Die Kunst der flexiblen Integration

Die Europäische Union steht nach außen und nach innen vor großen Herausforderungen. Mit welcher Strategie und in welchen Bündnissen diesen Herausforderungen begegnet werden soll, darüber gibt es derzeit eine intensive Strategiedebatte. In ihr geht es im Kern um die Souveränität und die Verbesserung der politischen Handlungsfähigkeit der Union.

Kürzlich erst lieferten sich der französische Präsident und die deutsche Verteidigungsministerin dazu einen öffentlichen Disput über die strategische Ausrichtung der Europäischen Union. Die Begriffe, die diese Debatte prägen - strategische Autonomie, europäische Souveränität oder strategische Unabhängigkeit - ähneln sich, und oft ist nicht klar, worin genau sie sich unterscheiden.

Der Grund für diese Debatte ist einfach zu besichtigen. Sowohl der Blick nach außen als auch nach innen macht deutlich, dass die EU vor sehr wichtigen – nicht wenige sagen überlebenswichtigen - Herausforderungen steht. Stichworte hierfür sind die Rückkehr der Geopolitik, die Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen, der Systemwettbewerb mit China, die Auseinandersetzung mit einem oft aggressiv agierenden Russland, Instabilität und Bürgerkriege in der südlichen Nachbarschaft. Und nach innen ist der heftige politische Streit mit Polen und Ungarn über die zukünftige Finanzierung der EU und die direkt damit verbundene Rechtsstaatskonditionalität, die von beiden lange Zeit vehement abgelehnt wurde, ein Beispiel dafür. Aber genauso die Umsetzung des ambitionierten Green Deal, die Gestaltung der Digitalisierung oder einer gemeinsamen Migrationspolitik.

Im Kern geht es in dieser Strategiedebatte um die politische Handlungsfähigkeit der EU, zumeist verstanden als die Fähigkeit, auf der Basis gemeinsamer Werte – wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – die eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Prioritäten zu definieren und sie dann umzusetzen.

Um diese sehr aktuelle Thematik zu diskutieren und zu analysieren, hat die Friedrich-Ebert-Stiftung am 07. Dezember unter der Überschrift „Kerneuropa geht voran – Die richtige Strategie für die EU von morgen?“ vier ausgewiesene Europäer_innen zu einer online-Diskussion eingeladen. Aus Polen Janusz Reiter, ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland und den USA, aus Frankreich Dr. Claire Demesmay, Expertin für europäische und französische Politik und aus Deutschland Gernot Erler, 30 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages und ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt sowie den Politikwissenschaftler und Publizisten Dr. Winfried Veit, der sich seit vielen Jahren intensiv mit Europa und der EU beschäftigt. Moderiert wurde die Diskussion von der renommierten Journalistin und Buchautorin Petra Pinzler. 

Überwindung der politischen Lähmung durch die „Lokomotive Kerneuropa“

Auftakt für die Diskussion ist der Beitrag von Winfried Veit, in dem er die zentralen Thesen seines erst kürzlich erschienenen Buches „Europas Kern – Eine Strategie für die EU von morgen“ präsentiert. Er beschreibt darin differenziert die existierenden äußeren und inneren Herausforderungen und konstatierte eine Lähmung der politischen Handlungsfähigkeit der EU. Um diese zu überwinden plädiert er für die Schaffung eines kleineren, dafür aber handlungsfähigeren Kerneuropa, das mit einer Stimme spricht und damit ein ernstzunehmender Faktor der globalen Politik wird. Die Idee ist nicht neu, aber Veit gibt ihr eine sehr konkrete Gestalt. Als Kern des Kerns sieht er das Weimarer Dreieck an, also Deutschland, Frankreich und Polen. Sein Kerneuropa soll sich auf die folgenden drei Bereiche konzentrieren: Außen- und Sicherheitspolitik, Währung und Finanzen sowie innere Sicherheit. Es wäre kleiner, demokratischer, entscheidungsfähiger und einiger als die heutige EU. Dieser Kern könnte nach seiner Meinung die lähmende Dichotomie zwischen Vertiefung und Erweiterung auflösen und, einer »Lokomotive« gleich, die übrigen Staaten hinter sich herziehen.

