Sozialistengesetz
"Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie.
Vom 21. Oktober 1878
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Reiches nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages, was folgt:
§1
Vereine, welche durch
sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen
den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung
bezwecken, sind zu verbieten.
Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische,
sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden
Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den
öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der
Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten.
Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art. ....."

1. Attentat auf Kaiser Wilhelm I. durch Max Hödel (AdsD).
Reichskanzler
Otto von Bismarck, Monarchisten und Konservative betrachteten die
erstarkende Sozialdemokratie als "Reichsfeinde" und gingen schon vor
dem Sozialistengesetz mit repressiven Maßnahmen gegen die
Sozialdemokratie und die Gewerkschaften vor.
Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm l. - mit denen die Sozialdemokraten
nichts zu tun hatten - lieferten Bismarck den Vorwand, lange geplante
gesetzgeberische Repressalien gegen die Sozialdemokratie im Reichstag
durchzusetzen. Das am 19. Oktober 1878 vom Deutschen Reichstag mit 221
gegen 149 Stimmen beschlossene und am 21. Oktober 1878 von Wilhelm I
verkündete "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialdemokratie" endete - nach Verlängerungen der Geltungsdauer des
Gesetzes - am 30. September 1890.
Es bedeutete das Verbot der Soziademokratischen
Partei, der ihr nahestehenden Gewerkschaftsorganisationen und der
Parteipresse. Viele Hunderte von Sozialdemokraten wurden verhaftet und
zu Gefängnisstrafen verurteilt, fast tausend Funktionäre aus ihren
Wohnorten ausgewiesen und viele ins Exil gezwungen. Legal konnten sich
in Deutschland nur die - als Person, nicht als Vertreter ihrer Partei -
in den Reichstag gewählten Sozialdemokraten betätigen.
Nach der Verhängung des "Sozialistengesetzes" waren Hausdurchsuchungen
der Polizei bei Sozialdemokraten an der Tagesordnung. Die mühsam
aufgebaute Parteiorganisation wurde zerstört, denn auch Versammlungen
waren nicht mehr erlaubt. Mehr als 1300 Druckschriften, Zeitungen und
Broschüren wurden verboten, 322 Vereine aufgelöst.
Trotz Verfolgung und Unterdrückung hatte die SPD während der 12 Jahre
stetig Zulauf erhalten. In den letzten Wahlen unter dem Ausnahmegesetz
gaben mehr als 1,4 Millionen Wähler den von der Partei informell
unterstützten Direktkandidaten ihre Stimme. Ihr Anteil wuchs von 6,1
Prozent im Jahr 1881 auf 19,7 Prozent im Jahr 1890. Damit ließ sie
erstmals die anderen Parteien hinter sich.
Als das Gesetz im September 1890 endlich offiziell aufgehoben wurde,
war in der Partei der Boden für eine Periode des politischen
Machtzuwachses bereitet. In Halle gab sie sich ein neues
Organisationsstatut, und sie nahm ihren endgültigen Namen an:
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD).
Aber auch nach 1890 wurden Sozialdemokraten und Gewerkschafter weiter
behindert und schikaniert. Die rechtliche Ausgrenzung wurde aufgehoben,
die gesellschaftliche Ausgrenzung blieb jedoch noch eine lange Zeit -
mit nachhaltiger Auswirkung auf ihr Verhältnis zum Staat.