Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 1/2004

 

 


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Suche nach Wegen im Dickicht:
Nationale Interessen zwischen Staatenwelt und Weltgesellschaft

Joscha Schmierer* 

Seit der Wiedervereinigung hat sich Deutschland schrittweise von politischen Selbstbeschränkungen befreit. Während historisch begründete Hemmschwellen sinken, wird die Rolle deutscher Opfer neu betont. Die Revision deutscher Nachkriegsgesinnung löst gerade in Polen Befürchtungen aus und belastet die bilateralen Beziehungen, die Prüfstein für die Europafähigkeit beider Staaten sind.

„9/11 was like a flash of lightning on a summer evening, which suddenly illuminates new landscape and then goes dark again and you´ve got to pick your way through it. And that´s where we are now.”
Joseph Nye[1]

In der politischen Analyse sollte man sich vor nichts mehr hüten, als vor einem leichtsinnigen Gebrauch des Wörtchens „wieder“, sei es als Präfix oder Adverb. Der Eindruck eines „déjà vu“, bevor man eine Situation überblickt hat, kann nur in die Irre führen, wenn es darauf ankommt zu erkennen, was so noch nie da gewesen ist. Von Normalisierung zu sprechen, wenn eine neue Situation neue Einsichten verlangt, muss abstumpfen. So oft nach 1989 in Deutschland von „Wiedervereinigung“, von „Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates“ und „Wiedererlangung der vollen nationalen Souveränität“, von „Rückkehr in die Mittellage“ und von „Wiederkehr der Normalität“ die Rede war, so schwer tat sich die deutsche Außenpolitik in den 1990er Jahren mit der Erfahrung, dass nach 1989 vollends alles anders wurde, als es in der Tradition deutscher Außenpolitik vorgesehen war.[2]

 

Aspekte einer revolutionären Umwälzung

Die Bundesrepublik war in die beginnende Blockkonfrontation hinein gegründet worden. Doch nach 1989 gab es keine Rückkehr in alte Bahnen, vielmehr nahmen die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts noch einmal Tempo auf und an Tiefe zu. Das russische Imperium teilte nach dem Ende seines sowjetischen Sonderwegs jetzt das Schicksal der anderen europäischen kolonial-imperialen Mächte. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dann der Sowjetunion vollendete sich eine Entwicklung, die mit der Zerschlagung des Habsburger und des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg begonnen, mit der Zerschlagung des Deutschen Reiches und des Italienischen Kolonialreiches im Zweiten Weltkrieg ihre Fortsetzung gefunden, und dann mit der Auflösung der französischen und britischen, sowie der Reste der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche die Bildung der Europäischen Union erst ermöglicht hatte. Insofern bedeutete 1989/91[3] den Höhepunkt und Abschluss der Entkolonialisierung, in deren Verlauf die europäischen Imperien auf ihre Mutterländer zurechtgestutzt wurden und ihre Weltmachtstellung weitgehend verloren.

Diesem Prozess entsprach das Aufkommen der USA zunächst als Vormacht des Westens und dann als „einzig verbliebene Supermacht“[4]. Zugleich entwickelte sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Volksrepublik China zu einer neuen Großmacht, wurde Japan zu einer der neben den USA und der Bundesrepublik führenden Exportmächte auf dem Weltmarkt und schufen die früheren europäischen Kolonien Indien und Brasilien die Potenziale neuer Großmächte.


1989/91 bedeutete den Höhepunkt und Abschluss der Entkolonialisierung, in deren Verlauf die europäischen Imperien auf ihre Mutterländer zurechtgestutzt wurden und ihre Weltmachtstellung weitgehend verloren.

Doch 1989/91 schloss nicht nur die Epoche der europäischen Imperien ab, sondern beseitigte mit der Blockordnung und ihrem „Gleichgewicht des Schreckens“ zugleich den repressiven Ordnungsmechanismus, der sich im Kalten Krieg herausgebildet und so effektiv funktioniert hatte, dass von Analytikern der internationalen Beziehungen unwidersprochen behauptet werden kann, der Nichtausbruch eines heißen Krieges zwischen den Blöcken sei diesem Mechanismus und nicht etwa der UNO zu verdanken.

Abstieg der europäischen Mächte, Aufstieg neuer Mächte und eine neue Rolle der USA als unvergleichlich starker Weltmacht sind Aspekte der gegenwärtigen internationalen Situation. Dass Europa nicht zusammen mit den europäischen Mächten abgestiegen ist, verdankt es der Ausbildung der EU als neuartiger politischer Formation von wachsendem Gewicht in der Weltwirtschaft und in den internationalen Verhandlungsarenen. Eine ähnliche Bemühung unternehmen die südostasiatischen Schwellenländer mit dem Verband südostasiatischer Staaten (ASEAN), um gegenüber dem Weltmarkt und den mächtigen Nachbarn ihre Stellung zu stärken. Auf dem südamerikanischen Kontinent stecken die Integrationsbestrebungen noch in den Anfängen. Das gilt erst recht für Afrika. Diese neuen Formen internationaler Kooperation sind ein weiterer Aspekt der aktuellen Weltpolitik.

 

Epoche der Globalisierung

Grundlegend für die weltpolitische Situation nach 1989/91 sind jedoch zwei globale Entwicklungen, die mit 1989/91 in ein qualitativ neues Stadium eintraten: die spannungsreiche und widersprüchliche Ausbildung einer Weltwirtschaft und einer Staatenwelt. Sie erlauben es, von einer „Epoche der Globalisierung“ zu sprechen.

Mit der Öffnung der Staaten des früheren Sowjetimperiums zum Weltmarkt breitet sich, nachdem die Volksrepublik China schon früher diesen Schritt getan hatte, zum ersten Mal im Wortsinn eine Weltwirtschaft rund um den Globus aus, auch wenn sie in verschiedenen Regionen und Staaten unterschiedlich tief verankert und entwickelt ist. Zugleich haben wir es zum ersten Mal mit einer Staatenwelt zu tun, die jeden Winkel der Erde besetzt hält: Nicht nur sind mit der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens eine ganze Reihe von neuen Staaten entstanden. Vielmehr hat sich mit der Auflösung der Blockordnung auch für viele bestehende Staaten eine mit der UNO-Mitgliedschaft nur vorgegaukelte formelle politische Unabhängigkeit in eine reale verwandelt.

Die Globalisierung stützt sich auf gewaltige Veränderungen in den materiellen Kommunikationsverhältnissen und entsprechende Beschleunigung und Verbilligung des Reise-, Waren- und Kapitalverkehrs sowie des Informations- und Nachrichtenwesens. Diese Revolution der Produktivkräfte wirkt desto stärker, je mehr sich die Wirtschaften zum Weltmarkt öffnen und die Staatenwelt kalkulierbare Regeln des Austausches weltweit gewährleistet. Globalisierung drückt sich also in beiden Formen, in Staatenwelt und Weltwirtschaft gleichermaßen aus. Doch stehen die grundlegenden Prinzipien dieser Formen in einem Spannungsverhältnis: Die Weltwirtschaft entfaltet sich in grenzüberschreitenden transnationalen Netzen, die Staatenwelt basiert auf der Souveränität ihrer Mitglieder, das heißt dem Gewaltmonopol der Staaten über ihr Territorium. Dem Spannungsverhältnis von transnationaler Vernetzung und territorialer Souveränität kann ein destruktiver Widerspruch entspringen, der die innerstaatlichen Gegensätze und die zwischenstaatlichen Rivalitäten verschärft.