Weltpolitikfähigkeit benötigt alle Ressourcen

Janusz Reiter macht deutlich, dass er beträchtliche Zweifel an dem Vorschlag von Winfried Veit hat. Zuerst hebt hervor, dass die EU zwar nicht viele große Erfolge auf der internationalen Bühne vorweisen könne, dass die Osterweiterung aber auf jeden Fall einer gewesen sei. Denn damit sei es nach dem Ende der Blockkonfrontation und des Kalten Kriegs gelungen, den Ländern Ost- und Mitteleuropas eine langfristige politische Perspektive zu bieten und zu verhindern, dass sich zwischen der „alten“ EU und Russland eine graue Zone bildet. Mit Blick auf die politischen Perspektiven eines Kerneuropa sagt er zuerst, dass ein Rückzug in ein Schneckenhaus uns nicht weiterbringen würde und stellt dann die Frage, wo in der EU sich denn die Krise befände. In Brüssel? In den Mitgliedsländern? Seine Antwort lautet: Auch die großen Mitgliedsländer seien in der Krise. Deshalb würde es die Probleme nicht lösen, wenn man so täte, als wäre im „Kern“ alles in Ordnung. Daher sei es unwahrscheinlich, dass ein Kerneuropa sich mehr Geltung und Respekt in der Welt verschaffen könne. Um das zu erreichen und um wirklich weltpolitikfähig zu werden, seien dagegen alle Ressourcen erforderlich, im Westen und im Osten der EU gleichermaßen. Weiterhin zeigt er sich überzeugt, dass die Frage der politischen Handlungsfähigkeit der EU nicht unter dem Eindruck der aktuellen Konflikte mit Ungarn und Polen diskutiert werden sollte. Als die Moderatorin die Frage stellt, ob mit dem steigenden Einfluss illiberaler Demokratien der EU nicht Stück für Stück die gemeinsame Basis wegbröckeln würde, ob Orban und Kaczynski nicht Vorboten von Marine Le Pen seien, antwortet er, dass dies zwar ein ernstes Problem sei, dass das aber (tages)politische Auseinandersetzungen seien, die gelöst werden würden. Denn es ginge nicht darum, ein gänzlich anderes System, wie z.B. in China, zu etablieren.

Der Westen muss aufhören, Lehrmeister zu sein

Auch Gernot Erler sieht die Osterweiterung der EU als großen Erfolg und bezeichnet sie als „Friedenswerk per excellence“. Weiterhin hätte die Osterweiterung gezeigt, dass die EU sehr wohl handlungsfähig sei. Im Gegensatz dazu hätte es dort in Europa, wo ein solches Angebot durch die EU nicht gemacht wurde – nämlich auf dem Balkan – Ende der 90er Jahre Kriege gegeben. In Bezug auf die Situation in Ungarn und Polen ist er weniger optimistisch als Janusz Reiter. In beiden Ländern habe sich im Laufe der Jahre viel angestaut, weil die westlichen EU-Länder zu oft als Lehrmeister aufgetreten seien. Das müsse unbedingt aufhören. Als klare Antwort auf die Blockaden durch Ungarn und Polen sieht er das bereits existierende Instrument der verstärkten Zusammenarbeit, das bisher nur im Bereich der Verteidigungspolitik angewendet würde. Es müsste auch auf andere Politikbereiche übertragen werden und würde die EU spürbar handlungsfähiger machen. Insgesamt macht er deutlich, dass er die EU in ihrer bisherigen Geschichte nicht als handlungsunfähig erlebt habe und weist mit Nachdruck darauf hin, dass die EU nach wie vor eine erhebliche Anziehungskraft besitze, weshalb weiterhin Länder an ihre Tür klopften.  Die EU würde ihren Mitgliedern die folgenden attraktiven Perspektiven bieten: 1) Frieden, denn trotz aller Krisen würden Konflikte in der EU friedlich gelöst; 2) Prosperität, und zwar durch die Teilnahme am größten Binnenmarkt der Welt und 3) Solidarität, denn kein Land würde allein gelassen. Wie Kerneuropa diese Aufgaben lösen soll, dafür könne er bisher keine Antworten sehen.

Die Kunst der flexiblen Integration

Auch Claire Demesmay sieht das Konzept eines Kerneuropas skeptisch. Sie meint, dass es mit der Eurozone bereits so etwas wie ein Kerneuropa gäbe, denn durch sie würde die Integration vorangetrieben. Sie sieht im Konzept des Kerneuropa die Gefahr, dass Länder ausgeschlossen würden und dass sich dieser Zustand verfestigen könnte. Denn wer von einem Kern spräche, der spräche damit auch von Peripherie. Die Kunst würde stattdessen darin bestehen, die Integration voranzubringen, ohne Länder auszuschließen. Sie sieht in der flexiblen Integration das richtige Instrument, um diese Kunst in die politische Praxis umzusetzen. Wie kompliziert diese Aufgabe ist, demonstriert sie mit dem Thema Europa als Schutzraum. Während Schutz aus Sicht französischer Arbeitnehmer mehr Kontrolle und strikte Durchsetzung der EU-Entsenderichtlinie bedeute, würde das in Rumänien und Bulgarien genau entgegengesetzt gesehen. Ähnliches gelte z.B. für die Handelspolitik, bei der es in Bezug auf Schutz in Deutschland, Frankreich und Dänemark ganz verschiedene Wahrnehmungen gäbe.

Weiterhin analysiert Claire Demesmay die aktuelle Situation in Frankreich. Dort stünde das Thema Europa derzeit nicht im Zentrum der Politik. Zwar würde Frankreich am 1.1.2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, aber derzeit gäbe es für Präsident Macron zwei zentrale Themen: politischen Radikalisierung und der Populismus von Marine Le Pen. Denn wenn diese in Frankreich an die Macht käme, würden alle Ideen zur Zukunft Europas hinfällig. Deshalb stünde die Lösung dieser Aufgabe derzeit im Zentrum von Macrons Politik.

Das Programm zu der online-Diskussion "Kerneuropa geht voran – Die richtige Strategie für die EU von morgen?" kann hier heruntergeladen werden.

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