ostasien in den achtziger Jahren und in Osteuropa und Zentralasien in den neunziger Jahren hat die arabischen Staaten kaum erreicht“.
  • In den letzten zwanzig Jahren wuchs das Bruttosozialprodukt im Schnitt jährlich nur um 0,5 Prozent, nur in Schwarzafrika sah es noch schlechter aus.

  • Die Analphabetenrate ist mit 38,7 Prozent höher als in Schwarzafrika, die Kindersterblichkeit erschreckend hoch, die Beteiligung von Frauen in Politik und Wirtschaft so niedrig wie wiederum nur in Schwarzafrika.
  • Die Investitionen in Forschung und Entwicklung liegen mit 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts weit unter dem Weltdurchschnitt.

Unter diesen Umständen ist eine wirkliche Integration in das geographische Umfeld – selbst wenn sie politisch möglich wäre – nur in ferner Zukunft denkbar. Auch bei einer politischen Konfliktlösung wäre Widerstand von arabischer Seite dagegen zu erwarten, wie sich auf den großen Nahost-Wirtschaftskonferenzen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zeigte: neben der militärischen Dominanz fürchten die arabischen Staaten – nach einem Friedensschluss – die ökonomische Dominanz Israels in der Region. Ohne gänzlich auf das Fernziel einer wie immer gearteten Einbindung in den Nahen Osten zu verzichten, muss Israel deshalb für die nächsten Jahrzehnte – unabhängig vom aktuellen Konflikt mit den Palästinensern – die Anbindung an einen der großen Blöcke suchen, will es nicht völlig in eine gefährliche Isolierung geraten. In Frage kommen dafür naturgemäß nur zwei: die USA und Europa. Mit den USA verbindet den jüdischen Staat das nach dem 11. September 2001 noch einmal gewachsene gemeinsame Sicherheitsinteresse, eine gewisse Fixierung auf den amerikanischen “way of life” und eine starke jüdische Diaspora, die größer ist als die Zahl der in Israel lebenden Juden. Vor allem in der gegenwärtigen Konfliktsituation kommt der Sicherheitsfrage und den engen Rüstungsbeziehungen zwischen beiden Ländern erhöhte Bedeutung zu und das erklärt, warum – neben dem größeren “Verständnis” der USA für die Lage Israels – die amerikanische Option für lange Zeit unverzichtbar bleiben wird. Andererseits ist Amerika weit entfernt und ein “amerikanischer Block” konzentriert sich auf die westliche Hemisphäre, insbesondere Kanada und Mexiko; das Interesse am Nahen Osten hat in erster Linie mit Öl zu tun und bei Erschließung anderer – geographischer oder alternativer – Quellen könnte dieses Interesse langfristig zurück gehen.

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Mit den USA verbindet den jüdischen Staat das nach dem 11. September 2001 noch einmal gewachsene gemeinsame Sicherheitsinteresse, eine gewisse Fixierung auf den amerikanischen “way of life” und eine starke jüdische Diaspora, die größer ist als die Zahl der in Israel lebenden Juden.
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So schließt die amerikanische Option eine europäische Perspektive für Israel keineswegs aus, ganz im Gegenteil: beides ist nicht nur vereinbar, sondern kann sich für einen längeren Zeitraum sinnvoll ergänzen, bis eine endgültige Entscheidung auf der Tagesordnung steht. Bis dahin aber sollten die Europäer im Dialog mit Israel eine solche Perspektive ausarbeiten, die um eine deutliche Zielvorgabe – was den letztendlichen Standort des jüdischen Staates im Kontext der sich erweiternden Union und ihrer Außenbeziehungen anbelangt – nicht herum kommen wird. Dies ist im wohlverstandenen Eigeninteresse Europas, denn ganz zweifellos liegt der Schlüssel zur Lösung des die europäischen Interessen massiv tangierenden Nahostkonflikts zum größten Teil in Jerusalem. Es geht schlicht darum, den Israelis die Angst vor ihrer Zukunft in einer überwiegend feindlich gesinnten Umwelt zu nehmen und sie zu befähigen, aus einer Position der Stärke heraus diejenigen Zugeständnisse an die Palästinenser (und Syrer) zu machen, die für eine Konfliktlösung unabdingbar sind. Unter Ministerpräsident Ehud Barak war man im Jahre 2000 in beiden Fällen nahe an einer Lösung, und die entsprechenden Blaupausen liegen, beruhend auf den Vorschlägen der Camp-David-Verhandlungen 2000 und der Taba-Verhandlungen 2001 nach wie vor auf dem Tisch: ein palästinensischer Staat in Gaza und auf 95 Prozent der Westbank mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, verbunden mit einem Gebietsaustausch zwischen drei großen jüdischen Siedlungsblöcken entlang der “Grünen Linie” und israelischem Staatsgebiet im Negev sowie der Räumung aller restlichen jüdischen Siedlungen. Was sich seit dem Ausbruch der zweiten Intifada geändert hat, ist vor allem der große Vertrauensverlust, der sich insbesondere auf der israelischen Seite zum größten Hemmschuh für eine Friedensvereinbarung zu entwickeln droht (das gilt natürlich umgekehrt auch für die Palästinenser und eine europäische Strategie muss auch darauf abzielen, ihnen die Vorteile eines “saturierten”, weil sich sicher fühlenden Israel auf zu zeigen).