So ist ein souveräner Staat, der in der Lage ist sein Territorium nach einheitlichen, einklagbaren Regeln zu beherrschen, die Grundbedingung der Entfaltung einer Volkswirtschaft. Diese Bedingung entfällt, wenn eine Quelle von Reichtum direkt an den Weltmarkt angeschlossen werden kann. Machtvolle exterritoriale Akteure können sich mit lokalen oder regionalen Machthabern verbünden, um den Reichtum zu teilen. Die Staatsmacht kann sich hierbei nur als hinderlich erweisen. Als Beispiele für einen solchen Kurzschluss von lokalen Machthabern und Weltmarkt können rohstoffreiche Gebiete im Kongo und die Mohnanbaugebiete in Afghanistan gelten. Die Vernetzung mit der Weltwirtschaft erleichtert hier den Zerfall des Staates in bewaffnete Weltwirtschaftszonen.


Grundlegend für die weltpolitische Situation sind zwei globale Entwicklungen, die mit 1989/91 in ein qualitativ neues Stadium eintraten: die spannungsreiche und widersprüchliche Ausbildung einer Weltwirtschaft und einer Staatenwelt. Sie erlauben es, von einer „Epoche der Globalisierung“ zu sprechen.

Umgekehrt wird eine mittelständische Agrar- und Industrieentwicklung nicht nur zur Entwicklung und Regulierung des inneren Marktes auf ein Minimum an Staatlichkeit angewiesen sein. Ohne eine ausreichende staatliche Verhandlungsmacht in den internationalen Verhandlungsarenen wird sie auch nur allzu leicht zum Opfer äußeren Protektionismus werden, während sie im Inneren schrankenloser Konkurrenz der führenden Wirtschaftsmächte ausgeliefert bleibt.

Aus dem Spannungsverhältnis von Souveränität und Vernetzung erklären sich teilweise die politischen Schütterzonen, in denen schwache Staatlichkeit und gering entwickelte Wirtschaft bei mangelnder gesellschaftlicher Integration sich gegenseitig verstärken. Von Afrika ausgehend über den Mittleren und Nahen Osten, Balkan, Kaukasus und Zentralasien bis nach Indonesien verdichten sich solche regionalen Schütterzonen zu einem weitreichenden Krisenbogen, der die Ränder der EU und Russlands streift. Da in diesem Krisenbogen das Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und transnationaler Vernetzung unter dem Einfluss lokaler Machthaber und äußerer Einflussnahme immer wieder in Staatszerfall umzukippen droht und auch umkippt, findet sich hier vielfach ein hervorragender Nährboden für einen politisch-radikalisierten Islamismus, der eine transnationale Vernetzung und überstaatliche Integration durch Religion und Kalifat verspricht. Mittels blutigem Terrorismus konnte sich dieser Islamismus zu einem weltpolitischen Faktor aufwerfen, obwohl sein politisches Projekt noch fast völlig in der Luft hängt.

Globalisierung, die zugleich, aber geographisch unterschiedlich verteilt, Homogenisierung und Fragmentierung bedeuten kann, braucht einen Ordnungsrahmen, der die Staatenwelt zusammen hält, und den Weltmarkt einigermaßen reguliert. Dieser Ordnungsrahmen steht mit der UNO und der Welthandelsorganisation (WTO) formell zur Verfügung.

 

Der UNO-Rahmen

Zwar war es eher das Gleichgewicht des Schreckens, das während des Kalten Krieges als repressiver Ordnungsmechanismus den Ausbruch eines heißen Krieges zwischen den Blöcken verhinderte, doch hat sich die UNO als Auffangbecken für die jungen Staaten, die mit der Entkolonialisierung und der Auflösung der Sowjetunion die weltpolitische Bühne neu betraten, bewährt. Die UNO konnte diese Staaten zwar nicht gegen innere Zerfallstendenzen schützen, aber zumindest durch die gegenseitige Anerkennung unter den UNO-Mitgliedern ihre territoriale Integrität weitgehend bewahren. Dass der UNO-Rahmen insofern hielt und damit auch weitgehend Kriege zwischen Staaten verhindern konnte, lässt die bewaffneten Auseinandersetzungen in den Teilen der Welt, in denen vor 1989 die Blockfreienbewegung eine gewisse integrative Kraft entfaltet hatte, als „Bürgerkriege“ erscheinen. Der Begriff trifft die Problemlage meistens nicht genau, weil er eigentlich gefestigte Staaten voraussetzt, um deren innere Herrschaft zwischen entgegengesetzten Machtgruppierungen gekämpft wird.

Tatsächlich lassen sich die bewaffneten Auseinandersetzungen in den Schütterzonen der Globalisierung eher als Staatsbildungskriege beschreiben, in denen es um die Existenz des Staates selbst geht. Setzt sich eine staatsbildende politische Klasse gegen feudalistisch-separatistische Kräfte durch? Führen verfestigte ethnische Fronten zur Auflösung des territorialen Gewaltmonopols und verhindern sie eine erfolgreiche Staatsbildung in den bestehenden Grenzen? Gewinnen Kräfte teilweise oder ganz die Oberhand, die ihren Rückhalt in einem Nachbarstaat haben und die Eigenstaatlichkeit nur als Hülle aufrecht erhalten? Oder nimmt durch die Auseinandersetzung antistaatlicher Kräfte die Zersplitterung des Staates ungebremst ihren Lauf? Die vielfältigen Ursachen und Motive der bewaffneten Auseinandersetzungen lassen sich nicht abstrakt im Begriff des Bürgerkrieges erfassen, der sich in Zeiten und Regionen eines gefestigten Staatensystems gebildet hat.

Der Ordnungsrahmen der UNO ist nicht rund um den Globus gefestigt: Viele Bausteine der Staatenwelt wackeln, andere drohen zu zerspringen. Staatsbildungsprozesse sind vom Scheitern bedroht oder bereits weitgehend gescheitert.

