Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie

„Eine russische Märtyrerin auf deutschem Boden“ - Auf den Spuren der politischen Aktivistin Sonja Lerch

„When the revolution came in 1918, its gender was male“ – konstatiert der deutsche Historiker Benjamin Ziemann: Die Revolution begann als Matrosenaufstand und wurde von Soldaten weitergetragen, die Arbeiter- und Soldatenräte waren zweifellos männlich dominiert.

Im Zuge der Erinnerung an das Revolutionsjahr 1918 richtet sich der Blick aber zunehmend auch auf die Rolle von Frauen als Akteur_innen.

Die Streiks etwa, die im Januar 1918 im ganzen Deutschen Reich ausbrachen und die Brot und Frieden forderten, betrafen im erheblichen Maße auch und gerade Frauen. Denn sie hatten, während die Männer im Feld standen, die Arbeitsplätze übernehmen müssen und arbeiteten z.B. in der Rüstungsindustrie. Politische Aktivistinnen unterschiedlichster Couleur kämpften für Demokratie und Frauenwahlrecht und in erster Linie für ein Ende des Krieges.

 

Auf den Spuren von Sonja Lerch

Eine dieser Frauen war Sonja Lerch. Über Jahrzehnte vergessen erfährt sie nun eine kleine Renaissance. Eine Ausstellung in München sowie mehrere Neuerscheinungen  nehmen sich ihrer an. Warum ausgerechnet sie? Sonja Lerch war Mitglied in der SPD (später in der USPD) - allerdings keine bekannte Funktionärin. Sie promovierte in Volkswirtschaft – wurde aber keine sozialistische Theoretikerin. Als überzeugte Pazifistin trat sie als Rednerin bei den Januarstreiks auf,  die Ausrufung der Münchner Republik jedoch erlebte sie nicht mehr.

Auf der Suche nach ihr finden sich Spuren an den erstaunlichsten Stellen:

Victor Klemperer etwa erwähnt sie mehrfach in seinen Erinnerungen „Curriculum vitae“; Ernst Toller verarbeitete ihr Schicksal in seinem Drama „Masse Mensch“. Die Sozialdemokratischen Wahlvereine in Berlin widmeten ihr (wie andere Zeitungen auch) einen Nachruf im „Mitteilungs-Blatt“; noch 1927 erinnert die Leipziger Volkszeitung an ihr tragisches Schicksal und zitiert dabei einen Brief Clara Zetkins an Kurt Eisner: „Ein Mensch wie sie, der so starke Lebensimpulse im Wirken für eine Idee, für die breitesten Massen fand.“

 

„Ich habe schon in meiner Jugend Sympathie für den Sozialismus gehabt.“

Wer ist nun diese Sonja Lerch, geboren als Sarah Sonja Rabinowitz, die ihre Zeitgenoss_innen offenbar tief beeindruckt hat? Die „kleine russische Jüdin“ (Eisner), geboren 1882 in Warschau, wird vor 1900 Mitglied im jüdischen Arbeiterbund. Sie spricht deutsch, polnisch und jiddisch, studiert in Wien und Bern, erlebt bei einem Besuch 1903 den Pogrom von Kischinew, einem Zentrum jüdischen Lebens im russischen Zarenreich. Als  junge Frau  beteiligt sie sich in Odessa an der Russischen Revolution von 1905. Nach ihren eigenen Angaben Mitglied im örtlichen Arbeiter-Deputiertenrat wird sie verhaftet und kann schließlich 1907 über Wien nach Deutschland fliehen.

1909 tritt Sarah Rabinowitz in Frankfurt/Main in die SPD ein; sie hält wissenschaftliche Vorträge, verteilt Flugblätter, arbeitet als Übersetzerin für die Partei.  In diesem Umfeld lernt sie u.a. Luise Zietz und Clara Zetkin kennen. Schließlich setzt sie ihr Studium der Volkswirtschaft fort und promoviert 1912 in Gießen mit der Arbeit „Über die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland bis zur großen Revolution im Jahre 1905“.