Eine europäische Perspektive für Israel

In dieser Situation ist Europa in Gestalt der Europäischen Union gefragt – und die Voraussetzungen sind bei aller Schwäche der internationalen Handlungskraft der EU nicht ganz so schlecht, wie es sich manchmal in geradezu hämischen Kommentaren der israelischen Medien ausnimmt. Denn die europäische Perspektive für Israel existiert bereits – und zwar in größerem Maße, als beiden Seiten oftmals bewusst ist:

  • Die EU ist mit einem Anteil von 40 Prozent Israels größter Wirtschaftspartner.
  • Neben dem 1995 abgeschlossenen und 2000 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen ist Israel der einzige nicht-europäische Staat, der am Forschungs- und Entwicklungsprogramm der Union teilnehmen kann.
  • Mit der in Kopenhagen beschlossenen Erweiterung wird die EU Mitte 2004 in Gestalt von Zypern auch geographisch näher rücken.
  • Israel ist Mitglied der (west-) europäischen Regionalgruppe sowohl der UNO wie der Interparlamentarischen Union (wegen des arabisch-islamischen Boykotts in seinem “natürlichen” Umfeld).
  • Es genießt Beobachterstatus beim Europarat.
  • Israelische Sportmannschaften nehmen an europäischen Wettbewerben teil. was zum Beispiel den europäischen Fußball populär macht.
  • Israelische Sänger treten beim Schlagerwettbewerb der Eurovision an.

Auf dieser Grundlage ließe sich eine Strategie aufbauen, die – im Verein mit amerikanischen Sicherheitsgarantien – Israel den Weg in eine friedliche und gesicherte Zukunft ebnen und damit eben die Voraussetzungen für eine friedliche Konfliktlösung im Nahen Osten schaffen könnte. Eine solche Strategie kann aber nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie die verhängnisvolle Koppelung von Fortschritten im Friedensprozess mit einer weiteren Annäherung an Europa dialektisch aufhebt, indem gerade diese Annäherung den Anreiz für eine friedliche Konfliktlösung erhöht.

In einer ersten Etappe könnte eine weitere Annäherung an Europa folgende Komponenten umfassen, die sich nicht nur nicht gegenseitig ausschließen sondern gleichzeitig den Weg für die kühnste Vision bereiten könnten, den Beitritt Israels zur Europäischen Union:

  • Sonderstatus für Israel im Verhältnis zur Europäischen Union;
  • Schaffung von regionalen Einheiten, die über dem Barcelona-Prozess, aber unterhalb der Schwelle der Vollmitgliedschaft liegen.