Eine verfehlte Begrifflichkeit kann zu politischen Fehleinschätzungen führen, wie sich in den jugoslawischen Nachfolgekriegen gezeigt hat. Neutralität und Nichteinmischung von Seiten der Nachbarn und Institutionen der UNO gegenüber einem Bürgerkrieg ist ein Gebot der Staatenwelt. Wie aber sieht es aus, wenn eine in ihrer Zentralherrschaft gefährdete Bürokratenclique gegen unbotmäßige Teilrepubliken einen Verfassungsputsch inszeniert und dann gegen deren, durch die Verfassung jedenfalls nicht ausgeschlossenen, Unabhängigkeitsbestrebungen die Armee und bewaffnete Banden einsetzt? Wird mit dem Staatsstreich und dem ethnonationalistischen Vertreibungskrieg gegen die den Gesamtstaat erst konstituierenden Republiken nicht das gegenseitige Anerkennungsverhältnis aufgekündigt, das unter UNO-Mitgliedern in der Souveränität zum Ausdruck kommt? Nachdem die serbische Führung die durch die jugoslawische Verfassung garantierten Autonomierechte der Woiwodina und des Kosovo kassiert hatte und dann zum Auftakt ihres innerjugoslawischen Eroberungskrieges militärisch gegen Slowenien vorgegangen war, diente die jugoslawische Souveränität nur noch als Deckmantel für eine großserbische Staatsbildung einerseits und das internationale Phlegma andererseits. Europäische Union und NATO brauchten sich so lange nicht für eine Parteinahme gegen den Aggressor zu entscheiden, wie sie sich die bewaffneten Auseinandersetzungen als jugoslawischen Bürgerkrieg zurecht legten und auf die territoriale Integrität Jugoslawiens als Grundlage politischer Stabilität fixiert blieben.[5]

Der Ordnungsrahmen der UNO ist also nicht rund um den Globus gefestigt: Viele Bausteine der Staatenwelt wackeln, andere drohen zu zerspringen. Staatsbildungsprozesse sind vom Scheitern bedroht oder bereits weitgehend gescheitert. Und ebenso wenig gibt der Ordnungsrahmen der UNO per se eine eindeutige Orientierung in konkreten Entscheidungssituationen. Und selbst wenn eine Entscheidung unumstritten ist, bleibt die Frage offen, wie die durch die UNO legitimierten Maßnahmen durchgesetzt werden können.

Um den Ordnungsrahmen der UNO für die Sicherung des Weltfriedens zu nutzen, braucht es eine Ordnungsmacht, die der UNO verpflichtet ist. Formell ist diese Ordnungsmacht der Sicherheitsrat. Reell sind die USA in die Rolle der internationalen Ordnungsmacht hineingewachsen, wobei sie sich freilich in permanenter Spannung mit der UNO und dem Sicherheitsrat bewegen. Dementsprechend umstritten ist ihre Rolle.

Die Welt ist komplexer geworden

Die Grundzüge der neuen weltpolitischen Situation, in der sich die größer gewordene Bundesrepublik bewegt, lassen sich somit folgendermaßen skizzieren:
Die über Jahrhunderte wirksamen Tendenzen zur Ausbildung einer Weltwirtschaft und die mit der Entkolonialisierung forcierte Ausbildung einer Staatenwelt setzen sich global durch und eröffnen ein Zeitalter der Globalisierung. Die eine Welt ist widersprüchlich strukturiert und fragil. Transnationale Vernetzung und staatliche Souveränität stehen in einem Spannungsverhältnis. Homogenisierung und Fragmentierung sind Ausdruck dieses Spannungsverhältnisses. Sie prägen die politische Geographie der Globalisierung. Im Norden zeigt sich ein West-Ost-Gefälle in der Bewältigung der Globalisierungsprobleme. Im Süden wirkt sich in Lateinamerika die frühe Befreiung von den Kolonialmächten, die Ausbildung eines Staatensystems und die frühzeitige Absicherung gegen europäische Einmischung durch die USA festigend auf die Stellung der Staaten untereinander aus. Hier stellen Bürgerkriege die Herrschaft im Staat, aber nicht den Staat in Frage. Hier ist die Stellung in der Weltwirtschaft, aber nicht die Existenz des Staates der Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen. In einem Krisenbogen von Afrika bis Südostasien steht dagegen oft der Staat selbst auf dem Spiel.

Die Welt nach 1989/91 ist eine Welt ohne Gleichgewicht. Sie funktioniert nicht mehr nach einem immanenten Ordnungsmechanismus. Meinungs- und Willensbildung erhalten ein größeres Gewicht gegenüber „Werte- und Schicksalsgemeinschaften“. Frühere Automatismen der politischen Einordnung funktionieren nicht mehr ohne weiteres.

Nach Auflösung der Blockordnung gewinnt die UNO nicht nur als formeller Ordnungsrahmen größere Bedeutung. Zugleich zeigt sich der Mangel einer Ordnungsmacht, die sich die Sicherung und Weiterentwicklung der UNO selbst zum Ziel setzt. Die USA haben in dem Krieg gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits diese Rolle übernommen. Ihr Präsident proklamierte seinerzeit eine Neue Weltordnung, die versprach, kooperative Weltmacht mit einer gerechten Weltordnung in Übereinstimmung zu bringen. Von diesem Zustand einer globalen Integration ist die Welt vorläufig weit entfernt.


Die Welt nach 1989/91 ist eine Welt ohne Gleichgewicht. Sie funktioniert nicht mehr nach einem immanenten Ordnungsmechanismus.

Die USA selbst schwanken in ihrer Wertschätzung der UNO zwischen Verachtung und Versuchen der Vereinnahmung. Es könnte sich erweisen, dass die „einzig verbliebene Supermacht“ mit der neuerdings reklamierten Rolle der Weltordnungsmacht weit überfordert ist. Eine Supermacht, und sei es auch eine Weltmacht von bisher ungekannter Stärke, ist vielleicht keine Supermacht. Der Begriff der Supermacht hatte sich als Bezeichnung für die führenden Exponenten der bipolaren Blockordnung herausgebildet. Insofern die Blockordnung einen immanenten, wenngleich repressiven Ordnungsmechanismus enthielt, enthielt auch der Begriff der Supermacht immer einen Verweis auf die globale Ordnungsrolle der Führungsmächte der beiden Blöcke. Sie hatten die Gleichgewichtsbedingungen der Blockordnung auch über die Köpfe ihrer Blöcke hinweg auszuhandeln, sie hatten dafür zu sorgen, dass aus diesen Blöcken heraus keine systemsprengenden Aktionen erfolgten, sie achteten darauf, dass Stellvertreterkriege in der blockfreien Welt nicht unkontrolliert eskalierten. Sie waren die Hauptmächte der globalen Konfrontation und zugleich die Garanten dafür, dass diese Konfrontation in einem von ihnen kontrollierbaren Rahmen blieb. Die Supermächte spielten gegeneinander und zusammen. Indem mit der Blockkonfrontation der frühere Ordnungsmechanismus seine Wirksamkeit verloren hat, hat zwar die Macht der „einzig verbliebenen Supermacht“ gewaltig zugenommen, doch hat zugleich ihre Fähigkeit, Ordnung durchzusetzen und zu sichern, eher abgenommen. Auf sich allein gestellt kann sie bei einer Zunahme der internationalen Krisen den ehemaligen Ordnungsmechanismus nicht ersetzen. Die Suche nach einer neuen Weltordnung bleibt aktuell. Die USA werden dabei trotz aller Macht nicht alleiniger Bauherr, Architekt und Bauführer in einem sein können.

