Interview: „Wir hatten vergessen zu träumen“

Falls die Sozialdemokratie noch lebt, ist nur schwer zu erkennen, wie oder warum. Das ist die Ansicht von Neal Lawson, dem Chef der NGO „Compass“. Um ihr neues Leben einzuhauchen, braucht die Bewegung seiner Ansicht nach wieder Mut zum Träumen. Beginnen sollte sie aber bei der Debatte, um die Definition einer „Guten Gesellschaft“. Dann klappt‘s auch mit den Realitäten.

Bild: Der Brite Neal Lawson ist politischer Kommentator und Autor. Er ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation „Compass“ und schreibt regelmäßig für den Guardian sowie das politische Magazin „The New Statesman“. Bild: Neal Lawson (Privat)

Ist die Sozialdemokratie schlecht auf das 21. Jahrhundert vorbereitet? Sämtliche Kräfte, die sie einst stark gemacht haben, sind verschwunden wie die kollektive Kriegserfahrung, eine geeinte und gut organisierte Arbeiterklasse und die düstere Präsenz der Sowjetunion. Diese sozialistische bedrohliche Alternative zu den freien Märkten brachte es fertig, den Arbeitgeber_innen große Zugeständnisse abzuringen. Der britische Autor und Gewerkschaftsberater Neal Lawson sagt, Sozialdemokraten seien wie „Surfer ohne Wellen“. Sie gingen fälschlicherweise davon aus, dass die „Goldene Ära“ ihrer Machtteilhabe auch heute noch die Norm zu sein habe. Die Sozialdemokraten müssten aber erst einmal neu definieren, was unter einer „Guten Gesellschaft“, der "Good Society", zu verstehen ist und welche politischen Mittel dafür vonnöten sind, um wieder mitspielen zu können. Neal Lawson im Gespräch mit der Friedrich-Ebert-Stiftung über die gewaltigen Aufgaben, die vor der europäischen Sozialdemokratie liegen.

In den vergangenen Jahren ist in Großbritannien eine Debatte über den Begriff der „Guten Gesellschaft“ aufgekommen. Was ist eine „Gute Gesellschaft“? Und was wären Ihrer Ansicht nach die Hauptmerkmale?

Die Debatte über die „Gute Gesellschaft“ entspringt der Enttäuschung über die Begrenztheit der Politik des Dritten Weges oder der Neuen Mitte der Blair-Jahre. Zumindest in Großbritannien schien die Sozialdemokratie in erster Linie auf Wahlen konzentriert, technokratisch und bürokratisch geworden zu sein. Wir hatten vergessen, wie es ging zu träumen, und warum wir träumen sollten. Utopismus war zu einem abgewerteten Begriff geworden – aber alles, was neu und besser ist, muss zunächst mit einem Traum beginnen. Also führten wir absichtlich eine lange Diskussion darüber, wie eine „Gute Gesellschaft“ aussehen könnte. Anfangs waren ihre Hauptmerkmale der Einsatz für viel mehr Gleichheit, Nachhaltigkeit und Demokratie. Im Laufe der Zeit haben wir dann größeres Gewicht auf die Mittel als auf den Zweck gelegt, also darauf, wie man als Einzelner und als Gemeinschaft ein Vorbild für eine „Gute Gesellschaft“ sein kann. So sind Eigenschaften wie Offenheit, Empathie, Beziehungen, Mitgefühl, ja sogar Liebe zu den neuen Kennzeichen einer Politik der „Guten Gesellschaft“ geworden. Bauman sagt, die „Gute Gesellschaft“ sei eine Gesellschaft, die wisse, dass sie noch nicht gut genug sei.

Was könnte Deutschland bei dieser Diskussion von Großbritannien lernen?

Sich selbst Zeit und Raum für Träume zu geben. Zu erkennen, dass die Krise, der die Sozialdemokratie gegenübersteht, nicht allein dadurch bewältigt werden kann, dass man um jeden Preis dem nächsten Wahlsieg hinterherjagt. Stattdessen muss sie strategisch denken und planen können, um eine Vision, ein Programm und eine Koalition für einen einschneidenden Wandel zu entwickeln. Dies braucht jedoch Zeit, und der Weg dorthin hat keine Abkürzung.

Im Moment machen wir eine Zeit großer Krisen durch: die Euro-Krise, die Finanzkrise, Kriege und Konflikte in Europa und dem Nahen Osten. Bleibt da noch Raum, um eine „Gute Gesellschaft“ zu entwerfen?

Es bleibt kein Raum, es nicht zu tun. Wir können keines dieser Probleme durch einen schönen Traum oder die Hoffnung auf etwas Besseres beheben. Schließlich kranken wir genau daran, dass der neoliberale Traum von individueller und persönlicher Freiheit über unseren Traum von sozialer und demokratischer Freiheit gesiegt hat. Wir können den Menschen nicht noch mehr Dinge anbieten, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass sie sie wollten und die sie mit Geld kaufen, das sie nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die sie nicht kennen. Darin sind die Rechten viel besser als wir. Was wir anbieten müssen sind Zeit, Raum und eine demokratische Kontrolle über ihr Leben, ihre Gemeinschaften und Arbeitsplätze.

Was sind Ihrer Ansicht nach die Megatrends der kommenden zehn Jahre? Worauf sollte sich die Politik konzentrieren?

  • Die Herausforderungen des Klimawandels und eine nachhaltige Lebensführung.
  • Der Anstieg des prekären Arbeiterstandes und die Unterstützung ihrer effektiven Organisation – oder noch besser Selbstorganisation.
  • Die Bedrohungen und Chancen der Technologie für Arbeitsplätze und Politik. Wir können isolierter und überflüssiger oder vernetzter und aktiver werden.

Die Sozialdemokraten betonen gern die „Planung“ von Politik. Ist dies angesichts der derzeitigen politischen Entwicklungen die richtige Strategie? Andere politische Akteure setzen auf „Reaktion“ statt auf Planung und scheinen mit dieser Strategie erfolgreich zu sein. Brauchen wir politische Konzepte? Und wenn Ja, warum?

Es wird sowohl Planung als auch Reaktion nötig sein. Doch muss sich vor allem ein großer Wandel hin zu Gemeinschaft, Bereitstellung von Ressourcen und Schaffen von Raum vollziehen. Die Sozialdemokraten halten es für ihre Aufgabe, den Menschen Gutes zu tun. Doch im Zuge der allgemeinen Selbstbestimmung jedes Einzelnen ist es wichtiger zu überlegen, wie die Menschen sich selbst organisieren und ihre Zukunft mitgestalten können. Dies ist die neue Rolle des Staates.

Was sind die Lücken, die die sozialdemokratischen Parteien Europas inhaltlich füllen sollen? Was sind die Themen, vor denen wir Angst haben und bei denen wir uns zu sehr zurückhalten?

Das Dauerproblem ist eigentlich nicht in der Politik, sondern in den Fähigkeiten begründet. Eine Zeitlang waren die Sozialdemokraten stark, weil sie durch die bloße Existenz der Sowjetunion einen Staat, eine Klasse und eine Geopolitik hatten, die das Kapital zwangen, Kompromisse zu machen und den Aufbau unserer Sozialstaaten zu unterstützen. Sind das Prekariat und die verunsicherten Mittelklassen die neuen Kräfte, die die Machtbasis für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung bilden?


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