Sonderstatus für Israel

Im Dezember 1994 beschloss der Europäische Rat in Essen Israel einen Sonderstatus in seinen Beziehungen zur EU anzubieten (im englischen Text: privileged status). Geschehen ist seither nicht viel, was auf europäischer Seite vor allem mit der Trübung des Verhältnisses während der Amtszeit von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (1996-99) und seit 2000 mit der harten israelischen Reaktion auf die Intifada zu tun hat. Heute erinnert man sich in der EU-Kommission am liebsten gar nicht an den Beschluss von Essen und manche sind der (inoffiziellen) Meinung, mit dem Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens sei ein Sonderstatus bereits gegeben – was  dann auch für die arabischen Mittelmeeranrainer gelten würde, die solche Abkommen mit der EU abgeschlossen haben; eine solche Interpretation würde freilich den Begriff Sonderstatus ad absurdum führen. Aber auch von israelischer Seite wurde keine Initiative ergriffen, um den Begriff mit Leben auszufüllen, obwohl ironischerweise heute Netanjahu als Außenminister offen für einen israelischen Beitritt zur EU plädiert. Lediglich auf Nichtregierungsebene gab es solche Versuche, wie eine Anfang 2000 von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) auf Anregung des Kanzleramtes eingesetzte bilaterale (deutsch-israelische) Expertengruppe, an der sich von israelischer Seite Vertreter des Außen- und Finanzministeriums, der Zentralbank und anderer Institutionen beteiligten, die jedoch nach dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Regierungswechsel in Israel Anfang 2001 ihre Mitarbeit einstellten. Parallel dazu bildete sich – ebenfalls mit Unterstützung der FES – an der Universität Tel Aviv ein “Israel-EU-Forum” unter Leitung des früheren israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor, mit dem Ziel, israelische Vorschläge für die Erreichung eines Sonderstatus auszuarbeiten. Die verschiedenen Expertengruppen legten Mitte 2002 ihre Empfehlungen vor, die sich unter anderem auch am Modell des “Europäischen Wirtschaftsraums” und am Verhältnis der Schweiz zur EU orientieren:[1]

  • gegenseitige Anerkennung von Normen, notfalls auch einseitige Anwendung europäischer Normen durch Israel;
  • kumulierte Ursprungssregeln, nicht nur (wie bisher) mit den Ländern des Barcelona-Prozesses sondern auch mit den EU-Staaten und den Beitrittskandidaten;
  • gleichberechtigte Beteiligung an öffentlichen Ausschreibungen;
  • (einseitige) Anwendung der Kriterien des Stabilitätspaktes und von Teilen des “acquis communautaire” durch Israel;
  • Anbindung an den Euro (notfalls auch einseitig);
  • freie Bewegung von Menschen, Kapital, Gütern und Dienstleistungen;
  • Anpassung der sozialen Systeme an europäische Normen;
  • Beteiligung an der Europäischen Raumfahrtagentur, dem Europäischen Forschungsfonds und dem Kernforschungszentrum CERN.

Die Anwendung dieser Empfehlungen würde in der Tat einen Sonderstatus begründen und dieser wäre um so eher zu erreichen, je mehr die erweiterte EU in Zukunft einem lockeren Gebilde gliche, vielleicht sogar in Gestalt eines “Europa der verschiedenen Gangarten”. In Israel blickt man deshalb gespannt auf die weitere Entwicklung der Türkei-Frage, an der sich möglicherweise der zukünftige Charakter der Union und ihrer Außengrenzen entscheiden wird.

Über Barcelona hinaus

Die Frage eines Sonderstatus stellt sich für Israel – wie in Essen beschlossen – zunächst auf einer bilateralen Ebene, doch könnte man sich auch eine erweiterte Ebene in Form von neuen regionalen Gruppierungen vorstellen, die insgesamt einen besonderen Status in ihrem Verhältnis zur EU erhalten könnten. Ein solcher Status müsste weit über die Regularien des Barcelona-Prozesses hinausreichen und er könnte damit logischerweise auch nur diejenigen EMP-Mitglieder umfassen, die entsprechend entwickelt sind sowie über demokratische Verhältnisse und den politischen Willen zu einer engen Anbindung an die EU verfügen. Diesen Kriterien entsprechen alles in allem lediglich vier von zwölf der südlichen EMP-Mitglieder, nämlich Malta, Zypern, die Türkei und eben möglicherweise Israel. Die beiden ersteren werden 2004 in die EU aufgenommen, der Türkei ist in Kopenhagen immerhin ein mögliches Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen angeboten worden. Das würde bedeuten, dass Israel mit acht arabischen Mittelmeeranrainern in der EMP zurückbliebe und damit völlig isoliert dastünde. Ein Sonderstatus für Israel hingegen ließe sich mit einer Ausweitung des Barcelona-Prozesses auf alle Mitgliedstaaten der Arabischen Liga verbinden, was den Vorteil hätte, dass dann auch die reichen Golfstaaten mit im Boot säßen.[2]

Das Interesse Israels am weiteren Schicksal der Türkei erklärt sich in erster Linie aus der Tatsache, dass Ankara der einzige Verbündete des jüdischen Staates im Nahen Osten ist und die Frage einer EU-Orientierung auch über das Weiterbestehen dieses Bündnisses entscheiden könnte – dann nämlich, wenn eine Zurückweisung durch Brüssel die islamisch-nahöstliche Orientierung der Türkei stärken würde. Aber auch für die europäische Perspektive Israels ist die Türkei von Bedeutung, denn die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara würde das in Europa heftig debattierte Thema der kulturellen und geographischen Grenzen der EU – auch im Sinne Israels - entscheiden.