 

Der Westen und die EU

Auch nur die politische Einheit und Handlungsfähigkeit des Westens aufrecht zu erhalten, verlangt heute größere und bewusstere Anstrengungen als zu Zeiten des Kalten Krieges. Nichts renkt sich von allein ein. Zugleich bleiben die Anstrengungen, die Einheit des Westens zu sichern, unauflöslich mit den Integrationsbestrebungen der erweiterten Europäischen Union verknüpft. Mit Versuchen, Differenzen in der EU zu Spaltungstendenzen zu verdichten, würden die USA ihren wichtigsten Partner für die Errichtung einer Allianz der Demokratien schwächen. Andererseits müsste der Versuch, die EU als Gegenmacht der USA aufbauen zu wollen, unvermeidlich zu ihrer Spaltung und Handlungsunfähigkeit führen. Dies hängt auch mit der Doppelrolle Russlands als neuer Regional- und verbliebener Atommacht zusammen. Vor allem die neuen Mitglieder der EU fühlen sich nur als Teil des Westens und unter US-Führung in einer gesicherten Stellung gegenüber Russland. Eine Inszenierung der EU als Gegenmacht der USA wäre dagegen auf ein enges Bündnis mit Russland verwiesen. Verschafft das Sicherheitsbedürfnis der neuen Mitglieder den USA einen dauerhaften Einfluss in der EU, der in der NATO institutionalisiert ist, so gewinnt Russland bei der Verhinderung einer europäischen Gegenmachtposition für die amerikanische Politik großes Gewicht. Der Versuch, die EU auf Kosten der transatlantischen Partnerschaft stärken zu wollen, muss also zu einer Schwächung der EU führen und könnte das vereinigte Europa - wie früher manchmal das geteilte - zum Objekt einer Politik der großen Flügelmächte über die Köpfe der EU-Mitglieder hinweg machen. Nur wenn die USA und die EU an einem Strang ziehen, können sie Russland in eine neue internationale Ordnungsmacht integrieren. Wenn man nicht davon ausginge, dass Irakkrise und –krieg auch einen wechselseitigen Lernprozess in den USA und der EU auslösen könnten, müsste man allerdings eine Politik mit dieser Orientierung als vergebliche Liebesmüh abtun.

 

Außenpolitische Grundinteressen der Bundesrepublik

Die Staatsbildung der Bundesrepublik und die Entfaltung ihres internationalen Einflusses waren von vornherein und durchgängig mit Integrationsprozessen verbunden. Es wäre absurd, die innere Entwicklung der Bundesrepublik losgelöst von diesen Integrationsprozessen beschreiben zu wollen. Westintegration, europäische Einigung, NATO und EU, Integration in den Weltmarkt, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), der Internationale Währungsfonds (IWF) und Weltbank, der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Mitgliedschaft in UNO und WTO, Erweiterung der NATO und der EU: Das waren keine äußeren Formen und Institutionen, die der Bundesrepublik übergestülpt wurden, sondern der spezifische Kontext, in dem die Bundesrepublik zu dem Staat wurde, der sie ist. Dieser Staat ist das Ergebnis eines Bruchs mit der herrschenden Strömung der bisherigen deutschen Geschichte. So ist auch das vielbeschworene „nationale Interesse“ nicht immer schon da, so dass es nur noch aufgespürt und der Außenpolitik zugrunde gelegt werden müsste, um dann je nach gusto vielleicht noch das europäische, das westliche und schließlich das allgemeine Interesse drüber zu schichten. Tatsächlich aber entspringt etwa der „Mittellage Deutschlands“ kein spezifisches, zeitloses nationales Interesse, das mit der Vereinigung wieder etabliert worden wäre. Die Bundesrepublik hat sich mit der Vereinigung nicht zur europäischen Zentralmacht[6] gemausert, weil das sich vereinigende Europa keine Zentralmacht kennt und verträgt. Es kennt und braucht Nahtstellen und Knotenpunkte der Integration, zum Beispiel die deutsch-französische Partnerschaft oder die verdichtete Integrationszone von Norditalien, rund um die Alpen, den Rhein entlang über den Kanal bis nach London und England. Es kennt komplexe Gleichgewichtsverhältnisse zwischen großen und kleinen Staaten wie zwischen wechselnden Mächtegruppierungen, die durch die Integration relativiert werden, aber nicht verschwinden. Das Weimarer Dreieck, das Dreieck Frankreich-Großbritannien-Deutschland, Benelux und die Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aber auch die Visegrad-Staaten, die nordische Dimension und die Mittelmeerländer bilden solche sich überlappenden Formationen, ohne die der Integrationsprozess nicht gelingen könnte. Es sind lauter neue Gruppierungen, die es so in der europäischen Geschichte nie zuvor gegeben hat. Es sind nicht die alten europäischen Bündnisse. Die europäische Integration verläuft auch nicht nach dem schlichten Schema von Zentrum und Peripherie. Dies lässt schon die Doppelstruktur der EU als Staaten- und Bürgerunion nicht zu. Über den gemeinsamen Binnenmarkt wird die Tendenz zu einer europäischen Gesellschaft gestärkt, über den Zwang zur Konsensbildung unter den Mitgliedsstaaten behalten auch die kleineren Rand- und Grenzstaaten Gewicht.


Wenn neuerdings das „nationale Interesse“ verstärkt angemahnt wird, dann oft in dem vordemokratischen Verständnis eines Fundamentalbegriffs: als etwas, das vorgegeben, nur noch nicht von allen erkannt ist oder von manchen wissentlich vernachlässigt und verschmäht wird.

Es bleibt ein vordemokratisches Verständnis von nationalem Interesse, es durch Lage oder sonstige Umstände als im Großen und Ganzen vorgegeben anzusehen, so dass es nur noch darauf ankäme, das Interesse aufzufinden, auszugraben und gegen alle denkbaren Widerstände möglichst authentisch durchzusetzen. Ein entgegengesetztes Verständnis liegt der amerikanischen Vorstellung zugrunde, wonach das nationale Interesse sich in demokratischer Auseinandersetzung erst bildet und durch die Mehrheitsentscheidung im Kongress gesetzt wird. In diesem Verständnis hat die Minderheit sich unterzuordnen, weil sie Minderheit geblieben ist, und nicht etwa deshalb, weil sie ein anderes als das nationale Interesse vertreten hätte. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten hat sich von vornherein auf dem Boden der Demokratie entwickelt. So war und ist es selbstverständlich, dass das nationale Interesse in den USA umstritten bleibt, wie es bei ihrer Entstehung aus einer Lostrennung von den europäischen Affären in universalistischer Absicht auch nicht anders sein konnte: Wurde diesen universellen Absichten eher gedient, indem sich die USA aus den Haupt- und Staatsaktionen der europäischen Mächte heraushielten und sich darauf konzentrierten, als Keimform guter Menschengesellschaft Attraktionskraft zu entwickeln und ein Beispiel zu geben? Oder mussten die USA nicht spätestens dann in die Auseinandersetzungen der Mächte eingreifen, wenn von ihnen eine Gefährdung für die gedeihliche Entwicklung der USA selbst ausging? Die Frage war und ist: Wo fängt diese Gefährdung an und wann wird sie zur existenziellen Bedrohung? Die Auseinandersetzungen zwischen „Isolationisten“ und „Internationalisten“ drehten und drehen sich immer um diese Fragen. So können Politiker wie der jetzige Präsident, der zunächst dem Isolationismus zuzuneigen schien, in Reaktion auf ein Ereignis wie den 11. September 2001 von einem Tag auf den anderen zu globalen Interventionisten werden. Der Streit über die nationalen Interessen entspringt im Prinzip der Abwägung, wie den Zielen der USA als „Reich der Freiheit“ am besten zu dienen sei: durch Rückzug auf den Kontinent oder durch militantes externes Eintreten für die Universalien, auf die sich die USA gründen. Wer da bei jeder Handlung der USA nach dem Öl oder anderen handfesten Interessen sucht und nur sie als Motiv gelten lassen will, unterschätzt die Dialektik, die in der amerikanischen Politik seit Gründung der USA als Lostrennung (Besonderung) in universalistischer Absicht am Werk ist. Wenn die Zustimmung zur Irakpolitik der Regierung in den USA zurückgeht, dann ja nicht deshalb, weil die Ölreserven des Irak an Bedeutung verloren hätten, sondern weil die guten Absichten, die den Krieg nicht nur rhetorisch in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit erst rechtfertigten, Gefahr laufen, in Blut und Chaos zu versinken.

