Das Ausstellungsprojekt von Arbeit und Leben Thüringen, das 2021 erarbeitet wurde, versteht sich als ein Baustein des Gedenkens an 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen. Sein Anliegen ist es, die Erinnerung an die jüdische Vielfalt um eine wichtige, vielfach verdrängte oder vergessene Tradition zu ergänzen. Nicht nur das religiöse Leben bestimmte die Existenz deutscher Jüdinnen und Juden, sondern auch vor allem ab dem 19. Jahrhundert eine universalistische und säkulare Lebensweise. Besonders sichtbar wurde dies in der aufkommenden Arbeiter_innenbewegung, in deren Rahmen sich auch jüdische Menschen in vielfältiger Weise engagierten.
Redakteur und kommunales Wirken in Schmalkalden: Ludwig Pappenheim (1887–1934)
Ludwig Pappenheim wurde am 17. März 1887 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Mit 18 Jahren trat er aus dem Judentum aus. Nach der Novemberrevolution wurde er Abgeordneter der USPD in der Stadtverordnetenversammlung in Eschwege. Im April 1919 verzichtete er jedoch auf sein Mandat. In Schmalkalden hatte eine Verlagsgenossenschaft das Schmalkalder Tageblatt übernommen, das fortan als Arbeiterzeitung Volksstimme mit Pappenheim als leitendem Redakteur fortgeführt wurde. Das Vorhaben war durch Spenden aus der Arbeiterschaft und mit dem elterlichen Erbe Pappenheims ermöglicht worden. Pappenheim führte in Schmalkalden die Jugendweihe ein und trat dabei in den folgenden Jahren wiederholt als Festredner auf. Neben der Bildungsarbeit war ihm der Kampf um die Rechte der Frauen wichtig. Er organisierte den Neubau von Arbeitersiedlungen und eines Schwimmbades und gründete die erste Konsumgenossenschaft von Schmalkalden-Wasungen. Als Abgeordneter der SPD hatte er ab 1920 ein Mandat im Provinziallandtag der Provinz Hessen-Nassau inne, da er in den Kommunallandtag des Regierungsbezirks Kassel gewählt worden war. 1922 wurde er Kreisvorsitzender seiner Partei und gehörte dem Kreisausschuss sowie dem Schmalkalder Magistrat als unbesoldeter Beigeordneter an. Von 1925 bis 1933 war er Mitglied im Anstaltsbeirat des Arbeitshauses Breitenau bei Kassel, wo er sich für Reformen einsetzte, die insbesondere auf eine Verbesserung der schlechten Lebensbedingungen vor Ort abzielten. Die Nationalsozialisten verhafteten ihn im März 1933. Es folgten Gefängnis und Schikanen, bis er 1934 im KZ Neusustrum ermordet wurde.
Fazit
Parallel zu den Biografien beinhaltet die Ausstellung ein inhaltlich vielfältiges Informationsangebot zum sozialhistorischen Kontext der betrachteten Personen. Breiten Raum nimmt dabei die Geschichte des Antisemitismus und seiner Akteure von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Slansky-Prozess zu Beginn der 1950er-Jahre ein. Die Zuwanderung osteuropäischer Jüdinnen und Juden wird ebenso thematisiert wie Perspektiven auf den sozialistischen Zionismus. In diesem Zusammenhang sind auch die Thüringer Palästinafreunde von besonderem Interesse, die als „Verband der Freunde des arbeitenden Palästina“ Mai 1927 auf Initiative der jüdischen Arbeiterpartei Poale Zion gegründet wurden. Unterstützer fand der Verband in der Arbeiter_innenbewegung Thüringens, u.a. beim Landtagspräsidenten und Vorsitzenden der SPD Thüringen Hermann Leber, beim Redakteur des SPD-Parteiorgans Das Volk Albert Kranold sowie den sozialistischen Professoren Paul Linke, Wilhelm Peters und Karl-Ludwig Schmidt.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg früh in Thüringen aufgeworfene Frage der Entschädigung jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Diktatur, die prominent von Hermann Brill auf die Tagesordnung gesetzt und von der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren einheimischen Helfern verhindert wurde, ist ebenfalls ausführlicher Bestandteil der Ausstellung.
Das Feedback der Besucher_innen signalisiert, dass neben den Biografien der vorgestellten Personen vor allem die historischen Kontexte häufig wenig bekannt sind. Dies betrifft nicht nur die moderne Ideengeschichte (Stichwort Zionismus), sondern generell auch den sozialgeschichtlichen und politischen Kontext. In der jüngeren Generation ist dieses vornehmlich schulisch erworbene Wissen allenfalls rudimentär ausgeprägt, worauf auch der 16. Jugendbericht der Bundesregierung von 2020 hingewiesen hat. Dies ist umso mehr zu bedauern, da die antidemokratisch orientierte Publizistik, die die Nähe zu antisemitischen Verschwörungsideologien kaum scheut, immer mehr Raum gewinnt. Auch geschichtsrevisionistische Positionen finden heute bei einem historisch interessierten Publikum vielfach Resonanz, u.a. weil sie häufig im Stil populärwissenschaftlicher, professionell erzeugter Medienprodukte die Neugier vieler unbedarfter Interessent_innen wecken. Die demokratische Öffentlichkeit, vor allem aber die politisch Verantwortlichen sind aufgefordert, dies als ernsthafte Herausforderung anzunehmen und eine historische Gedenk- und Erinnerungskultur zu befördern, die sich vornehmlich nicht (nur) auf eine Kultur der Vergangenheitsrepräsentation beschränkt.
Uwe Roßbach/Judy Slivi
Der Text bezieht sich auf das Ausstellungsprojekt „Jüdinnen und Juden in der Arbeiterinnenbewegung Thüringens “. Die Ergebnisse entstammen der verdienstvollen und engagierten Arbeit einer Reihe Thüringer Regionalhistoriker_innen, denen an dieser Stelle gedankt werden soll: Jörg Kaps und Dr. Monika Gibas (Arnstadt), Dr. Reinhold Brunner (Eisenach), Dieter Bauke (Gera), Christoph Gann (Meiningen), York-Egbert König und Ute Simon (Schmalkalden).
Literatur:
Reinhold Brunner: 1850–1930: Eisenacher Juden als Handlungsträger in der kommunalen Politik, in: Harald Mittelsdorf (Hg.), Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten, Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Band 26, Weimar 2007, S. 70–89.
Ilse Fischer/Rüdiger Zimmermann: „Unsere Sehnsucht in Worte kleiden“. Eugen Prager (1876–1942). Der Lebensweg eines sozialdemokratischen Journalisten, Bonn 2005.
York-Egbert König/Dietfrid Krause-Vilmar/Ute Simon: Ludwig Pappenheim. Redakteur – Sozialdemokrat – Menschenfreund, herausgegeben vom Centrum Judaicum, Berlin 2014.
O. A.: Deutsche Sozialisten für das arbeitende Palästina, in: Der jüdische Arbeiter. Organ der jüdischen sozialdemokratischen Arbeiterorganisation Poale Zion 4 (1927) 6, S. 4.
Heike Stange: Zwischen Eigensinn und Solidarität: Frida Winckelmann (1873–1943), in: Mario Hesselbarth/Eberhart Schulz/Manfred Weißbecker (Hg.), Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen. Biographische Skizzen, Jena 2006, S. 458–464.