Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 1/2004

 

 


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vorläufige Version

Zwischen Renationalisierung und Europäisierung
Ein polnischer Blick auf Deutschland

Adam Krzeminski* 

Seit der Wiedervereinigung hat sich Deutschland schrittweise von politischen Selbstbeschränkungen befreit. Während historisch begründete Hemmschwellen sinken, wird die Rolle deutscher Opfer neu betont. Die Revision deutscher Nachkriegsgesinnung löst gerade in Polen Befürchtungen aus und belastet die bilateralen Beziehungen, die Prüfstein für die Europafähigkeit beider Staaten sind.

Als das neue Jahrtausend begann, schienen die Weichen für die Zukunft Deutschlands, seiner Nachbarn und Europas - wenigstens jenes, welches die sich, wie es hieß, immer mehr erweiternde und vertiefende Europäische Union bildete - sicher gestellt zu sein. Aus der Perspektive der ostmitteleuropäischen Aspiranten stimmte alles, oder doch zumindest das meiste. Die NATO gab ihnen den Sicherheitsrahmen, und der Kosovo-Krieg hatte gezeigt, dass die Anwesenheit der Amerikaner auf dem alten Kontinent auch weiterhin bitter nötig ist. Dass die Deutschen – gerade unter der rot-grünen Regierung – im Krieg gegen das Milosevic-Regime mit von der Partie waren, erweckte keinen Groll in Ländern wie Polen, die im Zweiten Weltkrieg die Wucht der deutschen Waffen und der deutschen Ausrottungspolitik bis an die Grenze der biologischen Existenz der Nation erlitten hatten. Die Deutschen seien endlich im Westen angekommen und würden dort bald, versöhnt und kooperativ, innere Nachbarn der Polen oder der Tschechen sein. Der Spruch, Deutschland sei der „Anwalt“ der Ostmitteleuropäer in Brüssel, machte die Runde, und nur selten überlegte man dabei, dass diese Metapher ihren Haken hat. Ging es dabei um eine „Pflichtverteidigung“ aufgrund der historischen Schulden oder um eine „normale“ Interessenvertretung, die die Mandanten selbstverständlich auch etwas kosten würde?

Zwar gab es immer noch bilaterale Spannungen und ungelöste Fragen: die Einzelheiten der Beitrittsverhandlungen etwa, vor allem den freien Bodenkauf in Polen und den freien Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland. Dann die historischen „Hängepartien“: die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter, die „Beutekunst“ und die immer wieder von den Vertriebenenverbänden erhobenen Forderungen nach einem Widerruf der Beneš- und Bierut- (nicht aber der Stalin-) Dekrete. Doch die Tragfähigkeit der 1990 vom deutschen und polnischen Außenminister, Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski, proklamierten deutsch-polnischen Interessengemeinschaft war so groß, dass im Januar 2000 die seinerzeitigen Außenminister beider Länder, Joschka Fischer und Bronisław Geremek, in einem gemeinsamen Artikel einen deutsch-polnischen "Oderbund" für das 21. Jahrhundert skizzierten.

Es ging dabei nicht um irgendwelche deutsch-polnischen Extratouren in Europa, sondern um eine Vision für eine intensive vor allem wirtschaftliche und bildungspolitische Zusammenarbeit entlang der Oder-Neiße-Grenze, mit dem Ziel, gerade aus dieser – heute so verschlafenen - Grenzregion ein „Schwungrad“ für diesen Teil Mitteleuropas zu machen. Anders als noch zehn Jahre zuvor, als Manfred Stolpe seinen Plan vorlegte und damit in Polen Misstrauen erntete, ging diesmal die Initiative von Warschau aus, und Joschka Fischer konnte sich ihr nicht entziehen. Seine einzige Bitte war, den deutsch-polnischen Text nicht überregional in der „Frankfurter Allgemeinen“, sondern etwas mehr "im Abseits" - im „Tagesspiegel“ - zu veröffentlichen. In seiner berühmten Europa-Rede an der Humboldt-Universität, die wenige Monate später die große „Fischer-Debatte“ über die Finalität der EU in Gang brachte, wurde der Auftrag der deutsch-polnischen Beziehungen nicht mehr erwähnt, es ging ja in dieser Rede mehr um die EU-Strukturen und nicht um Bilaterales oder gar Nationalinteressen. Doch wie der Berliner EU-Gipfel 1999 und dann der Europäische Rat von Nizza 2000 zeigten, spielen in praktischen Belangen in der EU letztendlich doch nationale Interessen eine Rolle, und sie kommen nicht nur gegenüber den Konkurrenten unter den Mächtigen, sondern auch gegenüber den Nachbarn besonders zur Geltung.

 

Deutsche Neuorientierung: aber wohin?

Die Folgen des 11. September 2001 sprengten die bisherigen Koordinaten nicht nur in der atlantischen Allianz, sondern auch in der EU. Die “uneingeschränkte Solidarität“ mit Amerika wurde in einigen Ländern brüchig, in anderen dagegen blieb sie unumstritten. Die Folge war nicht eine gewöhnliche Meinungsverschiedenheit, sondern eine Spaltung in der EU und der NATO. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU erwies sich als Fiktion, und Javier Solana, 1999 zum „Mr. Europe“, also quasi zum ersten EU-Außenminister gewählt, war ein Admiral ohne Häfen und Flotte.