Gegenüber den demokratischen Traditionen der US-Außenpolitik sind die Traditionen der europäischen Außenpolitik weitgehend absolutistisch geprägt. In der Rivalität der europäischen Staaten untereinander wurde Außenpolitik als Nullsummenspiel verstanden: Was die eine Macht dazugewann, verlor eine andere, und wenn eine Macht soviel dazu zu gewinnen drohte, dass alle anderen Gefahr liefen, nur noch zu verlieren, taten diese sich zusammen, um die drohende Vormacht (die europäische Universalmonarchie der Habsburger, Bonaparte) abzuwehren. Souveränität in diesem europäischen Verständnis bedeutete zunächst nur absolute Herrschaft im Inneren, also im Wesentlichen Monarchie und nichts sonst.[7] Als gegenseitiges Anerkennungsverhältnis wurde Souveränität erst mit dem Westfälischen Frieden gefestigt. Die französische Revolution und die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, in denen sich die Nationen der Außenpolitik zu bemächtigen begannen, änderten nichts am Verständnis der zwischenstaatlichen Beziehungen als Nullsummenspiel. Es wurde nur in dem Maße, wie die Nationen die Staatshüllen ausfüllten, nationalistisch aufgeladen und umso blutiger durchgezogen.

Das Verständnis der europäischen Staatsbildung als Nullsummenspiel unter Rivalen hat den europäischen Begriff des nationalen Interesses tief geprägt. Im nationalen Interesse liegt, was sich auf Kosten der anderen herausholen lässt. Je schwächer zudem die demokratischen Traditionen in verschiedenen europäischen Staaten sind, desto leichter fällt es, das „nationale Interesse“ über den „Parteienstreit“ zu erheben, und es als natur- oder gottgegeben erscheinen zu lassen, statt es als Ergebnis eines demokratischen Abwägungsprozesses zu begreifen und dementsprechend der Mehrheitsentscheidung zu überantworten. Wenn neuerdings das „nationale Interesse“ verstärkt angemahnt wird,[8] dann oft in dem vordemokratischen Verständnis eines Fundamentalbegriffs: als etwas, das vorgegeben, nur noch nicht von allen erkannt ist oder von manchen wissentlich vernachlässigt und verschmäht wird; als etwas, das für andere Nationen ganz selbstverständlich gegeben ist und nur den Deutschen nicht bewusst als Fundament der außenpolitischen Orientierung dient. Deshalb würde Deutschland im Nullsummenspiel von EU und NATO ständig über den Tisch gezogen und stünde nicht so stark da, wie es das nationale Interesse verlangt.

Wahrscheinlich wird bald niemand, der sich an der außenpolitischen Diskussion beteiligt, um den Begriff des nationalen Interesses noch herumkommen. Entscheidend wird sein, ob der Begriff für die demokratische Abwägung und für die revidierbare Mehrheitsentscheidung offen bleibt; ob er fundamentalistisch verstanden wird oder als Vermittlung von engen und allgemeinen Interessen, von partikularen und europäischen Interessen; ob er universelle Werte reflektiert oder nur engstirnig die Durchsetzung partikularer Ziele motiviert; ob er gemäß den Regeln des Nullsummenspiels funktioniert oder zum Bewusstsein bringt, dass für die Bundesrepublik und Europa alles davon abhängt, dass die internationalen Beziehungen nicht zum Nullsummenspiel regredieren.


Wenn man von nationalen Interessen unbedingt reden will, dann bleiben sie auf allen Ebenen mit Integrationsinteressen vermittelt.

In der tatsächlichen Geschichte der Bundesrepublik mit ihrer Dialektik von Staatsbildung und Integration wurde zwar immer um das richtige Verhältnis zwischen den beiden Seiten des Prozesses gestritten, aber mit der Zeit wurde doch den meisten klar, dass man den Prozess nicht nach der einen oder anderen Seite hin auflösen, ihn weder sachlich noch zeitlich auseinanderreißen kann. Dementsprechend wurde auch nicht auf der einen Seite das nationale und auf der anderen ein zusätzliches europäisches Interesse vermutet. Das deutsche Interesse wie das europäische Interesse wirkten auf beiden Seiten des Prozesses. Sie brachten mit der EU ein neues Europa und mit der Bundesrepublik auch ein neues Deutschland hervor.Wenn man also von nationalen Interessen unbedingt reden will, dann bleiben sie auf allen Ebenen mit Integrationsinteressen vermittelt.

 

Deutschland und der Hindukusch

Der Druck eines engen Verständnisses deutscher Interessen macht sich in den aktuellen Diskussionen um die Beteiligung deutscher Soldaten an internationalen Friedenseinsätzen bemerkbar. Außer in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo steht ein größeres deutsches Truppenkontingent in Afghanistan. Dieser außereuropäische Einsatz erscheint problematischer als die Einsätze auf dem Balkan. Es werden Zweifel angemeldet, ob die Entsendung der Bundeswehrsoldaten überhaupt im deutschen Interesse liegt und ob sie nicht besser im Irak zu stationieren wären. Der Irak liegt näher zur EU und zur Bundesrepublik, wirtschaftlich ist er verglichen mit Afghanistan auch viel interessanter. Unter dem Druck solcher Argumente wird dann zur Rechtfertigung des Einsatzes gesagt, die deutsche Sicherheit werde heute am Hindukusch verteidigt oder, noch verkürzter und schlichter, Deutschland selbst werde dort verteidigt. Hier wird mit falscher Unmittelbarkeit auf Engstirnigkeit reagiert. Die deutschen Soldaten in Afghanistan im Rahmen der von der UNO mandatierten und von der NATO geführten internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) befinden sich nicht zur Selbstverteidigung der Bundesrepublik oder eines Bündnispartners in Afghanistan, sondern um den Weltfrieden zu sichern. Und sie sind dort mit dem Ziel, den Aufbau eines afghanischen Verfassungsstaates zu schützen, dessen Regierung durch das afghanische Volk legitimiert ist und der verhindern kann, dass das Land erneut zur Beute einer bewaffneten Sekte wird, die dem weltweit agierenden, islamistischen Terrorismus als Stützpunkt dient.

