Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie

"Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt". Ernst Reuter (1887 - 1953)

Vor rund 70 Jahren hielt Ernst Reuter seine wohl berühmteste Rede vor dem Berliner Reichstag. Reuter, erster "Regierender Bürgermeister" Berlins, konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken. Dieser Text erinnert an einen der wichtigsten Sozialdemokraten im Nachkriegsdeutschland.

Bild: 60. Geburtstag von Ernst Reuter von Sammlung Telegraf, Archiv der sozialen Demokratie

Am 9. September 1948 appelierte Ernst Reuter während der Berliner Blockade mit dieser - für heutige Ohren recht pathetischen - Ansprache vor ca. 300.000 Menschen an die "Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien", Berlin nicht preiszugeben. Er wurde damit international zum Symbol des Freiheitswillens Berlins.

"… ein brillanter und klarer Kopf, aber ein wenig zu unabhängig"

Zu diesem Zeitpunkt - der 59jährige spricht als von der Stadtverordnetenversammlung gewählter Berliner Oberbürgermeister, ist aber nicht durch die Alliierte Kommandantur bestätigt - liegt ein bewegtes Leben hinter ihm: christlicher Burschenschaftler, sozialdemokratischer Wanderredner und Bildungsreferent, engagierter Pazifist, Soldat und russischer Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg. Als Vorsitzender eines internationalen Kriegsgefangenenkomitees werden die Bolschewiki auf das Organisations- und Sprachtalent aufmerksam: Reuter wird Volkskommissar an der Wolga mit der Aufgabe, die deutschen Kolonisten zu loyalen Bürgern des sich etablierenden Sowjetstaates zu machen. Ende 1918 kehrt er nach Deutschland zurück; Lenin urteilt über ihn: "Der junge Reuter ist ein brillanter und klarer Kopf, aber ein wenig zu unabhängig". Der so Empfohlene wird KPD-Funktionär und widmet sich dem Aufbau der Parteiorganisation in Berlin. 1921 führt die sogenannte "Märzaktion" zu heftigen parteiinternen Konflikten, in deren Folge Reuter im Januar 1922 aus der Partei ausgeschlossen wird.

Berlin - „eine scheußliche Stadt“

Erstaunlich schnell fasst Ernst Reuter wieder in der Sozialdemokratie Fuß. Noch im selben Jahr übernimmt er die Redaktion des "Vorwärts" und greift in seinen Artikeln häufig kommunalpolitische Themen auf. Bei seiner ersten Ankunft in Berlin 1913 hatte er in Briefen an seine Eltern und seinen Bruder Karl Berlin "eine scheußliche Stadt" und "höchst unsympathisch" genannt. In den folgenden Jahren nun widmet er sich sowohl journalistisch als auch in der Berliner Stadtverordnetenversammlung vor allem der örtlichen Verkehrssituation.

1920 war aus acht Städten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken die Einheitsgemeinde "Groß-Berlin" gebildet worden, die dann auf 4 Millionen Einwohner anwuchs. Das Nebeneinander von privaten, kommunalen und reichseigenen Verkehrsgesellschaften sowie solchen mit gemischter privater und städtischer Beteiligung führt zu einer chaotischen Linien- und Tarifkonkurrenz. Ernst Reuter strebt an, mit einem leistungsfähigen Nahverkehr die Mobilität zwischen den neu entstandenen (Arbeiter-)Wohnbezirken an der Peripherie und den innerstädtischen Arbeitsplätzen sicher zu stellen. Als Stadtrat für Verkehr beginnt er ab 1926 mit dem Kauf von Aktienmehrheiten an den privaten Gesellschaften. 1927 führt Berlin den Einheitstarif von 20 Pfennig mit Umsteigeberechtigung ein. Zum ersten Mal können die Berlinerinnen und Berliner mit dem gleichen Ticket U-Bahn, Straßenbahn und Bus fahren - heute selbstverständlich, damals eine kleine Revolution. Zum 1. Januar 1929 nimmt dann die Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG) ihren Betrieb auf, mit 89 Linien, einem Netz von 634 Kilometern Länge, über 900 Millionen jährlich beförderten Fahrgästen und bis zu 28.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das größte Nahverkehrsunternehmen der Welt. Ernst Reuter wird erster Aufsichtsratsvorsitzender.