Der Irak-Krieg führte zu einem Schisma in der EU, in der NATO und im Westen überhaupt. Seitdem beide Lager, die „Hilfswilligen“ Amerikas und die „Protestanten“ um Deutschland und Frankreich, sich gegenseitig die Schuld an dem Bruch zuschieben, ist Heinrich August Winklers These,[1] dass Deutschland nach seinem langen Marsch durch die Geschichte endlich im Westen angekommen sei und sich von seinen Sonderwegen verabschiedet habe, nicht mehr so evident. Denn - in welchem Westen? Es gibt ja mehrere: das amerikanische „neue Rom“ mit seinen „Randeuropäern“, und das friedliebende, vergeistigte „neue Griechenland“ der „Kerneuropäer“ mit Russland und China im fernen Hintergrund.


Diese neue, größere Bundesrepublik hatte 1990 keine klare Grundlage, auf der sich das deutsche Selbstbewusstsein hätte aufrichten können.

Der Streit mit den USA um den Irak-Krieg habe Deutschland endlich emanzipiert und wirklich souverän gemacht, hört man nun von deutschen Publizisten wie Jürgen Elsässer[2], Strategen wie Egon Bahr[3] und Zeithistorikern wie Gregor Schöllgen[4]. Allerdings sind sie sich nicht einig, ob damit der berüchtigte „deutsche Sonderweg“ zu Ende sei oder erst richtig beginne. Heinrich August Winkler meint, so wie 1945 der antiwestliche Sonderweg des Deutschen Reiches jäh abgebrochen wurde, so endeten 1990 auch der „postnationale Sonderweg“ der alten Bundesrepublik und der internationale der DDR. Die neue Bundesrepublik sei ein demokratischer, postklassischer Nationalstaat, der - wie andere – Souveränitätsrechte an die EU und die NATO übertragen habe.

Nun hatte aber diese neue, größere Bundesrepublik (die aber immer noch „das kleinste Deutschland“ war, wie Herbert Czaja, der seinerzeit in Polen berüchtigte Vertriebenenfunktionär beklagte) 1990 keine klare Grundlage, auf der sich das deutsche Selbstbewusstsein hätte aufrichten können. Vor allem war es der Wohlstand, also Otto Schilys berühmte Banane, die Jürgen Habermas subtiler als „DM-Nationalismus“ bezeichnete. Dann war da immer noch die postnational-europäische Gesinnung, die die gleichzeitige Vertiefung und Erweiterung der EU voranzutreiben veranlasste und in der hübschen Legende von dem berühmten Deal Helmut Kohls mit François Mitterrand - "der Euro für die Vereinigung Deutschlands" - mündete. Derselbe Kohl war aber machtbewusst genug, um die Polen 1990 mit der Verzögerung der Annerkennung der Oder-Neiße-Grenze wochenlang zu brüskieren. So penibel war der gelernte Historiker auf die Symbolik seiner Kanzlerschaft bedacht, dass unter dem endgültigen Grenzvertrag die Unterschrift Hans-Dietrich Genschers und nicht die eines CDU-Kanzlers steht. Und 1995 demonstrierte Kohl sehr genau die europäische Hackordnung, als er im Mai den 50. Jahrestag des Kriegsendes nur unter Großmächten feierte, Tschechen und Polen dagegen, die ersten Opfer der deutschen Aggression, als zu klein und unbedeutend überging. Nicht der Zweite Weltkrieg als solcher, nicht die Verwüstungen und die Versklavung ganzer Völker in Ostmitteleuropa, nicht die vorsätzliche Vernichtung des Kulturerbes der „minderwertigen“ slawischen Völker, sondern nur ein zentrales Fragment der nazistischen Vernichtungsmaschinerie, die deutsche Schuld am Holocaust, sei „geistiger Wendepunkt der modernen deutschen Nation“ und somit für die Bildung der neuen deutschen Identität so wichtig wie das Jahr 1789 „im Kanon des französischen Denkens“, zitiert Winkler zum Schluss Peter Glotz' Äußerung aus dem Jahre 1990.[5]

Verschiebung der Identitätssuche: Vom Schuld- zum Opferbewusstsein

Zehn Jahre lang stritten die Deutschen darüber, wie sie dieses Fundament ihrer demokratischen Identität in Granit und Basalt für die nächsten Generationen fassen sollten. Der eindrucksvolle symbolische Kirkut (d.h. jüdische Friedhof) über dem versiegelten Bunker von Goebbels ist das materielle Ergebnis dieser Debatte. Das politische dagegen kann man im Einsatz deutscher „Tornados“ 1999 im Kosovo-Krieg sehen. Sowohl Außenminister Joschka Fischer als auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping begründeten das deutsche militärische Engagement damals mit Verweisen auf Auschwitz. Ein zweiter Holocaust müsse verhindert werden. In den Berichten aus dem Kosovo sahen die Deutschen mit ihren inneren Augen jedoch weniger die Gaskammer und die Krematorien von Auschwitz als eine Neuauflage der Vertreibungen, die sie vor über fünfzig Jahren selbst erlitten hatten. Ein Sprung vom Schuld- zum Opferbewusstsein war dann nicht schwer. Und die führende Rolle, die Lea Rosh bei der Forcierung des Holocaust-Mahnmales gespielt hatte, übernahm nun eine CDU-Politikerin, Erika Steinbach, für ein Projekt, das - wie man ursprünglich sagte -historisch und räumlich in der Nähe des Holocaust-Mahnmales angesiedelt werden sollte: das Berliner Zentrum gegen Vertreibungen. Dass ausgerechnet Peter Glotz die zweite wichtige Person dieses Unternehmens ist, belegt nur, wie stark sich die deutsche Identitätssuche in den ersten zehn Jahren der neuen deutschen Souveränität verschoben hat.