Wir sollten vermeiden, unter innenpolitischem Druck durch missverständliche Formulierungen einer exzessiven Auslegung des Rechts auf Selbstverteidigung, wie sie vor allem in der amerikanischen Rhetorik, aber auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zum Ausdruck kommt, weiter Vorschub zu leisten. Auch im Kosovokrieg war die deutsche Beteiligung nicht durch das Recht auf Selbstverteidigung oder die Verteidigung der deutschen Sicherheit legitimiert, sondern durch die Absicht, eine von der UNO konstatierte Gefährdung des Weltfriedens abzuwehren und einen weiteren Vertreibungs- und Vernichtungskrieg auf dem Balkan zu beenden. Auch die gegen den Irak kriegführende Allianz hat ihre Aktion zuletzt nicht mehr durch das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt.

Diese Rechtfertigung steckte hingegen noch in der Behauptung, mit dem Sturz des irakischen Regimes werde die zweite Phase des Krieges gegen den Terror eingeleitet. Dessen erste Phase wurde mit dem Sturz des Talibanregimes und der Zerschlagung des Al-Qaida-Zentrums von den USA mit UNO-Billigung als Selbstverteidigung legitimiert. Auch der Erklärung des Bündnisfalles durch die NATO lag das Recht auf Selbstverteidigung zugrunde. Der Unterschied zwischen dem Kosovokrieg und dem Irakkrieg besteht außer im unmittelbaren Ziel des Regimesturzes darin, dass der Angriff auf den Irak eine gemeinsame und nicht zuletzt durch den Militäraufmarsch der USA Erfolg versprechende Sicherheitsratsaktion einseitig beendete. Im Kosovo hingegen waren vor dem Eingreifen der NATO alle Bemühungen um eine friedliche Regelung bereits gescheitert, ein Sicherheitsratsbeschluss aber blieb durch das russische Patenverhältnis zum serbischen Regime ausgeschlossen und eine militärische Besetzung und Vertreibung durch serbische Truppen und Banden hatte bereits begonnen.

Der Rechtsgrund der Selbstverteidigung ergibt sich unmittelbar aus dem Prinzip der Souveränität. Sie wird durch einen Angriff verletzt. Die Selbstverteidigung dient ihrer Wiederherstellung. Die andere Ausnahme vom Gewaltverbot, die die UNO-Charta neben dem Recht auf Selbstverteidigung kennt, erstreckt sich ausschließlich auf die Sicherung des Weltfriedens. Sie muss durch den Sicherheitsrat bestätigt werden.

 

UNO und Weltgesellschaft

Im Ziel des Weltfriedens und der Verpflichtung, ihn zu sichern, wird vermittelt über den UNO-Rahmen eine Vorstellung von Weltgesellschaft geltend gemacht, wie sie auch in der Deklaration der Menschenrechte und vielen anderen UNO-Deklarationen und Konventionen zum Ausdruck kommt. Die UNO bewegt sich an der Nahtstelle von Staatenwelt und Weltgesellschaft. Im Selbstverteidigungsrecht ragt unverhüllt der Hobbessche Naturzustand in den UNO-Rahmen hinein, der jedoch insgesamt im Kantischen Sinne mit dem Weltfrieden den Entfaltungsraum der menschlichen Gesellschaft weltweit zu sichern versucht. Die Globalisierung macht das Vermittlungsproblem von Staatenwelt und Weltgesellschaft akut, indem sie über die weltwirtschaftliche Vernetzung und die Verdichtung der globalen Kommunikationsräume letztere aus dem Ideenhimmel auf den Boden der Tatsachen verpflanzt. Das Pflänzchen kann ohne die Sicherheit der Staatenwelt nicht gedeihen, zugleich aber kann die Staatenwelt nicht mehr in den Naturzustand zurückfallen, ohne die eigenen Existenzbedingungen zu untergraben.

Die USA und die europäischen Staaten nähern sich diesem Vermittlungsproblem von entgegengesetzten Seiten und unter verschiedenen Gesichtspunkten. Die USA stellen die individuell-gesellschaftliche Seite mehr in den Vordergrund und haben dementsprechend gelegentlich wenig Skrupel, in die inneren Verhältnisse anderer Staaten zu intervenieren. Die europäischen Staaten folgen mehr staatlich-kooperativen Gesichtspunkten und scheuen sich oft, auch nur öffentlich zu protestieren, wenn individuelle Rechte in anderen Staaten mit Füßen getreten werden. Die unterschiedliche Herangehensweise prägt auch die Stellung zur UNO. Die USA haben die UNO-Gründung betrieben, um die Anarchie der (europäischen) Staatenwelt einzuschränken und ihr etwas von jenem Universalismus zu verschreiben, der sie selbst in Bewegung hält. In der Nachkriegszeit führten dann immer neue Beitrittswellen zur Universalisierung einer Staatenwelt, die zwar aus dem Ende der europäischen Imperien hervorging, in der Form jedoch an das europäische Staatensystem anschloss. Individuell-gesellschaftlicher Universalismus in der Tradition der USA mit seiner weltweiten Ausstrahlung und Universalisierung des europäischen Staatensystems in der Tradition der europäischen Mächte können immer wieder zu Spannungen zwischen den USA und der UNO führen. Warum sollten die USA akzeptieren, dass Diktaturen über ihre Politik mitentscheiden? Wie könnten sie zulassen, dass amerikanische Bürger sich unter Umständen vor einem Gericht verantworten müssen, auf dessen Zusammensetzung Staaten Einfluss genommen haben, die sich nicht einmal entfernt an den rechtsstaatlichen Kriterien der USA messen lassen? Neben engen wirtschaftlichen Interessen wie im Fall des Kyoto-Protokolls sind es diese wohlbegründeten Einwände, die die USA in Widerspruch zur UNO versetzen. Wie sollen sie sich als Staat unter Staaten bewegen, wenn die Staatenwelt aus Staaten zusammengesetzt ist, die den eigenen, universal verstandenen Maßstäben nicht genügen? Umgekehrt lassen sich die europäischen Staaten ungern für die Verteidigung der Menschenrechte und die Sicherung des Weltfriedens in die Pflicht nehmen, wenn ihre eigene Haut nicht unmittelbar gefährdet ist. In den Reibungen zwischen den USA und der UNO machen sich auch die unterschiedlichen außenpolitischen Traditionen der USA und Europas bemerkbar. Aber gerade diese unterschiedlichen Traditionen können die USA und die EU zu Protagonisten der notwendigen Vermittlung von Staatenwelt und sich mit der Globalisierung heranbildender Weltgesellschaft werden lassen. Ihr Zusammenwirken kann jene ausgreifende Allianz von Demokratien initiieren, die im Rahmen der UNO eine unverzichtbare und ausreichende Ordnungsmacht bilden kann.