"… ich eigne mich wenig als Befehlsempfänger"

1931 verlässt Reuter die große Stadt und wird am 29. April Magdeburger Oberbürgermeister. 1932 wird er für die SPD in den Reichstag gewählt, dort lehnt er am 23. März 1933 das Ermächtigungsgesetz ab. Im Juni 1933 wird der Noch-Oberbürgermeister verhaftet und seines Amtes enthoben; im KZ Lichtenburg bei Torgau ist er schweren Misshandlungen ausgesetzt. Nach Entlassung, Rekonvaleszenz und erneuter Verhaftung kann der prominente Sozialdemokrat nach britischer Intervention im Januar 1935 nach England ausreisen. Seine dortige Suche nach einer Anstellung bleibt erfolglos; auf Vermittlung der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland gelingt es ihm, als Fachmann für Allgemeines Tarifwesen im türkischen Wirtschaftsministerium angestellt zu werden. Seine Erfahrung im Kommunal- und Verkehrswesen kommt ihm hier zugute: 1941 wird er an der Verwaltungshochschule in Ankara zum Professor für Kommunalwissenschaft ernannt.

Im November 1946 kann Ernst Reuter endlich mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehren. Er lässt sich von Kurt Schumacher dazu bewegen, erneut nach Berlin zu gehen und erneut Berliner Stadtrat für Verkehr und Versorgungsbetriebe zu werden. Die Lage ist katastrophal, die Verwaltung einer Stadt in Trümmern und unter Vier-Mächte-Status geradezu unmöglich. Konflikte sind vorprogrammiert; schließlich wird wegen seines Mangels an Unterwürfigkeit seine Entlassung beantragt (darüber aber nicht entschieden). Seine selbstbewusste Haltung gegenüber den Siegermächten trägt wesentlich zu seiner Popularität in der Bevölkerung bei.

Bereit, "… jedes ihm auferlegte Opfer zu bringen"

Im Juni 1948 beginnt die Berlin-Blockade. Am 24. Juni 1948 sperrt die Sowjetunion alle Straßen, Schienen- und Wasserwege, die in die Berliner Westsektoren führen; auch die Stromversorgung wird eingestellt. Der brillante Redner Reuter schwört die Berliner darauf ein, sich nicht dem sowjetischen Herrschaftsanspruch zu fügen, sondern für die Freiheit der Stadt einzustehen. Auch die USA sind beeindruckt; die sogenannte "Luftbrücke" wird eingerichtet. Die West-Alliierten versorgen die Berliner Bevölkerung bis zum 30. September 1949 mit Kohle, Nahrungsmitteln und Baustoffen.

In der Zeit bis zur Aufhebung der Blockade hält Reuter unzählige Reden auf Kundgebungen und im Radio. Am 5. Dezember 1948 wählen die Bewohner der Westsektoren eine neue Stadtverordnetenversammlung. Der SPD gelingt mit 64,5 % der Stimmen ein überragender Wahlsieg, am 7. Dezember wird Ernst Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister West-Berlins gewählt.

Die Probleme, mit denen das Stadtoberhaupt zu kämpfen hat, sind vielfältig und kaum zu meistern: Das Berliner Wirtschaftsleben liegt danieder, hohe Arbeitslosigkeit ist die Folge. Kontroversen mit Bundeskanzler Adenauer um die Anbindung West-Berlins an die Bundesrepublik und innerparteiliche Konflikte um gesellschaftliche Reformen wie etwa die Ablösung von Beamten durch angestellte Verwaltungsbedienstete oder die "klassenlose" Einheitsversicherung aller Berliner Beschäftigten müssen ausgefochten werden. Schließlich stellt der stetig zunehmende Flüchtlingsstrom aus der DDR Berlin vor große Herausforderungen. Die Belastungen sind immens.

Nach einem Herzanfall verstirbt der 64jährige Ernst Reuter am 29. September 1953. Die Stadt Berlin erinnert an ihn durch verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zahlreiche öffentliche Gebäude tragen seinen Namen, ein zentraler Verkehrsknotenpunkt in Berlin-Charlottenburg wurde bereits am 1. Oktober 1953, wenige Tage nach seinem Tod, nach ihm benannt.


Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung hält zahlreiche Veröffentlichungen von und über Ernst Reuter bereit.

Ein Film über Ernst Reuter ist auf den Seiten der Bürgermeister-Reuter-Stiftung zu finden.