In den Berichten aus dem Kosovo sahen die Deutschen mit ihren inneren Augen weniger die Gaskammer und die Krematorien von Auschwitz als eine Neuauflage der Vertreibungen, die sie vor über fünfzig Jahren selbst erlitten hatten. Ein Sprung vom Schuld- zum Opferbewusstsein war dann nicht schwer.

Sie erfolgte in mehreren Schüben. Zuerst gewann Ernst Nolte nach dem Zerfall des Kommunismus und der Vereinigung Deutschlands nachträglich den „Historikerstreit“, den er 1986 gegen Jürgen Habermas verloren hatte. Die Ostmitteleuropäer bezeugten ihm, dass man Auschwitz durchaus mit dem Gulag vergleichen könne. Der Holocaust sei also nur bedingt singulär. Dann kam die Goldhagen-Debatte, die der gutaussehende Amerikaner medial gewann und die junge Generation der Deutschen für die Mittäterschaft, zumindest aber für die Mitwisserschaft der „gewöhnlichen Deutschen“ an den Massenmorden an Juden und KZ-Häftlingen sensibilisierte. Doch seine Grundthese vom „eliminatorischen Antisemitismus“ der Deutschen bereits im wilhelminischen Deutschland fand mit Recht kein Verständnis. Das Schuldbewusstsein war aber damit eingehegt auf das Dritte Reich. Dann kam die Walser-Debatte, die bei vielen jungen Leuten Ignaz Bubis verlor: Denn Walsers Einspruch gegen die „Moralkeule“ der ständigen Verweise auf Auschwitz traf die Seelenlage der Generation Golf: Es ist unsinnig, uns, die wir dreißig Jahren nach dem Krieg geboren wurden, ständig zu zwingen, ein Büßerhemd anzulegen und uns Asche aufs Haupt zu streuen. Spaß muss sein. Und – wie Florian Illies[6] am Anfang seines Buches bemerkt – Harald Schmidts „Polenwitze“ hatten für diese Generation eine befreiende Funktion. Polen war nie ein solches Tabu wie die Juden gewesen, aber als ein „Opfervolk“ im Zweiten Weltkrieg und dann im Kriegszustand 1981 unterlag es den Selbstbeschränkungen einer gewissen „political correctness“ oder einfach der „guten Erziehung“. Da die Hemmschwelle nie so hoch gewesen war, und die alten Raster der Verachtung gegenüber dem rückständigen Volk und „der polnischen Wirtschaft“ weiterhin virulent waren, fiel auch die Umstellung von der "unterdrückten Solidarnosc" auf den "barbarischen Polenmarkt" nicht schwer. Und im Topos der polnischen Autodiebe konnte man unterschwellig sehr leicht die unausgesprochene Assoziation "Volk der Diebe" heraushören: Sie klauen Schlesien, Autos und nun auch deutsche Arbeitsplätze. In der EU sind sie lediglich hinter den Geldern der Nettozahler her, und im Irak wollen sie obendrein als "trojanischer Esel Amerikas" am Krieg gewinnen. Sie spielen sich nur auf und sind nicht einmal imstande, eine vernünftige Automarke auf den Weltmarkt zu bringen.

Dies sind vielleicht krass überzeichnete Stimmungslagen, doch keineswegs Projektionen. Die Reserve gegenüber Polens Aufnahme in die EU, die gerade die Eurobarometer in Deutschland anzeigten, wie auch die niedrige Position der Polen auf dem deutschen Thermometer der Sympathie belegen, dass in der deutschen Gesellschaft nach wie vor historisch viel ältere Aversionen gegen den östlichen Nachbarn existieren als die durch die Grenzveränderungen und den „Bevölkerungsaustausch“ von 1945 verursachten. Und, was noch wichtiger und bedenklicher ist: Die Selbstkorrektive sind in der deutschen Tradition schwächer als in anderen historisch belasteten Fällen, etwa dem deutsch-französischen, dem deutsch-russischen, deutsch-amerikanischen oder deutsch-israelischen.

Emanzipation und Revision: Deutschlands neuer Auftritt

Deutschland und die Deutschen emanzipierten sich nach 1990 stufenweise von den Beschränkungen der Nachkriegszeit. Diese Selbstbefreiung spielte sich allerdings mehr in den Köpfen als in der Realität ab. Die "größere" Bundesrepublik löste ja nicht die Bündnisverpflichtungen, sie änderte nur ihren „Auftritt“, wie Gregor Schöllgen sein Buch über die „Rückkehr Deutschlands auf die Weltbühne“ betitelte. Und sie prüfte der Reihe nach die politischen und mentalen Bremsen, die ihr zum Teil eingebaut worden waren, die sie sich zum Teil aber auch selbst eingebaut hatte.