Globale Integrationspolitik

Mit dem Ende der bipolaren Blockordnung ist es mit dem „Polarismus“ in der Staatenwelt überhaupt vorbei. Die Blockordnung war das Ergebnis des Versagens des mehrgewichtig zusammengesetzten europäischen Gleichgewichtssystems, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts schon selbst zur Bipolarität tendierte und in die beiden Weltkriege mündete, um dann einer von den beiden europäischen Flügelmächten beherrschten Blockordnung den Weg zu bereiten. So wirkte noch einmal ein grob vereinfachtes quasieuropäisches Gleichgewichtssystem als globaler Ordnungsmechanismus der Staatenwelt – schon am Rande des Abgrunds. Die Bipolarität hat nun weder einer Unipolarität noch einer Multipolarität Platz gemacht,[9] aber auch nicht einer „ganz normalen Anarchie“[10]. Die Welt ist nicht mehr polar angelegt, aber auch nicht anarchisch. Ihre Ordnung muss erst geschaffen werden. Wenn nicht ein weiterer Zyklus gegensätzlicher Polbildung eröffnet werden soll, die bestenfalls in einem neuen Gleichgewicht des Schreckens münden könnte, dann muss die internationale Politik, und speziell die Außenpolitik der Bundesregierung, deren Staatsräson Integration immer einschloss, ja voraussetzte, den Vorrang der globalen Integrationstendenzen gegenüber dem Nullsummenspiel der Mächterivalitäten sichern. Die Globalisierung bereitet einer solchen Politik selbst den Boden und der islamistische Terrorismus könnte sich als entscheidender Faktor erweisen, um sie zu festigen. So wie auf „alteuropäischem Boden“ eine Zeitlang ein mehrgewichtiges Gleichgewichtssystem den Frieden unter den Mächten sichern konnte, weil das gemeinsame dynastische Interesse die Rivalitäten zügelte, so könnte ein gemeinsames antiterroristisches Interesse die Rivalitäten unter den heutigen Mächten kanalisieren, wenn dafür das Integrationsinteresse in einer globalisierten Welt allein nicht ausreicht.

Wenn nicht ein weiterer Zyklus gegensätzlicher Polbildung eröffnet werden soll, die bestenfalls in einem neuen Gleichgewicht des Schreckens münden könnte, dann muss die internationale Politik, und speziell die Außenpolitik der Bundesregierung, den Vorrang der globalen Integrationstendenzen gegenüber dem Nullsummenspiel der Mächterivalitäten sichern.

Für die Bundesrepublik und die Mitgliedsstaaten der EU ist ein solcher feindlicher Anstoß wohl nicht notwendig, weil die eigenen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte bereits gezeigt haben, dass das Zusammenlegen (das „Pooling") von Souveränitäten auf Basis der Ausbildung eines gemeinsamen Binnenmarktes eine angemessene Methode ist, um das Spannungsverhältnis von territorial-staatlicher Souveränität und grenzüberschreitender transnationaler Vernetzung und damit die Anforderungen der Globalisierung einigermaßen zu meistern.

Eine deutsche Integrationspolitik lässt sich auf verschiedenen Ebenen umreißen, die nicht hierarchisch anzusetzen, sondern in ihrem Wechselverhältnis zu begreifen und zu nutzen sind:

Innere Integration der Bundesrepublik: Sie wird eine größere finanzielle Bewegungsfreiheit der Städte und Gemeinden verlangen, um die Chancen der regionalen Vernetzung in einer erweiterten Union zu nutzen und so das Leitbild gleicher Lebensverhältnisse partiell abzulösen durch einen breit angelegten Versuch, die je spezifischen Chancen im europäischen Integrationsprozess möglichst angemessen zu nutzen. Bessere Entfaltungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden werden auch die Mobilität der Individuen erleichtern und dazu beitragen, dass diese nicht nur als Zwang, sondern auch als Chance begriffen wird.

Vergesellschaftung der Integration in der EU: Mit der Unionsbürgerschaft und der Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für EU-Bürger/-innen bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europaparlament ist ein wichtiger Schritt schon getan. Der Europäische Gerichtshof hat sich bisher immer als Sachwalter der Vergesellschaftung der Integration und der Stärkung der individuellen Rechte im Integrationsprozess betätigt. Mit der Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen wird der Einfluss des Europäischen Parlaments und damit der Unionsbürgerschaft gestärkt. Die Aufnahme der Grundrechtscharta in die Europäische Verfassung wird die europäische Dimension der Staatsbürgerschaft sichtbarer machen.

Erweiterung der EU: Der Beitritt der neuen Mitglieder zur EU ist entscheidend, bedeutet aber kein Ende der Anstrengungen,  die frühere Schranke des Eisernen Vorhangs schließlich ganz zu überwinden. Durch die grenzüberschreitende Vernetzung der Regionen über die städtischen Knotenpunkte wird nicht nur eine nachholende Entwicklung in den neuen Mitgliedstaaten in Gang gesetzt, sondern erhält die europäische Integration auch für die bisherigen Mitglieder der Union eine neue Dimension. Mit ihren Chancen für Ostdeutschland ist die Erweiterung der EU zugleich eine wichtige Bedingung der inneren Integration der Bundesrepublik.

Verbliebene Erweiterungsvorhaben: Mit der Absicht, Rumänien und Bulgarien, wenn möglich auch die Türkei und dann die Balkanländer in die EU aufzunehmen, greift die EU definitiv über die Kulturschranken der orthodoxen und der islamischen Tradition hinaus. Sie kann damit Erfolg haben, wenn die innere Integration in den bisherigen Mitgliedsstaaten vorankommt und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse als Beispiele attraktiv bleiben.

„Wider Europe“ und Nachbarschaftspolitik: Die Fortschritte bei der Erweiterung der EU zeigen deutlich, dass diese Form der Integration weder beliebig ausgedehnt noch die einzige bleiben kann. Darauf antwortet die EU mit einer Neukonzeption der Nachbarschaftspolitik. Im Osten trifft die EU mit ihrer jetzigen Erweiterung verstärkt auf ein regionales Kraftfeld mit Russland als Zentrum. Schlichte historische Erfahrung spricht für die Anerkennung dieser Tatsache, was auch Auswirkungen auf die Politik der EU gegenüber der Ukraine und Weißrussland haben wird. Entgegen vieler Prophezeiungen scheint die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) nicht als leere Hülle zu enden, sondern zunehmend zum Rahmen eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes zu werden, dessen Wurzeln weit über die Zeiten der Sowjetunion zurückreichen. Dieser gemeinsame Wirtschaftsraum wird insgesamt von einer geregelten Zusammenarbeit mit der EU profitieren und Teil eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes werden können. Ziel der Integrationspolitik der EU müsste es sein, durch bilaterale Beziehungen zu den GUS-Mitgliedern deren politische Unabhängigkeit zu stärken und dazu beizutragen, dass dieses neue „Zwischeneuropa“ nicht zu einem Feld der Rivalität zwischen Russland, der EU und den USA wird, sondern in einem gesamteuropäischen Wirtschaftsraum auf Basis von wirtschaftlicher Interdependenz Raum zur Selbstbestimmung findet. Entscheidend für den Erfolg einer Politik dieser Orientierung wird die innere Entwicklung Russlands bleiben. Im Süden wird die Nachbarschaftspolitik am Mittelmeer durch den Mangel an innerer Kohärenz und Integration der Nachbarn erschwert. Der Barcelonaprozess kommt nicht voran, solange sich der Nahost-Konflikt verschärft.