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Die europäische Perspektive für Israel existiert bereits – und zwar in größerem Maße, als beiden Seiten oftmals bewusst ist.
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Doch angesichts der heftigen Widerstände in Europa gegen eine solche – wie viele es sehen – Überstrapazierung der Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft, die vielleicht schon 2004 mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern erreicht wird, sollten sich beide Seiten – EU wie Beitrittsaspiranten – rechtzeitig Gedanken über kreative Lösungen zum beiderseitigen Vorteil machen. Eine solche Lösung könnte etwa darin bestehen, dass einer Staatengruppe für eine langfristig angelegte Übergangsperiode ein Sonderstatus eingeräumt wird, der alle oben beschriebenen Elemente enthält. Zu dieser Gruppe könnten z.B. die Balkan-Staaten (unabhängig von ihren derzeit unterschiedlichen EU-Beitrittsperspektiven), die Türkei und Israel gehören. Der Vorteil für beide Seiten liegt auf der Hand: Die EU würde Zeit gewinnen, um die schwer wiegenden Probleme der Vertiefung und der institutionellen Reformen in Angriff zu nehmen und sie könnte in aller Ruhe die Beitrittsaspiranten auf eine mögliche Mitgliedschaft vorbereiten. Die “Gruppe Balkan/östliches Mittelmeer” hätte die Vorteile eines weitgehenden Zugangs zu Europa und könnte ebenfalls in aller Ruhe daran gehen, die in vielen Ländern – vor allem in Israel und der Türkei – bestehenden Vorbehalte gegen eine EU-Mitgliedschaft auszuräumen. Vor allem aber: es bestünde kein Automatismus hin auf einen Beitritt, beide Seiten könnten sich etwa mit dem “Schweizer Modell” arrangieren.

Eine Variante dieses Modells könnte darin bestehen, den alten Geist der Levante im östlichen Mittelmeer wieder zu beleben; in dieser einst von multikultureller Vielfalt und regem Handelsaustausch geprägten Region sind Reste dieser Tradition noch immer zu finden, auch wenn das Jahrhundert des Nationalismus mit seinen Kriegen, Vertreibungen und gewaltsamer Landnahme verheerende Folgen für das Zusammenleben der Völker hatte. Vorstellbar wäre – falls die Türkei nicht der EU beitreten würde – eine subregionale Gruppierung, zunächst bestehend aus den beiden EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern sowie der Türkei und Israel, die durch spezielle Abkommen im Sinne eines Sonderstatus mit einander verbunden wären. Nach einer, nicht zuletzt durch internationale Intervention und eine engere europäische Anbindung Israels zustande gekommenen Friedensregelung im Nahen Osten, könnten sich auch solche arabischen Mittelmeeranrainer der neu konstituierten “Levante” anschließen, die am weitesten fortgeschritten sind: der Libanon, ein demokratisches Palästina und Jordanien, später – nach erfolgreichen Reformen – auch Syrien und Ägypten – mit Ausstrahlung in den weiteren nahöstlichen Raum. Voraussetzung dafür wäre die Aufgabe des Barcelona-Konzepts, wonach alle südlichen  Mittelmeeranrainer über einen Kamm zu scheren sind sowie der Kopplung von Friedensprozess und EU-Annäherung. Das alles klingt angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse nach Zukunftsmusik, doch ohne kühne Visionen wird es – bei aller nüchternen Einschätzung der eigenen (europäischen) Handlungsmöglichkeiten – keine Fortschritte geben. Der europäische Gründungsvater Jean Monnet ist das beste Beispiel dafür, wie man beides vereinbaren kann.

Israel in die Europäische Union?