Die erste Revision betraf verständlicherweise den Abbau der Rücksichten auf Moskau. Die UdSSR hatte kaum je moralische Autorität, dafür aber physische Macht gehabt und war unumstritten der eigentliche Sieger von 1945 in Europa. Dass sie der reale Verlierer des Kalten Krieges war, wollte man in Bonn lange nicht glauben. Erst als der Erosionsprozess der sowjetischen Macht, erkennbar an der Erstarkung der Bürgerbewegungen wie der "Solidarność", einen Reformer an die sowjetische Spitze brachte, versuchte auch die Bonner Politik Grenzen des Möglichen zu prüfen. Die geschmeidige Herauskomplementierung der sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa war kein ausschließliches Verdienst von Helmut Kohl, aber doch maßgeblich auch seins. Die herzliche Freundschaft, die er Gorbatschow zollte (nachdem er ihn kurz zuvor noch mit Goebbels verglichen hatte), und die frenetischen „Gorbasmen“ der Deutschen waren nur ein Bonbon für den Rückzug der Sowjetarmee aus Deutschland (und der Geschichte), für den die Bundesrepublik (und der Westen) einen unerwartet geringen Preis zu zahlen hatte. Die naive Hoffnung Gorbatschows auf eine Partnerschaft der UdSSR mit dem Westen zerstob ebenso im Wind der Geschichte wie die Milliarden, die aus der Bundesrepublik für den Rückzug an Moskau flossen. Der Sieger des Zweiten Weltkrieges wurde somit zum großen Verlierer des Kalten Krieges. Die Nutznießer sind vor allem die vereinten Deutschen und die von der sowjetischen Oberherrschaft befreiten Ostmitteleuropäer. Der unterschwellige Verlierer des Jahres 1989 in Westeuropa, Frankreich, wurde durch die deutsche Umarmung und die Betonung der tragenden Rolle des deutsch-französischen "Motors" und des "harten Kerns" vertröstet. Doch als die eine - sowjetische - Leine, an der Deutschland in der Nachkriegszeit verankert war, riss, wurden bald auch die anderen revisionsbedürftig.


Deutschland und die Deutschen emanzipierten sich nach 1990 stufenweise von den Beschränkungen der Nachkriegszeit.

Die deutsche Emanzipation gegenüber den USA brauchte zehn Jahre mehr als die gegenüber der Sowjetunion. Es ist durchaus eine Ironie der Geschichte, dass der Bundeskanzler das deutsch-amerikanische Zerwürfnis ausgerechnet mit dem Sohn jenes US-Präsidenten austrägt, dem die Deutschen weitgehend ihre Vereinigung und Souveränität verdanken. War es doch George Bush senior, der im Frühjahr 1989 Kohl zuflüsterte, dass sich in der Deutschlandpolitik ein "window of opportunity" öffne, und ihn ermutigte, Gas zu geben, als der Kanzler noch zauderte. Und es war auch Bush, der Gorbatschow das Einverständnis dazu abrang, das vereinte Deutschland in der NATO aufzuheben, denn sonst „könnte das keiner“. Nicht das deutsche Pausieren im Irak-Krieg nach einer stufenweisen Einübung in die Übernahme militärischer Verantwortung im Rahmen von Blauhelmeinsätzen (Somalia, Kambodscha, Bosnien), der NATO (Kosovo), des amerikanischen Antiterrorkriegs (Afganistan) hat "den Westen" gespalten", sondern die Wucht der antiamerikanischen Emotionen, die zuerst 1991 und dann 2003 zum "deutschen Weg" stilisiert wurden. Man muss nicht Dan Diners These teilen, wonach der deutsche Antiamerikanismus irrational-missionarische Merkmale wie der Antisemitismus habe, doch die Kontinuität in den Denkfiguren der deutschen antiamerikanischen Ressentiments ist schon bedenklich. Da verbirgt sich ein viel älterer Bodensatz als die Empörung über den „imperialen Krieg“, die Todesstrafe in den USA, die Ablehnung des Kyoto-Protokolls und dergleichen mehr. Zu spüren ist dabei vielmehr eine Ablehnung des „anderen Westens“, für die es in der deutschen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erschreckende Beispiele gibt.

Eine dritte Revision, die des von Peter Glotz 1990 akzeptierten Ecksteins des deutschen Identitätskanons – des Holocaust – ist nicht erfolgt, aber es gibt Anzeichen dafür, dass nicht wenige sie in petto haben. Der "Historikerstreit", die immer wiederkehrenden Affären, um Jenninger in den 1980er Jahren ebenso wie um Hohmann 2003, und vor allem die ständigen Versuche, Israel als den eigentlichen Aggressor und Kriegstreiber bloßzustellen, belegen es. Die Schar der schlafenden Ritter der nationalen Selbstemanzipation, die aus dem Kyffhäuser der neuen deutschen Sinnstiftung heraus ein Auge öffnen und fragen: „Darf man schon?“, ist nicht klein. Sie reicht von den Linksradikalen in den 1970er Jahren bis zu Jürgen Möllemann 2002 und den diversen "neuen Rechten", die auf eine „jüdische Mittäterschaft“ am Kommunismus verweisen und, wie es heißt, inzwischen auch in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind.

