Bei dem restituierten Buch handelt es sich um ein Exemplar der Schrift „Die Aufgabe des Staates gegenüber dem Verbrecherthume nach den Grundsätzen des Materialismus“ von Alfred Martin Cleß, erschienen 1875 im Verlag der Schabelitz’schen Buchhandlung in Zürich. Sowohl was die Publikation an sich als auch was das Exemplar betrifft, zeigt sich bei näherer Betrachtung manches Bemerkenswerte.
Alfred Cleß wurde 1852 in Stuttgart geboren. Als „Die Aufgabe des Staates …“, wohl seine erste Veröffentlichung, erschien, stand er im 23. Lebensjahr. Er war noch Student der Rechte, sein Referendarexamen sollte er erst im Juni 1876 ablegen. Jedoch mangelte es ihm nicht an Selbstvertrauen. Völlig selbständig sei er, schrieb er in seinem Vorwort, auf den Gedanken gekommen, „die Naturwissenschaft“ - statt der „Philosophie“ - „zur Grundlage des Strafrechts zu machen“. Ohne Vor- oder Mitkämpfer habe er den Gedanken zu einem vollen System entwickelt. Cleß‘ Anspruch war es, ausgehend vom Materialismus zu Wahrheiten zu gelangen und diese Wahrheiten durchzusetzen. Er wünschte sich Anhänger dieser Wahrheiten, „die für dieselben zu leben und zu sterben wissen“. Die Demutsformel, die Cleß konventionshalber in das Vorwort flocht, fiel so sehr aus dem Duktus, dass der Leser unseres Exemplars sie als auffällige Stelle unterstrich.
Cleß wählte nicht den nächstbesten Verlag, bei Schabelitz publizierten auch August Bebel und Friedrich Engels. Und er bat den seinerzeit berühmten Ludwig Büchner, der mit seinem 1855 erschienenen, vielfach neu aufgelegten und übersetzten Werk „Kraft und Stoff“ zu einer der Galionsfiguren des Materialismus geworden war, um ein Vorwort zu seiner Schrift. Büchner erfüllte den Wunsch, ließ dabei aber eine gewisse Reserve gegenüber der Schrift erkennen, indem er sie zweimal als „Werkchen“ bezeichnete und die enthaltenen Radikalismen mit der Jugend des Autors entschuldigte. Cleß in seinem Sturm und Drang wird es kaum gestört haben. Ob Gleiches für den eindeutigen Verriss galt, der seiner Abhandlung im März 1876 im „Literarischen Centralblatt“ zuteil wurde? Immerhin stammte die harsche Kritik („ ganz werthlose[s] Schriftchen“) von keinem Geringeren als Karl Binding, der sie in seinem 1877 abgeschlossenen großen Werk „Die Normen und ihre Übertretung“ wiederholte, dabei jedoch Cleß‘ Wahrheits- und Humanitätsstreben Anerkennung zollte.
Cleß absolvierte im November 1877 die Assessorprüfung und wurde Hilfsrichter in Geislingen. Schon nach wenigen Monaten suchte er jedoch um Entlassung aus dem Justizdienst nach, um sich in Stuttgart als Anwalt niederzulassen. Auf dem Umschlag unseres Exemplars findet dies seinen Niederschlag in einer handschriftlichen Notiz beim Verfassernamen: „jetzt 1878 Advokat in Stuttgardt“. Interessanter noch ist eine weitere Notiz von gleicher Hand, ebenfalls auf dem Umschlag: „1878 hat mir selbst gegenüber den Inhalt desavouirt“. Es liegt nahe, dass diese Notizen sowie die gelegentlichen An- und Unterstreichungen sowie Anmerkungen im Buch von Julius Motteler stammen, dessen Nachlassstempel sich im Innendeckel findet. Motteler war wie Cleß gebürtiger Württemberger, das mag den persönlichen Kontakt erklären.
Der Inhalt von Cleß‘ Schrift stellte sich aufs Äußerste gerafft und befreit von aller Polemik gegen Philosophen und Theologen so dar: In einer Gesellschaft, deren Mitglieder über echte Bildung verfügen, ist Verbrechertum unmöglich. Ursache allen Verbrechertums ist das Bildungsversagen von Staat und Gesellschaft. Nichtsdestoweniger müssen die Bürger vom Staat vor den Verbrechern geschützt werden. Deren Unschädlichmachung ist die - einzige - Rechtfertigung des Strafrechts. Legitime Strafe ist allein die einfache Freiheitsentziehung, die an der Begehung weiterer Verbrechen hindert. Verschärfungen wie Zuchthaus oder Nebenstrafen wie etwa Ehrenstrafen sind abzulehnen, ebenso die Ausbeutung der Arbeitskraft des Gefangenen. Im Anschluss an die Entwicklung der eigenen Thesen und Schlussfolgerungen handelte Cleß die bestehenden Straftheorien ab und befand sie sämtlich für völlig haltlos.