Noch weiter geht die Vorstellung von einer Vollmitgliedschaft Israels in der Europäischen Union. Zum ersten Mal wurde dieser Gedanke aus israelischer Sicht als offenes Postulat in einem Beitrag in der meinungsführenden Tageszeitung “Ha`aretz” am 3. Oktober 2001 geäußert. Die beiden Wissenschaftler Josef Gorni und Aron Seidenberg definieren zunächst Israel als “euromediterrane Gesellschaft”, die demographisch und kulturell überwiegend europäisch beeinflusst sei und ziehen daraus die Schlussfolgerung, “dass Europa die Verantwortung für Israel übernehmen sollte, indem es an die EU und die NATO angeschlossen wird, und zwar auf der Grundlage eines Geschäfts mit der arabischen Welt: Gründung eines palästinensischen Staates, eine binationale Regelung in Jerusalem als Hauptstadt der beiden Staaten, breit gestreute regionale Hilfe zur Lösung des Wasserproblems und der Flüchtlingsfrage. Eine solche Regelung würde Israel existentielle Sicherheit als Minderheit in der Region bieten und ihm so territoriale und politische Verzichte erleichtern. Die Palästinenser erhielten damit Schutz vor der Gefahr einer Expansion des zionistischen Staates.” Die Autoren verweisen weiter auf den Zusammenhang zwischen jüdisch-arabischem Konflikt und dem “Krieg gegen den Terror”, der Europa eine solche Strategie akzeptabel erscheinen lasse.

Damit ist in wenigen Sätzen der politische Kernpunkt des Gedankens einer israelischen EU-Mitgliedschaft umrissen: nicht Fortschritte im Friedensprozess werden zur Voraussetzung für eine weitere Annäherung gemacht sondern die Aussicht auf den Beitritt stärkt die Friedensbereitschaft – ähnlich wie auf dem Balkan diese Aussicht nicht wenig zu Demokratisierung, Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten sowie wirtschaftlicher Öffnung beigetragen hat. Israels Sicherheit und Existenz wären als EU-Mitglied (möglichst auch in Verbindung mit der Zugehörigkeit zur NATO) dauerhaft gesichert und es erscheint sogar als wahrscheinlich, dass es aus dieser sicheren Position heraus viel eher in der Lage wäre, gute Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn zu knüpfen. Man könnte sich sogar – in Abwandlung der Vision von einem neuen Nahen Osten – für Israel dann eine Brückenfunktion zwischen Europa und Nahost vorstellen. Mit den arabischen Staaten müsste ein intensiver Dialog über diese Strategie geführt werden, der die Vorteile einer solchen Lösung auch für sie deutlich macht, wie sie in dem Artikel von Gorni und Seidenberg dargelegt wurden. Dass Israel aus geographischen Gründen nicht zu Europa gehören könne, ist spätestens mit der Akzeptanz Zyperns und der grundsätzlichen Bereitschaft, der Türkei Beitrittsgespräche anzubieten, kein überzeugendes Argument mehr. Im übrigen müsste bei dieser Debatte das Verdikt des deutsch-israelischen Historikers Dan Diner Berücksichtigung finden, wonach Israel zwar „nicht in Europa, aber von Europa ist.“

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Israels Sicherheit und Existenz wären als EU-Mitglied  dauerhaft gesichert und es erscheint sogar als wahrscheinlich, dass es aus dieser sicheren Position heraus viel eher in der Lage wäre, gute Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn zu knüpfen.
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Abgesehen von den politischen und geographischen Argumenten, die aus europäischer Sicht gegen eine EU-Mitgliedschaft Israels sprechen mögen, stellt sich auch die Frage nach den ganz “normalen” Voraussetzungen für einen Beitritt. Der Befund, den die Expertengruppe der Universität Tel Aviv heraus gearbeitet hat, ist in dieser Hinsicht eindeutig: Israel liegt unter fast allen Gesichtspunkten über dem Niveau der jetzigen zehn Beitrittsländer bzw. –Kandidaten und ist recht gut darauf vorbereitet, große Teile des “acquis communitaire” zu übernehmen. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt mit 15 000 US-Dollar weit über dem der anderen Länder – mit der Ausnahme von Zypern (vor zwei Jahren waren es noch 17 000 Dollar). Wegen des blutigen Konflikts und der hohen Militärausgaben ist die Wirtschaftsentwicklung seit zwei Jahren zwar rückläufig und hat zu hoher Arbeitslosigkeit (10,4 %) und Inflation (6,5 %) geführt (damit aber immer noch im Durchschnitt der Beitrittskandidaten liegend), doch verfügt Israel im Prinzip über eine gesunde Wirtschaftsstruktur (wie erst jüngst wieder vom Internationalen Währungsfonds bestätigt) mit einem hochentwickelten High-Tech-Sektor und einem dem westeuropäischen Niveau entsprechenden niedrigen Anteil der Landwirtschaft. In Bezug auf die Staatsverschuldung haben sich die israelischen Regierungen der vergangenen Jahre freiwillig zur Anwendung der Maastricht-Kriterien verpflichtet und waren damit auch bis 2002 erfolgreich, als die Verschuldung wegen der äußeren Umstände auf 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stieg – und sind damit in guter Gesellschaft von Deutschland und Frankreich, die mit vergleichsweise geringen Problemen zu kämpfen haben. Nimmt man die relativ kleine Einwohnerzahl (6,6 Millionen) und das über dem OECD-Durchschnitt liegende Bildungsniveau hinzu, dann ist Israel unter ökonomischen Gesichtspunkten im Vergleich zu allen Beitrittsländern leicht zu “absorbieren” – und wäre wahrscheinlich sogar Nettobeitragszahler, vor allem, wenn der Friedensprozess und damit die wirtschaftliche Entwicklung wieder in Gang kämen.

