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Archiv der sozialen Demokratie

 

Vor 70 Jahren - Georg August Zinn wird am 14. Dezember 1950 zum Ministerpräsidenten von Hessen gewählt

1950 wählte der hessische Landtag den 49jährigen Georg August Zinn zum bis dahin jüngsten Ministerpräsidenten der Bundesrepublik. Er sollte dieses Amt beinahe 20 Jahre, bis 1969 bekleiden. Der Sozialdemokrat Zinn gilt als „Baumeister des modernen Hessens“. Durch seine Politik der Integration, der sozialen Verantwortung und der wirtschaftlichen Modernisierung machte Zinn das junge Bundesland zu einem beachtenswerten „Musterland“ sowohl föderaler Demokratie, als auch sozialdemokratischer Landespolitik.

 

Geboren wurde Georg August Zinn am 27. Mai 1901 in Frankfurt am Main.Zinns Vater gehörte zu der Generation der leitenden Angestellten, die selbst aus dem Arbeitermilieu stammten und denen ein Bildungsaufstieg möglich war. Er bekleidete 1918 die Stellung eines Leitenden Ingenieurs bei den Kasseler Henschel-Werken. Georg Zinn  besuchte das Gymnasium und ließ sich nach dem Tod seines Vaters 1920 in Kassel zunächst zum Verwaltungsbeamten ausbilden. 1923 nahm er das Studium der Rechtswissenschaften auf. In dieser Zeit wurde Zinn, der noch vor seinem Abitur der SPD beigetreten war, politisch aktiv. In Berlin saß er zunächst der sozialdemokratischen Studentenvereinigung vor und übernahm in Hesseneine ehrenamtliche Position  in der Regionalleitung des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Nach seinem Studium wurde Zinn für die SPD in die Stadtverordnetenversammlung von Kassel gewählt und arbeitete ab 1931 als Rechtsanwalt.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verteidigte Georg August Zinn Verfolgte des Nationalsozialismus, wurde selbst in Schutzhaft genommen. . Bereits 1939 wurde er als Soldat eingezogen und arbeitete auch beim Militär wieder als Anwalt. Trotz der strenger Beobachtung durch die Gestapo verteidigte er u.a. französische Arbeiter_innen bei Anklagen wegen Sabotage. Nach seiner Versetzung an die Ostfront – diese hatte er zum Schutz vor Verhaftung selbst erwirkt – arbeitete er in Kriegsgerichtprozessen an der Verteidigung angeklagter Kameraden. Im Zuge der Verhaftungswelle nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944, entging er seiner Verhaftung durch die Gestapo nur, weil ihn sein Regimentskommandeur als gefallen erklärte.

Im Juni 1945 aus der US-amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen, wurde Georg August Zinn am 28. Oktober zum hessischen Justizminister ernannt. Die US-amerikanische Besatzung hatte aus ehemaligen preußischen Provinzen und dem Volksstaat Hessen das Land Groß-Hessen geschaffen. Die Verwaltung musste wiederaufgebaut werden und Zinn gehörte zu den wenigen juristischen Fachleuten, die nicht mit den Nazis kollaboriert hatten. Neben dem Aufbau des hessischen Justizsystems widmete sich Georg August Zinn der Erarbeitung einer hessischen Landesverfassung. Seine verfassungspolitischen Erfahrungen blieben der Parteileitung in Hannover nicht verborgen. In den Parlamentarischen Rat gewählt, setzte Zinn entscheidende Akzente  für bei der Formulierung des Grundgesetzes. Präambel sowie Inhalt und Umfang des Grundrechtekatalogs wurden maßgeblich durch seine Entwürfe beeinflusst. Als Vermittler unter den Parteien und mit den Alliierten erwarb sich Zinn ebenso erste Meriten.

Mit der Wahl zum Ministerpräsidenten am 14. Dezember 1950 konnte Georg August Zinn beweisen, welchen Unterschied sozialdemokratische Politik in der Adenauer-Ära ausmachen konnte. Die Integration von Geflüchteten aus den östlichen Kriegsgebieten war ein, wenn nicht sogar das Leitmotiv seiner Politik. Auf der Koalitionsebene band Zinn, auch nachdem er bei den folgenden Landtagswahlen die absolute Mehrheit holte, den eher konservativen Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertrieben (GB/BHE) in die Regierung ein. Hessen war ein von den Alliierten zusammengesetztes Land. Fast eine Millionen Menschen in Hessen waren Geflüchtete und Vertriebene, 75% hiervon kamen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Zudem herrschte ein großes wirtschaftliches Nord-Süd-Gefälle. Die Heimatvertrieben waren in ländlichen Gebieten angesiedelt worden, wo vor allem die Suche nach Arbeit ihr Leben bestimmte.

Georg August Zinns Antwort hierauf war Bestandteil seiner ersten Regierungserklärung in Form des „Hessenplans“: Dieser sah Umsiedlungen in Gebiete mit niedriger Arbeitslosenquote und die Errichtung neuer Arbeitsplätze und Wohnungen vor. Weitere Maßnahmen wie günstige Mieten und Kredite begleiteten den Plan. Die Umsetzung geschah in kommunaler Eigenverantwortung. Eingerahmt war der Plan in eine landesweite Politik der Wirtschaftsentwicklung, „Alt-Hessen“ und „Neu-Hessen“ profitierten gleichermaßen.

Fortan waren „Pläne“ ein Markenzeichen hessischer Politik. Der Jugend- und Sozialplan förderte den Aufbau der sozialen Infrastruktur. 1970 wohnte etwa jeder zweite Hesse in einer neuen Wohnung. Dem „Hessenplan“ folgte 1965 der „Große Hessenplan“, welcher alle bisherigen Maßnahmen in sich vereinte und fortschrieb. Zinns Popularität in breiten Wählerschichten lag auch darin begründet, dass er die ländlichen Gebiete Hessens nicht aus dem Blick verlor und dort ebenfalls Investitionsprogramme zur Modernisierung initiierte und früh die Möglichkeiten des künftigen Tourismus auf dem Lande sah.

Diese „geplante“ Umsetzung politischer Maßnahmen nahm die programmatische Erneuerung des vielerorts diskutierten demokratischen Sozialismus in der Praxis vorweg. Pläne waren im Gegensatz zur DDR als marktwirtschaftliches Instrument gedacht, um ein komplexes Wirtschafts- und Sozialgefüge durch langfristige Steuerung von Investitionen zu modernisieren. Die Verbesserungen waren für alle Bürger_innen spürbar. Dogmatische Auslegungen waren Zinn fremd, in seinen Regierungserklärungen der 1950er- Jahre ersann Zinn seine Politik als freien Sozialismus. Sozialismus wurde hiernach erst ermöglicht durch das freiheitliche, selbstständige Handeln des Einzelnen.  

Aus gesundheitlichen Gründen kündigte Georg August Zinn im Sommer 1969 seinen Rücktritt an. Sein Nachfolger wurde Albert Osswald. Zinn starb am 27. März in 1976 in seiner Heimatstadt.

 

Holger Kozanowski


Deutsche Gewerkschaften und Grundgesetz, 1945–1949. Teil 1: Vom Wiederaufbau zum Tarifvertragsgesetz

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