Der Spielraum wird neu vermessen

Schutzsuchende trifft die Krise besonders hart, aber sie ist auch eine Chance für mehr Mitsprache.

Bild: von April-Mediengruppe

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Corona ist ein gesellschaftlicher Scheidepunkt, auch für Geflüchtete. Es ist nicht die Pandemie, sondern die Neuordnung sozialer Verhältnisse als politische Antwort auf das Virus, was auch die zukünftige Position Geflüchteter in der Gesellschaft bestimmen wird. Dabei sind es gerade diejenigen am Rande der Gesellschaft, die Neuen, die Schutzsuchenden, die Prekären, die den Maßnahmen unmittelbar ausgesetzt sind. Sie sind auch die Ersten, an denen neue Politiken und Restriktionen exekutiert werden, aber auch Optionen, die künftig für alle relevant werden können. Allerdings sind diese Politiken keineswegs systematisch, geplant oder direktional, sondern häufig zunächst improvisiert, widersprüchlich und umkämpft.

Soziale Distanz – für Geflüchtete nichts Neues

Physische Distanz, die als Antwort auf die Übertragung des Virus durch körperliche Nähe in der Gesellschaft zum Standard geworden ist, ist für Geflüchtete eine lang etablierte Praxis. Nicht erst seit Corona werden sie durch Grenzen und Lagerunterbringung auf Distanz zur Aufnahmegesellschaft gehalten. Während sich Grenzschließungen auch für Schengen-Bürger_innen und die sozialen Konsequenzen der Isolierung von älteren Menschen für Eltern und Großeltern in Altersheimen bemerkbar machen, verschärfen sich die Bedingungen für Geflüchtete um einiges drastischer. Aufnahmen werden ausgesetzt, Asylsuchende in Lagern auf griechischen Inseln oder dicht gedrängt in Unterkünften in Deutschland festgesetzt. Zugang zu gesundheitlicher Versorgung ist erschwert, zumal in manchen Unterkünften Ärzt_innen sich aus rassistisch unterfütterten Ängsten weigern, diese zu betreten. Auf verschiedenen Ebenen wird die physische, aber auch die soziale Distanz zu Geflüchteten unter dem Eindruck von Corona ausgebaut. Zugleich gibt es jedoch einige positive Entwicklungen, die ohne Corona so nicht möglich gewesen wären. Kommunen und Bundesländer zeigen auch unter dem Eindruck der desolaten gesundheitlichen Lage in griechischen Camps Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen. Gerade in Unterkünften zeigen sich angesichts der auch allgemeinen Bedrohung durch das Virus wichtige Entwicklungen, die zuvor undenkbar schienen. Bäder und Kantinen wurden in manchen Einrichtungen in Deutschland schnell und unbürokratisch für alle Bewohner_innen installiert, um Distanzierung zu ermöglichen. Infizierte oder Gefährdete wurden sicher untergebracht. 

Selbstorganisation und Mitspracherecht 

Die wichtigsten Neuerungen gingen jedoch von Geflüchteten selbst aus, die unmittelbar anfingen, für sich und andere Masken zu nähen. Durch interne Kommunikation, digital und mündlich, wurden wichtige Informationen schnell und zuverlässig unter Geflüchteten geteilt. Diese  Selbstorganisation ermöglichte es, Bedarfe und Gefährdungslagen an zuständige Stellen zu kommunizieren. Als besonders erfolgreich erwies sich eine gute Zusammenarbeit zwischen staatlichen und humanitären Akteur_innen und den Betroffenen, die im Zuge der Krise organisiert und ausgebaut wurde.
In der Pandemie konnten somit zwei entgegengesetzte Trends beobachtet werden: eine zunehmende Distanzierung einerseits sowie eine effektive Selbstorganisation und Kooperation Geflüchteter andererseits. Für eine Post-Corona Welt muss nicht nur Letzteres ausgebaut, sondern auch eine Beteiligung der Betroffenen fest in Politik und Praxis integriert werden. Dies gilt von lokalen Unterkünften für Geflüchtete bis zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, etwa bei der Verteilung Asylsuchender in der EU. Erfolgreiche Reformen müssen die Bedarfe von Geflüchteten durch verbürgte Mitspracherechte berücksichtigen. Wenn etwas bleiben sollte von Corona, dann ist es die Erkenntnis, dass eine erfolgreiche Mehrebenenpolitik bei jedem Einzelnen und dessen Verantwortung und Einbindung beginnt – und dies schließt auch die besonders prekären und peripheren Mitglieder der Gesellschaft wie Geflüchtete mit ein. 


Über den Autor

Dr. J. Olaf Kleist ist Politikwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Berlin.
 

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