“Bevor wir nach Europa rennen”

Unter diesem Titel beschäftigt sich ein Kommentar des Massenblattes “Jediot Acharonot” am 5. Januar 2003 mit der im Gefolge des Beitrags von Gorni/Seidenberg in Israel entfachten Debatte um einen möglichen EU-Beitritt des Landes. Bezugnehmend auf die Initiative von Außenminister Netanjahu, einen solchen Beitritt anzustreben, heißt es unter anderem: “Hier einige Nebenerscheinungen, die ein Beitritt Israels in die EU mit sich bringen würde. Zu allererst müsste das Rückkehrrecht [für Juden in aller Welt, W.V.] abgeschafft werden, so auch der jüdische Charakter des Staates… Durch einen Beitritt Israels in die EU würde das Land von ausländischen Arbeitern überschwemmt… Und was wird geschehen, wenn jeder Israeli in einem der EU-Staaten ohne besondere Genehmigung arbeiten kann?… Eine weitere wichtige Nebenerscheinung hängt mit den Menschenrechten zusammen. Wollen wir wirklich, dass alle unsere Regierungsinstitutionen dem europäischen Gerichtshof unterstehen? Die EU strebt nach einer einheitlichen Außenpolitik. In einigen Fällen präsentiert sie eine Anti-These zu den USA. Eine Umsetzung der Initiative von Netanjahu würde uns also vor ein sehr schweres Dilemma stellen: sollen wir europäische Initiativen befürworten, die von den USA abgelehnt werden oder treten wir für amerikanische Initiativen ein und riskieren damit einen Bruch in unseren Beziehungen zur EU? Diese Begleiterscheinungen sollten ausdiskutiert werden, bevor man sich für einen Beitritt Israels in die EU einsetzt.”

Diese vergleichsweise nüchterne Analyse bringt die Stimmung “des kleinen Mannes” auf den Punkt: die öffentliche Meinung Israels ist heute von einer geradezu neurotischen Europa-Feindlichkeit geprägt. Dies hängt natürlich in erster Linie mit der zunehmenden europäischen Kritik am harten Vorgehen Israels in den palästinensischen Gebieten zusammen und wird verstärkt durch den nie ganz ausgeräumten Antisemitismus-Verdacht, der in den zunehmenden Anschlägen auf jüdische Menschen und Einrichtungen in Europa seine Bestätigung findet. Ausgerechnet die linksliberale, gegenüber europäischen Belangen ansonsten offene Tageszeitung “Ha`aretz”, publizierte am 12. Dezember 2002 auf ihrer Meinungsseite das harsche Verdikt: “Israel wird von breiten Bevölkerungsschichten in Europa als brutales rassistisch-kolonialistisches Gebilde angesehen, das Lichtjahre vom aufgeklärten `Neuen Europa` entfernt ist… In europäischen Augen wird Israel unter der Führung von Sharon…zugetraut, ethnische Säuberungen durchzuführen, was bedeutet, dass es nicht wert ist, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Solange diese Auffassung in den europäischen Institutionen verankert ist …wird der Traum von einem Beitritt in den europäischen Klub im Bereich der Phantasie bleiben”.