 

Promovierte Volkswirtin und „Privatdozentensgattin“

Während des Studiums hat die russische Sozialistin den deutschen Romanisten Heinrich Eugen Lerch kennengelernt, der sein Elternhaus als „sehr christlich, sehr bürgerlich, sehr kaisertreu“ beschreibt. Man heiratet (trotzdem und aus Liebe) Ende 1912 – aus der jüdischen Revolutionärin wird die „Privatdozentensgattin“ Dr. Sonja Lerch. 1913 zieht das Paar nach München, wo sich Eugen Lerch habilitiert. Mit Rücksicht auf die akademische Karriere ihres Mannes gibt Sonja jedes politische Engagement zunächst auf.

Doch im Verlauf des Ersten Weltkrieges ändert sich das: Sonja kritisiert heftig die Burgfriedenspolitik der SPD, verlässt die Partei und tritt der USPD bei. Sie ist sowohl Pazifistin als auch Anhängerin der Russischen Revolution von 1917 und hofft: „wenn das deutsche Proletariat sich mit dem russischen vereinigen würde, könnte gleich Frieden sein, denn dann würden sicher franz. und engl. Arbeiter sich anschließen […].“ Sie agitiert also für den Generalstreik, der den Krieg beenden und Frieden mit Russland bringen soll. In flammenden Reden versucht sie in den letzten Januartagen 1918, die Arbeiter_innen zum Streik zu bewegen – eine Woche öffentliche Agitation nur, die am 1. Februar zur Verhaftung als mutmaßliche Landesverräterin führt  und böse Beschimpfungen als „russische Steppenfurie“ zur Folge hat. Auch ihrem Mann ist das zu viel: Eugen Lerch hält sich von seiner Frau fern. Die Scheidung ist eingereicht, der Verhandlungstermin steht bevor.  Am 29. März 1918 wird Sonja Lerch erhängt in ihrer Zelle aufgefunden.

 

Märtyrerin oder verlassene Ehefrau?

Die Erinnerung an Sonja Lerch ist stark geprägt von der Tragik ihres frühen Todes – offenbar ausgelöst durch eine private Tragödie. Ihr Einfluss auf die Geschehnisse im Januar war denkbar kurz; welche Rolle sie im weiteren Verlauf der Revolution hätte spielen können, bleibt Spekulation. Viktor Klemperer kann sie sich gut in einem Ministerium der Münchner Republik vorstellen, als enge Mitarbeiterin Kurt Eisners.

Kurt Eisner selbst – zum Zeitpunkt des Geschehens in Haft – schreibt:

„Die arme Sonja Lerch hat sich in Stadelheim erhängt. Nicht wegen des „Landesverrats“, sondern um der tiefsten Demütigung ihrer Frauenliebe zuvorzukommen. Es war ein paar Tage vor […] dem Termin ihrer Ehescheidung. Dieser prachtvolle deutsche Privatdozent, für den die Sonja gearbeitet u[nd] gerackert hatte, der sich vor mir einen Tolstoianer nannte, widerstrebte gleichwohl nicht dem Übel, sondern veröffentlichte in dem Augenblick als seine Frau unter Anklage eines mit Zuchthaus bedrohten Verbrechens verhaftet war, in den Blättern eine Erklärung, dass er schon vor einiger Zeit die Scheidungsklage eingeleitet habe. […] Eine russische Märtyrerin auf deutschem Boden. Sie erlebte das Martyrium doppelt, als russische Sozialistin in der deutschen Partei, und als russische Frau bei dem deutschen Universitätsgelehrten.“ 

 

Inzwischen sind einige Veröffentlichungen zu Sonja Sarah Lerch geb. Rabinowitz erschienen, die sich im Bestand der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung befinden.

Auch ihre Dissertation ist im Bibliotheksbestand verfügbar.

Ein Nachruf auf Sonja Lerch aus „Mitteilungs-Blatt des Verbands der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend” ist hier digital verfügbar.