Das neue deutsche Geschichtsgefühl reklamiert zwar eine "Normalisierung" und "Historisierung" des Zweiten Weltkrieges für sich, tut dies aber bedenklich emotional und einseitig. Es ist keine Ergänzung vermeintlich oder tatsächlich einseitiger Geschichtsperspektiven der Nachkriegszeit, sondern ein Pochen auf Empathie für die eigenen Leiden, die der deutschen Vertriebenen, Ausgebombten, Vergewaltigten und Kriegsgefangenen. Die medienwirksame Erinnerungswelle erleichtert nicht wenigen Deutschen, einen Opferstatus zu ergattern und – wie „Die Zeit“ schrieb[7] – durch die „deutsche Opferinszenierung“ moralisch-politisch zu profitieren. Wenn die „Selbstversöhnung“ tatsächlich eine Versöhnung zwischen Ossis und Wessis, zwischen verschiedenen Generationen und schließlich zwischen gegensätzlichen politischen Formationen, den Linken und der Rechten, bedeuten soll, dann muss dies auf Kosten „der Anderen“, der bisherigen Opfer gehen. Und das erscheint als die dritte Revision der deutschen Nachkriegsgesinnung. 

Die polnische Perspektive: Befürchtungen und Reflexe

Die Befürchtung und Empörung ist besonders in Polen hoch, wo - gleich, ob berechtigt oder unberechtigt - die Überzeugung vorherrscht, dass das ganze Ausmaß der polnischen Katastrophe, die der deutsche Überfall auf Polen verursachte, nicht nur vorsätzlich aus dem deutschen Bewusstsein verdrängt, getilgt und bagatellisiert, sondern auch durch die deutschen Leiden der Vertreibungen und territorialen Verluste ersetzt wurde. Dies könnte - befürchten nicht wenige - zur Perpetuierung einer Grundhaltung führen, die sich in unablässigen moralischen, juristischen, materiellen und politischen Ansprüchen ausdrückt und die unabhängig von jeglicher Normalisierung (nach 1970), Versöhnung (nach 1989) und Aufnahme Polens in die euroatlantischen Strukturen (1999, 2004) in einem nicht irrelevanten Teil der deutschen Gesellschaft mehr oder weniger konstant geblieben ist.


Das neue deutsche Geschichtsgefühl reklamiert zwar eine "Normalisierung" und "Historisierung" des Zweiten Weltkrieges für sich, tut dies aber bedenklich emotional und einseitig.

Das ganze Europa wurde nach 1989 vom Kopf auf die Füße gestellt, doch wie ein Mantra wiederholen die Sprecher des Bundes der Vertriebenen – unterstützt vom rechten Flügel der CDU/CSU und zumal Edmund Stoiber - ihre Ansprüche gegenüber Tschechien und Polen auf jedem „Tag der Heimat“. Die Arroganz und Sturheit dieser Haltung, die Unfähigkeit oder der Unwille, Empathie für die tschechischen oder polnischen Opfer des Hitler-Wahns zu entwickeln, und die Unkenntnis der polnischen materiellen Verluste im Krieg mobilisiert in Polen natürlich alte antideutsche Reflexe und – wie einer der Nestoren der deutsch-polnischen Versöhnung, Wladyslaw Bartoszewski, befürchtet - zerschlägt in den bilateralen Beziehungen mehr als nur Porzellan. Wenn die nationalkatholische und EU-feindliche „Liga polnischer Familien“ den rechtskonservativen Stadtpräsidenten von Warschau auffordert, eine genaue Schätzung der Wertverluste in der polnischen Hauptstadt während des Krieges vorzunehmen, dann ist das nicht nur ein Rückfall in den Tonfall der 1960er Jahre, sondern eine politische Aufrüstung für den Fall deutscher Sammelklagen. Die „Liga“ rennt damit medienwirksam offene Türen ein. Eine Schätzung der polnischen Kriegsverluste, vorgenommen 1990 von Professor Alfons Klafkowski, ergab in heutigen Zahlen die Summe von 390 Mrd. US-Dollar. Helmut Kohl wusste sehr gut, warum er 1990 keinen Friedensvertrag aushandeln wollte und sich hinter dem 1953 von Moskau zugunsten der DDR erzwungenen – aber vom Sejm nie ratifizierten - Verzicht Polens auf deutsche Reparationen versteckte. „Seien Sie auf der Hut vor der deutschen Juristerei“, warnte Willy Brandt die Polen 1985  in einem „Polityka“-Interview. Das Problem heute sind nicht so sehr die nach 1945 gepflegten - de facto aber verlogenen - deutschen Rechtsstandpunkte über den juristischen Weiterbestand des deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 und die Rechtsgültigkeit der Potsdamer Regelungen, da sie ohnehin außerhalb der Bundesrepublik in Europa kaum akzeptiert wurden, sondern der emotionale Revisionismus, der darauf abzielt, die deutsche Kriegsschuld durch den Hinweis auf die „Rache der Opfer“ zu relativieren und zu teilen. Die Phraseologie  mancher Vertriebener auf der äußersten Rechten, wenn sie von den “Vertreibernationen“ – also den Polen, Tschechen und sogar Litauern – sprechen, ist nicht allzu weit von Hohmanns Befund entfernt, man könne die "Juden mit einiger Berechtigung als 'Tätervolk' bezeichnen".[8] Nur dass die Sensibilisierung in Deutschland für beide Entgleisungen nicht gleich groß ist. Hohmanns moralische Buchführung ergibt, dass Deutsche und Juden vor der Geschichte eigentlich quitt wären. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach – als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten in Polen „Vertriebene“– meint dagegen, als eine Hüterin des europäischen Gedächtnisses an die um das deutsche Leiden zentrierten Vertreibungen auftreten zu dürfen.