Integration des Westens: Soweit mit Grenze Trennung assoziiert wird, zieht der Atlantik keine Grenze, denn er sichert Verbindung. Eine irrtümliche kontinentale Raumvorstellung zoomt Russland an die EU heran und verpflanzt die USA mit dem Blick durch das umgedrehte Fernrohr in große Ferne. Der Westen hat freilich nicht nur eine große gemeinsame politische Vergangenheit. Er ist durch dichte Austauschbeziehungen enger verknüpft als jeder andere überregionale Raum auf dem Globus. Die gegenwärtigen Zwistigkeiten und das getrennte Vorgehen im Krieg gegen den Irak rufen auf beiden Seiten des Atlantiks typische Symptome von Phantomschmerz nach Amputation hervor. Der Westen ist die attraktivste kontinentüberscheitende Verdichtungszone globaler wirtschaftlicher und politischer Integration. Die NATO ist ihre wichtigste politische Institution, grundlegend bleiben jedoch die vielen zivilgesellschaftlichen Vernetzungen zwischen der EU und den USA. Sicher wird das Gewicht der EU im Westen wachsen, wenn die Erweiterung gelingt und die Nachbarschaftspolitik im Osten Erfolge zeitigt. Falls EU und USA freilich die russische Karte gegeneinander ausspielen wollten, würde nur der gesuchte Herzbube zu lachen haben.

Die EU als Pionier: Die EU-Integration kann nicht als Modell exportiert werden. Zu spezifisch ist ihr historischer Hintergrund, sind ihre Entstehungsbedingungen im Kalten Krieg und war der hohe Grad an städtischer und kommunaler Vernetzung, den die EWG durch Überwindung der nationalen Schranken nur erneut zur Wirkung kommen lassen musste. Indem aber die EU eine auch anderswo anwendbare Methode entwickelt, wie kleinere und mittlere Staaten dem grundlegenden Spannungsverhältnis von Souveränität und Vernetzung begegnen können, ermutigt sie die Bemühungen der ASEAN und entsprechende Initiativen in Südamerika und Afrika, die Globalisierung zu meistern. Die EU zeigt, dass Liberalisierung und Öffnung zum Weltmarkt durch regionale Integration nicht erschwert, sondern erleichtert wird. In der Agrarpolitik hinkt sie allerdings hinterher.

In all diesen Formen und Arenen der Integration können die Bundesrepublik und die EU Erfolge erzielen, die sich gegenseitig verstärken. Jede Schwäche auf einer dieser Ebenen wird dagegen ihre Integrationspolitik insgesamt schwächen.

Ein Kurzschluss der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen mit Terrorismus und skrupellosen Diktaturen wäre der Supergau jeder internationalen Politik. Als unmittelbares Bedrohungsszenario taugt er wenig. Als mögliche Gefahr muss er dazu anspornen, die einzelnen Stränge, die zu diesem Kurzschluss führen können, rechtzeitig zu isolieren und ihnen die Energiezufuhr zu kappen. Das kann niemand allein, das können auch keine von Fall zu Fall multibilateral[11] geschmiedeten Koalitionen der Willigen. Das kann vielleicht eine globale Integrationspolitik, die den UNO-Rahmen stärkt und ihm mit einer alliierten Ordnungsmacht von Demokratien ein solides Fundament verschafft. In diesen Zeiten der Globalisierung wäre eine „Heilige Allianz“, die die Chancen der Globalisierung verteidigt, keine reaktionäre Angelegenheit.


[1] In einer Diskussion des Council on Foreign Relations, Ende September 2003.

[2] Als ein Beispiel für viele „Wiedergänger“: „Seit 1990 hat Europa wieder einen Mittelpunkt: Deutschland.“ Mit diesem ersten Satz des ersten Kapitels schlägt Gregor Schöllgen auf S. 11 den Ton an für Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 2003.

[3] 1989 markiert den Fall der Mauer; 1991 markiert den Zusammenbruch des Sowjetimperiums.

[4] Die Anführungszeichen sollen zur Vorsicht gegenüber dieser allzu geläufigen Redewendung mahnen (s.u.).

[5] Vgl. hierzu die frühzeitige Kritik bei Günter Trautmann, „Das hilflose Europa. Illusionen und Realitäten internationaler Krisenpolitik“, in: Josip Furkes/Karl-Heinz Schlarp (Hg.), Jugoslawien: Ein Staat zerfällt. Der Balkan – Europas Pulverfass, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 177-192

[6] Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. Schöllgen war nicht der erste „Wiedergänger“, wie der Untertitel zeigt (siehe Anm. 2).

[7] Vgl. hierzu Jean Bodin, nach dem das „Hauptmerkmal der souveränen Majestät und absoluten Gewalt vor allem darin besteht, allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze auferlegen zu können“. Über den Staat, Stuttgart 1976, S. 31 f.

[8] Siehe z.B. Karl Feldmeyer, „Was Deutschlands Interesse ist“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.8.03; Andreas Rinke, „Wo und warum?“, Handelsblatt vom 21.8.03; Richard Meng, „Eine Frage der Prinzipien“, Frankfurter Rundschau vom 23.8.03; Christoph von Marschall, „Wo Deutschland was zu suchen hat“, Der Tagesspiegel vom 23.8.03; Alan Posener, „Kundus und Bagdad“, Die Welt vom 1.9.03; Jan Ross, Ratlos nach New York, Die Zeit vom 18.9.03

[9] Sowohl der „unipolar moment“ eines Charles Krauthammer (Foreign Affairs 70/1, 1990/91, S. 23-33) als auch die „multipolare Welt“ sind nur von der bipolaren Welt abgeleitete Vorstellungen, die ohne sie allen Sinn verlieren. Entweder ist die Welt (bi-)polar oder gar nicht polar. Unipolarität und Multipolarität sind polemische Begriffe in Auseinandersetzung mit der Welt des Kalten Krieges und der beiden Supermächte. Der „unipolar moment“ ist der erleichterte Stoßseufzer, das „Endlich!“ einer universell orientierten Macht. Die Multipolarität war ein Postulat an die Vorherrschaft der Supermächte der Blockordnung. Heute verbergen die Begriffe Uni- und Multipolarität gleichermaßen die politischen Herausforderungen einer Welt ohne Ordnungsmechanismus.

[10] Jürgen von Alten, Die ganz normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, Berlin 1994.

[11]  Multi-bi-lateral soll die spezifische Form eines Multilateralismus beschreiben, in der eine überlegene Weltmacht mit möglichst vielen einzelnen Staaten koaliert. In einer solchen Koalition der Willigen entsteht kein multilaterales Netzwerk unter gleichberechtigten Staaten, sondern eine Vielzahl bilateraler Beziehungen zwischen dem Zentrum der Koalition und den an der Koalition beteiligten Staaten. Das Zentrum behält in jeder dieser Beziehungen unabhängig vom Gewicht der politischen Argumente unbestreitbar das Übergewicht.

Joscha Schmierer *1942;

Historiker; Auswärtiges Amt, Berlin;
joscha.schmierer@t-online.de

 

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