In der Tat scheint es so, als ob es derzeit auf beiden Seiten keine Mehrheit für einen EU-Beitritt Israels geben würde. Um so erstaunlicher ist, dass in den letzten zwei Jahren innerhalb der politischen und intellektuellen Elite des jüdischen Staates eine heftige Debatte über das Verhältnis zu Europa eingesetzt hat, die sich immer stärker auch in den Medien niederschlägt, die ansonsten nicht gerade von Weltoffenheit geprägt sind. In dieser Debatte wird zum Teil erstaunlich differenziert argumentiert und man verfügt über detaillierte Informationen: so wird etwa dem Argument, das Rückkehrrecht der Juden in ihren Staat sei bei einer EU-Mitgliedschaft in Gefahr, die Tatsache entgegengehalten, dass Deutschland mit der Eingliederung von Aussiedlern aus der früheren Sowjetunion über ein ähnliches Instrument verfüge. Gegenüber der Furcht, dass Israel von ausländischen Arbeitskräften überschwemmt werden könnte, legt man nüchterne Fakten auf den Tisch: dass nämlich die EU nach den jeweiligen Erweiterungen der Vergangenheit keinesfalls von Migranten aus den Beitrittsländern heimgesucht wurden sondern die Mehrheit gerade aus Nicht-Mitgliedsstaaten kommt, wie etwa die Türken in Deutschland oder die Algerier in Frankreich. Man verweist auch darauf, dass es heute schon an die 300 000 “Gastarbeiter” im Lande gibt, die ganz überwiegende Zahl nicht aus EU-Ländern oder Beitrittskandidaten, mit der begrenzten Ausnahme von Rumänien. Eher sieht man ein gewisses Sicherheitsproblem, wenn jeder mit einem europäischen Pass nach Israel kommen könne. Auf einem anderen Feld, der Umstrukturierung des Sozialstaates und der Reform der sozialen Systeme, orientiert man sich seit Jahren an europäischen Vorbildern, wobei die Grundlagen dieser Systeme ohnehin europäischen Ursprungs sind.

Ließen sich im Sinne des “acquis communautaire” die meisten Probleme relativ leicht lösen, so bleiben dennoch zwei zentrale Punkte als wichtigste Hindernisse für einen EU-Beitritt: die Frage von Sicherheit und Menschenrechten sowie das Problem des “jüdischen Charakters” des Staates.

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Die öffentliche Meinung Israels ist heute von einer geradezu neurotischen Europa-Feindlichkeit geprägt.
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Die Sicherheit des Staates (und damit des jüdischen Volkes) ist in Israel oberste Staatsdoktrin. Da sich das Land formal immer noch im Kriegszustand mit mehreren arabischen Staaten befindet und es seit seiner Gründung im Jahre 1948 permanenten terroristischen Attacken in unterschiedlicher Intensität ausgesetzt ist, hat sich eine “Sicherheitskultur” herausgebildet, die nicht mit dem europäischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten vereinbar ist. Dazu gehören als spektakulärste Beispiele die seit Ausbruch der zweiten Intifada wieder verstärkt aufgenommenen “gezielten Tötungen” (targeted killings) von Terroristen, denen auch immer mehr Unschuldige zum Opfer fallen; die sogenannte “Verwaltungshaft” (administrative detention), die es erlaubt, Verdächtige monatelang, in Einzelfällen auch jahrelang ohne Gerichtsurteil in Haft zu halten; und schließlich die Anwendung gewisser, vom Obersten Gerichtshof eingeschränkter Formen der Folter zur Abwendung von Terroranschlägen. Befürworter eines EU-Beitritts argumentieren, dass dies vorübergehende Phänomene seien, die mit einem durch die EU-Perspektive wieder belebten Friedensprozess von selbst verschwinden würden. Hier sind allerdings Zweifel angebracht, da – wie die Vergangenheit zeigt – extremistische Kräfte sich auch durch Friedensverhandlungen nicht von Anschlägen abhalten lassen und sogar zu befürchten steht, dass diese auch nach einem Friedensvertrag weiter gehen. In dieser Hinsicht wäre wahrscheinlich für längere Zeit mit einer “Grauzone” zu rechnen, an deren Ende Israel sich zwischen seiner Sicherheitsdoktrin und der Sicherheit im Schoße der europäischen Familie entscheiden müsste.