Das deutsch-polnische Verhältnis als Prüfstein der Europafähigkeit

Das Problem ist weniger die emotionale Darstellung der historischen Wahrheit der Aussiedlungen, Deportationen und Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts, sondern die erneute Renationalisierung des Geschichtsbildes und eine Verschiebung jener „neuen deutschen Identität“, die – nach Peter Glotz - 1990 die nationale Nabelschau abwehren sollte. Ob man in der Aufregung um Jörg Friedrichs "Brand",[9] der Debatte um das schnoddrige Tagebuch einer „Anonyma“,[10] die 1945 mehrmals vergewaltigt wurde, sich aber auch nüchtern-willig sowjetische „Beschützer“ besorgte, oder in Guido Knopps TV-Dokumentationen tatsächlich eine "Geschichtspornographie" oder gar einen „Revisionismus der Form“ ausmachen kann, wie die "Süddeutsche Zeitung“[11] meint, sei dahingestellt. Aus polnischer Perspektive geht diese "Renationalisierung des deutschen Gedächtnisses" zu Lasten einer erwünschten „Europäisierung“ der Gefühle und einer Empathie auch für „fremde“ Opfer. Diese Überzeugung lag 2002 einer Überlegung zugrunde, ein europäisches Zentrum, das die schrecklichen Erfahrungen der Europäer im 20. Jahrhundert mit den Vertreibungen dokumentiert, dort zu errichten, wo sie stattfanden: in Breslau. Nach einer heftigen Debatte in Deutschland wie in Polen scheinen die Europäer heute noch weiter von einer europäischen Sicht auf die eigene Geschichte entfernt zu sein als vor einem Jahr. Möglicherweise bringt der gemeinsame Aufruf des deutschen und des polnischen Staatspräsidenten, der Vertreibungen doch noch gemeinsam zu gedenken, einen Durchbruch. Unglücklicherweise nähern sich jedoch beide dem Ende ihrer Amtszeit und ein Regierungswechsel in beiden Ländern würde die Vergangenheitspolitik alles andere als erleichtern.

Dennoch sollte nicht der Eindruck entstehen, die deutsche Selbstfindung bedeute allein eine retardierende Phase im Verhältnis zu den Nachbarn. Im Gegenteil, die rot-grüne Regierung nahm schon 1999 die Entschädigung für Zwangsarbeiter in Angriff, und auch die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts bedeutet eine Revision des biologistischen Erbes des Wilhelminismus. Trotz mancher populistischer Zungenschläge hat die deutsche Regierung die EU-Osterweiterung nicht nur vorangetrieben, sondern in entscheidenden Momenten gar gerettet. Und an dem Zerwürfnis zwischen den "alten" und "neuen" Europäern ist keineswegs Deutschland allein schuld, sondern durchaus auch die Unerfahrenheit der "Neuen" in der transatlantischen Allianz.


Aus polnischer Perspektive geht diese "Renationalisierung des deutschen Gedächtnisses" zu Lasten einer erwünschten „Europäisierung“ der Gefühle und einer Empathie auch für „fremde“ Opfer.

Doch gerade am Verhältnis zu seinem östlichen Nachbarn wird sich Deutschlands Europafähigkeit bestätigen, ebenso wie an den Beziehungen zu Deutschland die Europafähigkeit der Polen. Diese Behauptung entspringt keiner ostmitteleuropäischen Hybris. Entlang der Oder-Neiße-Grenze besteht noch immer ein erhebliches Wirtschaftsgefälle. Während die Aussöhnung mit Frankreich durch vergleichbare Wirtschaftspotenziale erleichtert wurde und ein europäischer Duumvirat trotz aller Schwankungen und reißerischer Buchtitel wie Philippe Delmas’ „Über den nächsten Krieg mit Deutschland“[12] (hinter dem sich ein enthusiastisches Plädoyer für eine weitere Vertiefung der Partnerschaft verbirgt) für beide Seiten inzwischen selbstverständlich ist, erfordert eine Partnerschaft mit Polen einen tiefen Umdenkungsprozess. Europa ohne Frankreich ist im deutschen geopolitischen Bewusstsein unvorstellbar, Polen dagegen gilt mitunter weiterhin als eine quantité négligeable: historisch oft nur ein Raum ohne eine von den Deutschen verinnerlichte Geschichte, mehrmals in der Vergangenheit eine bloße Verfügungsmasse und schließlich ein Nutznießer zweier deutscher Katastrophen, der von 1918 und der von 1945. Das Bewusstsein, dass Polen eigene legitime Interessen haben könnte, ist in Deutschland viel geringer ausgeprägt als das Bewusstsein etwa der russischen Aspirationen. Eben deswegen ist Polen ein Prüfstein für die deutsche Fähigkeit, eine Art Libero-Rolle in Europa zu übernehmen, nicht unbedingt alleine Tore zu schießen, sondern dafür zu sorgen, dass die gesamte europäische Auswahl gewinnt.

Weimarer Dreieck und Petersburger Dreieck

Die Spaltung des Westens im Irak-Krieg erscheint irreparabel. Gerade in den „kerneuropäischen“ Staaten der „Verweigerungsfront“ mangelte es nicht an Phantasien von einer europäischen „moralischen Supermacht“, die Bushs Amerika nicht nur zum neuen „Reich des Bösen“, sondern zu einem todgeweihten Momentanimperium stilisierten. Emmanuel Todds Amerika-Nachruf[13] ist hierfür nicht das einzige Beispiel. Auch in Deutschland kann man sie finden. Wie weit die Renationalisierung gerade in den Köpfen linker Autoren vorangeschritten ist, zeigt Jürgen Elsässer in seiner furios geschriebenen Studie „Der deutsche Sonderweg“. Er beruhe auf dem transatlantischen Bündnis, das nach 1989 katastrophale Folgen - nämlich die Militarisierung der deutschen Außenpolitik - gehabt habe. Der "normale Weg", und somit Deutschlands Zukunft, liege auf der Achse Paris-Berlin-Moskau, als einem „Knoten in einem eurasischen Friedensnetz“ für das 21. Jahrhundert. „Der Bruch mit Amerika ist Gebot der Stunde. Das Land zwischen Rhein und Oder kann nur zur Ruhe kommen im Ausgleich mit seinen Nachbarn in West und Ost. Ein friedliches Europa ist nötig. Eine andere Welt ist möglich.“[14] Für Elsässer reicht diese „andere Welt“ „von Brest bis Wladiwostok“ – die „Randeuropäer“ im Westen, England und Spanien, werden abgeschrieben, die in Ostmitteleuropa übergangen bzw. wieder einmal zwischen Russland und Deutschland – friedlich – in die Mangel genommen. Orwell lässt grüßen: Ein friedliebendes Eurasien (mit französischen Muskelspielen in Afrika und russischen in Tschetschenien) steht gegen ein blutrünstiges Ozeanien! Sind das die neuen linksnationalen Versuchungen?


Erst wenn die alte feudale Struktur Europas zwischen den Senioren – den Großmächten, die im 20. Jahrhundert ausgespielt haben - und den Vasallen als reine Verfügungsmasse der Großen überwunden wird, wird man sagen können, dass Europa wirklich zu sich selbst gefunden hat.

Solche Sandkastenspiele lösen sofort ihre historischen Reflexe bei den östlichen Nachbarn aus. Schaut mal, sagte in einer polnischen Fernsehdebatte ein Historiker gehässig zum französisch-deutsch-russischen „Petersburger Dreieck“: eine solche Konstellation hat es schon einmal gegeben, im November 1940, als Pétain mit Hitler parlierte und Molotow nach der erneuten Teilung Polens nach Berlin eilte, um sich weitere Gebiets-„Erwerbungen“ zu sichern. Allein England, mit den USA im Rücken und einer Handvoll polnischer Flieger stand für Demokratie in Europa und Freiheit für Polen. Man mag diese historische Analogie für aberwitzig halten, doch sie ist es nicht mehr und nicht weniger als Vergleiche Bushs mit Hitler.

Nicht nur für Elsässer ist der Bruch mit den USA eine Geburtstunde der europäischen, sprich der deutschen Selbstfindung. Auch ein so namhafter Historiker wie Gregor Schöllgen denkt in diese Richtung, wenn auch in leiseren Tönen. Auch er trägt das transatlantische Bündnis zu Grabe. Seine Ideologie ist entwaffnend einfach: Das Bündnis war ein Kind des Kalten Krieges, nach 1989 werde Amerika „in Europa nicht mehr gebraucht“. Und an der antiamerikanischen Stimmung in Europa sei eben Bush und seine „hemdsärmelige Brachialdiplomatie“ schuld. Bemerkenswert ist, dass für Schöllgen die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU die Frankreichs und Deutschlands ist, das heißt, der Einsatz im Irak ist schlecht, der im Kongo ist gut, weil von den beiden „Kerneuropäern“ getragen. Und der Rest? Unbedeutend. Nicht nur Chiracs imperiale Arroganz, der von den Neuen erwartete, dass sie „das Maul halten“, lag im Streit um die EU-Verfassung dem polnischen Beharren auf einer 2000 in Nizza festgelegten Auf- und nicht Abwertung der mittleren EU-Staaten gegenüber Deutschland und Frankreich zugrunde. Eine Rolle spielte ebenso ein Schuss des alten senioralen Denkens, das Europa in Motor und Fahrgestell, in zwei Klassen, in unterschiedliche Geschwindigkeiten, in konzentrische Kreise und wie immer all die griffigen Formeln für die Wahrung der privilegierten Rolle der Großen heißen mögen, aufteilt. Anstatt eines „Kondominiums“ der beiden müsste die EU einen offenen Kern haben, zu dem mit der Zeit auch andere Staaten hinzukommen können. Das ist auch – nach polnischer Auffassung – nach wie vor der Sinn des französisch-deutsch-polnischen „Weimarer Dreiecks“. Erst wenn die alte feudale Struktur Europas zwischen den Senioren – den Großmächten, die im 20. Jahrhundert ausgespielt haben - und den Vasallen als reine Verfügungsmasse der Großen überwunden wird, wird man sagen können, dass Europa wirklich zu sich selbst gefunden hat.

Renationalisierung ist (auch) ein Problem der „Kerneuropäer“

Das ist das Kernproblem. Die Renationalisierung ist keineswegs nur eine ostmitteleuropäische Gefahr, wie man immer wieder hört, meist mit einem schmalzigen Zusatz, die armen Ostmitteleuropäer seien verspätete Nationen, die erst jetzt ihren prämodernen Nationalismus auslebten und unfähig seien, über ihren Tellerrand zu sehen. Man wird den Verdacht nicht los, dass manche „Kerneuropäer“ diese Argumente als Rauchwolke benutzen, um eigene nationale Aspirationen zu kaschieren. Während Polen, Tschechen und Ungarn unter enormen Anstrengungen den acquis communautaire übernahmen und Brüssel als eine normgebende Instanz akzeptierten, kündigen gerade die Großen das Interesse an einer Union, die ihnen keine privilegierte Position in Kerneuropa sichert, Stück für Stück auf; sie schränken die Pflichtbeiträge ein und überlegen, wie man die Barrieren der Euro-Zone für die Neuen weiter heraufsetzt (ohne selber die bisher bestehenden Bedingungen zu erfüllen).