Noch schwieriger verhält es sich dem Augenschein nach mit dem “jüdischen Charakter” des Staates, denn dies ist schließlich der Ursprung der zionistischen Bewegung und die Erfüllung des uralten Traumes von einer Rückkehr in das gelobte Land. Verbunden ist damit – obwohl dies keineswegs die Absicht der zionistischen Staatsgründer war – ein übermäßiger Einfluss der Religion auf Staat und Gesellschaft, der mit europäischen Normen nicht vereinbar ist (keine Zivilehe, kein Scheidungsrecht für Frauen, Staatsbürgerschaft nur für Kinder jüdischer Mütter usw.). Doch hat sich in diesem Bereich – unabhängig von einer europäischen Perspektive – bereits seit langem eine heftige Diskussion entfaltet, die eine Trennung von Staat und Religion, aber auch die Frage eines “Staates für alle Bürger” zum Gegenstand hat. Gestärkt wird diese Debatte durch die normative Kraft des Faktischen, die vor allem in der demographischen Entwicklung sich niederschlägt: immer mehr Menschen in Israel (ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft) sind Nicht-Juden. Das gilt in erster Linie für die arabische Minderheit (20 %), die zunehmend statt nach Integration nach Minderheitenrechten und Autonomie strebt. In Expertenkreisen beschäftigt man sich deshalb mit europäischen Beispielen in diesem Bereich, wie Süd-Tirol oder Ungarn, und auch diese Debatte hat schon die Medien erreicht. Eine weitere große Gruppe, die nach unterschiedlichen Schätzungen mehrere hunderttausend Menschen umfasst, sind nicht-jüdische Angehörige von Einwanderern aus der früheren Sowjetunion. Ihre Rechte wurden erstmals von einer politischen Partei (der linksliberalen Meretz) im  Wahlkampf Anfang dieses Jahres thematisiert. Noch rechtloser, weil zum großen Teil illegal im Land lebend, sind die bis zu 300 000 ausländischen Arbeitnehmer, bei denen seit langem ein ähnlicher Prozess wie seinerzeit in Europa eingesetzt hat: sie holen ihre Familien nach, bekommen Kinder, und denken nicht im Traum daran, in ihre Ursprungsländer zurück zu kehren. Auch ihre Rechte, vor allem das Ziel der Legalisierung, ist Gegenstand einer von verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen betriebenen Debatte. So ist schon seit Jahren eine lebhafte und breite öffentliche Diskussion über den Charakter des Staates im Gange, und in verschiedenen Denkfabriken sucht man nach dem Kompromiss zwischen “jüdischem Staat” und “Staat aller Bürger”. Ein solcher scheint durchaus denkbar und könnte darauf hinaus laufen, dass Israel in Zukunft ebenso jüdisch sein wird, wie Spanien oder Italien etwa katholisch sind. Nimmt man noch hinzu, dass der Einfluss der Religiösen im Gegensatz zu landläufigen Meinungen in den letzten Jahren faktisch zurück gegangen ist, dann dürfte auch die Frage des Staatscharakters und der Bürgerrechte kein unüberwindbares Problem für einen EU-Beitritt sein.

Ohnehin käme ein Beitritt erst in einer längeren Zeitperspektive in Frage, so dass genügend Zeit für innere Reformen bliebe. Aber schon mit der Erweiterung von 2004 rückt die EU nicht nur geographisch näher: mehrere hunderttausend Israelis, deren Familien aus den osteuropäischen Beitrittsländern stammen, haben dann Anspruch auf einen europäischen Pass (den heute schon fast 300 000 besitzen) und viele israelische Unternehmen siedeln sich bereits jetzt auf Zypern an, um – nahe der Heimat, aber innerhalb der EU – einen Fuß in Europa zu haben. Zypern bietet übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie europäische Perspektiven einen heilsamen Einfluss auf friedliche Konfliktlösung haben können: der von der UNO vorgelegte Friedensplan befasst sich mit Grenzziehung, Rückzug aus besetzten Gebieten, Evakuierung von Siedlern und sogar einem Rückkehrrecht für Flüchtlinge. Das klingt im nahöstlichen Kontext sehr vertraut. Dennoch bleibt die europäische Perspektive für Israel  eine kühne Vision – aber undenkbar ist sie nicht.


[1]Israel’s Way to the European Union, Documentation of the Israel-EU Forum at Tel Aviv University from its Establishment in Spring 2000 until June 2002, Tel Aviv 2002, 165 S.

[2] Vortrag von Christoph Zöpel, Vorsitzender des Gesprächskreises Nahost der SPD-Bundestagsfraktion, auf einer Irak-Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung am 30. 1. 2003 in Berlin.

Winfried Veit *1946;

Politikwissenschaftler; Leiter des Büros Israel der Friedrich-Ebert-Stiftung;
fesisra@netvision.net.il

 

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