Einige Monate nach den eindeutig proeuropäisch ausgegangenen Referenden in den Beitrittsländern gewinnt man bisweilen den Eindruck, die alte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Sechs wolle sich in der erweiterten EU irgendwie neu zusammenfinden und abschotten, während die Neuen die alte transatlantische Konstellation mit Amerika im Hintergrund retten möchten. Sie sind – könnte man sagen – in ihrer Adenauerschen Phase, sie möchten zweigleisig fahren, mit der EU und mit Amerika zugleich. Die „Kerneuropäer“ dagegen möchten Europa im globalen Wettbewerb gegenüber Amerika stärken und ihre nationalen Interessen besser zur Geltung bringen.

Die Herausforderung: Selbstrevision statt Revisionismus

Die deutsche Verantwortung - schreibt Egon Bahr zum Schluss seiner beeindruckenden Skizze über den "Deutschen Weg" - ist groß geworden, auch wenn sie global begrenzt bleibt. Der deutsche Weg "verlangt und gestattet nun ein Deutschland im Dienste Europas, das seine Interessen als normaler Staat verfolgt und seine Zukunft nicht von der Vergangenheit behindern lässt: die europäische Zukunft ist wichtiger als die deutsche Vergangenheit".[15] Eine Selbstabsolution ist das nicht, zumal Bahr in seiner Studie auch manche eigene Sehfehler korrigierte, die ihm einst Timothy Garton Ash nachgewiesen hatte - nämlich einen übergebührlichen "Etatismus", eine allzu realpolitische Fixierung auf Moskau und das Bestreben, den Status quo auch dann noch aufrecht zu halten, als die Oppositionsbewegungen die sowjetische Hegemonie in Ostmitteleuropa unterhöhlten. Heute sieht der Stratege des "Wandels durch Annäherung", dass sich mit dem Sieg des Westens Europa nach Osten verschiebt. Und - jetzt kommt eine leichte Korrektur von Winklers Sicht vor 2001 - "Deutschland hat nach seinem langen Weg nach Westen die Position in der Mitte des Kontinents wieder erhalten; sie gestattet, nach Osten zu sehen, ohne dem Westen den Rücken zuzuwenden".[16] Das sei, zugegeben, nicht ganz leicht, es erfordere auch eine Revision der Vorstellung vom deutsch-französischen Motor Europas, die so lange adäquat war, wie Europa mit dem Westen gleichgesetzt werden konnte. Der Abschied von der alten Überheblichkeit, meint Egon Bahr, fällt den "Alteuropäern" nicht leicht, zumal die "Neuen" sich bisweilen etwas tollpatschig zu Wort melden. Doch das Weimar Dreieck sei schon ein tragfähiges Konstrukt für ein erweitertes Europa, dessen Realität Berlin und Paris eben "noch nicht verinnerlicht haben".

Dies zu sehen und auszusprechen ist ein Verdienst, zumal es zu einer realen Selbstrevision führt, statt wieder einmal den Irrlichtern der pazifistisch verbrämten Machtphantasien des 19. Jahrhunderts nachzulaufen, wonach an deutschem Edelmut und Pazifismus Europa, Russland und die restliche Welt genesen könnten. Diese Selbstrevision ist allerdings auch bei Deutschlands ostmitteleuropäischen Nachbarn nötig. So verständlich ihre Affinität zu Amerika ist, ihre Zukunft entscheidet sich in Europa, und diese Zukunft müssen sie gemeinsam mit den "Alteuropäern" gestalten.


[1] Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Band 2. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, München 2000.

[2] Jürgen Elsässer: Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung, München 2003.

[3] Egon Bahr: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003.

[4] Gregor Schöllgen: Der Auftritt. Rückkehr Deutschlands auf die Weltbühne, München 2003.

[5] Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaates. Europäische Reden an ein deutsches Publikum, Stuttgart 1990, S. 151, zitiert in Winkler, a.a.O., S. 656.

[6] Florian Illies: Generation Golf, Frankfurt 2001.

[7] Achatz von Müller, "Deutschland. Volk der Täter, Volk der Opfer", in: Die Zeit, Nr. 44/2003, 23.10.2003.

[8] Die umstrittene Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann ist in Auszügen dokumentiert in Spiegel Online, 31.10.03, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,271987,00.html.

[9] Jörg Friedrich: Der Brand, München 2002.

[10] Hans-Magnus Enzensberger (Hg.): Anonyma. Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt 2003.

[11] Ulrich Raulff, "1945", in: Süddeutsche Zeitung, 30.10.03.

[12] Philippe Delmas: Über den nächsten Krieg mit Deutschland. Eine Streitschrift aus Frankreich, München 2000.

[13] Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2000.

[14] Jürgen Elsässer, a.a.O., S. 239f.

[15] Egon Bahr, a.a.O., S. 155.

[16] Egon Bahr, a.a.O., S. 92.

Adam Krzeminski *1945;

Germanist; Kommentator der Wochenzeitung Polityka, Warschau;
krzem@gmx.net

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