Archiv der sozialen Demokratie

Intellektueller und Staatsmann: Carlo Schmid zum 125. Geburtstag

Die Prädikate loben ihn in den höchsten Tönen: „Ausnahmegestalt“, „politischer Star“, „Verfassungsvater“ und „Weltbürger“. Carlo Schmid, deutscher Politiker mit französischen Wurzeln, war ein brillanter Jurist und ein begnadeter Redner. Und ein großer Sozialdemokrat.

 

Carlo Schmid, eigentlich Charles Jean Martin Henri Schmid, wird am 3. Dezember 1896 in Perpignan in Südfrankreich geboren. Seine Mutter Anna Erra ist Französin, sein Vater Joseph Schmid Schwabe. Als Charles 12 Jahre alt ist, zieht die Familie Schmid nach Stuttgart. In dieser Zeit erhält Charles von Kindern in seinem Umfeld den Spitznamen Carlo, den er nach 1945 zu seinem offiziellen Namen machen wird, um sich von einem namensähnlichen Nationalsozialisten zu unterscheiden. 1914 – nach bestandenem Abitur - meldet sich Schmid als Freiwilliger und nimmt am Ersten Weltkrieg teil.

Juristische Karriere

Der junge Schmid hegt zwar eine große Leidenschaft fürs Literarische, entscheidet sich jedoch nach Kriegsende für ein bodenständiges Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Schließlich promoviert er 1923 zum Dr. jur. in Frankfurt am Main mit einer Dissertation über die „Rechtsnatur der Betriebsvertretungen nach dem Betriebsrätegesetz“. Ein Jahr später lässt Schmid sich als Rechtsanwalt in Reutlingen nieder, tritt aber bereits 1925 in den württembergischen Justizdienst ein, wird dort zunächst Gerichtsassessor, danach Amtsrichter und schließlich in Tübingen Landgerichtsrat. Um sich als Referent im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin mit ausländischem öffentlichen Recht und Völkerrecht beschäftigen zu können, nimmt er eine Auszeit und lässt sich für zwei Jahre vom württembergischen Justizdienst beurlauben. Nach seiner Habilitation 1929 über die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes ist er von 1930 bis 1940 in Tübingen als Privatdozent für Völkerrecht tätig.

Nonkonformismus unterm Hakenkreuz

Anders als andere Juristenkollegen kann er weitestgehend unbehelligt seinem Beruf nachgehen. Zwar tritt er nicht in die NSDAP ein, macht aber Konzessionen an das Regime, indem er sowohl dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen als auch der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt beitritt. Allerdings werden ihm aufgrund mangelnder „weltanschaulicher und politischer Zuverlässigkeit“ im Sinne der NS-Ideologie weitere Berufungen und Beförderungen verwehrt. Man kann bei Carlo Schmid nicht von einem großen Widerstandskämpfer sprechen. Dennoch weiß er sich zumindest mit subtilen Gesten zum Teil nonkonform zu verhalten. So erzählt er in einem Interview in späteren Jahren, dass er sich erstmals extra einen Hut gekauft habe, um statt dem obligatorischen „deutschen Gruß“ mit einem Schwenken des Hutes antworten zu können. Außerdem bietet er jüdischen Student_innen, die ihre Unterkunft verloren hatten, vorübergehend eine Bleibe in seinem Haus in Tübingen an. Als er 1940 zur Wehrmacht eingezogen wird und in Lille als juristischer Berater der deutschen Oberfeldkommandantur zugeteilt wird, nutzt er immer wieder Freiräume, um die Lebensbedingungen der Franzosen zu verbessern; gleichzeitig versucht er, sich als „loyaler und zuverlässiger Sachverwalter deutscher Interessen zu präsentieren“. Zu seinem Engagement gehört u.a., dass er in seinem Zuständigkeitsbereich die Milchversorgung der Bevölkerung sichert, indem er eine illegale Einfuhr tausender Milchkühe aus Belgien organisiert. Er nutzt Kontakte über Mittelsmänner, um die Résistance vor Aktionen der Besatzungsmacht zu warnen und bemüht sich um die Verbesserung von Haftbedingungen.

Politisches Schwergewicht

Dieses Verhalten sorgt für Anerkennung und Ansehen nach dem Krieg auf französischer Seite. Schmid wird daher 1945 von der französischen Militärverwaltung die Organisation des neugebildeten Landes Württemberg-Hohenzollern als Präsident des Staatssekretariats für die französisch besetzte Zone in Tübingen übertragen. Im Frühsommer 1946 betreibt er die Entnazifizierung der Universität Tübingen. Nach dem Eintritt in die SPD startet er seine Parteikarriere als Landesvorsitzender der SPD Südwürttemberg von 1946 bis 1950. Schmid bringt jedoch nicht den typischen Stallgeruch eines SPD-Politikers mit. Er hat einen bildungsbürgerlichen und akademischen Hintergrund, übersetzt gerne Werke von Charles Baudelaire und André Malraux und ist offenkundig ein Genussmensch. Dennoch wird er mehr als 25 Jahre Teil des SPD-Parteivorstands sein und dabei u.a. auf das Godesberger Programm maßgeblichen Einfluss ausüben. Als Parlamentarier gehört er dem deutschen Bundestag von 1949 bis 1972 an und übt dort über insgesamt 20 Jahre das Amt des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags aus.

Bedeutsam im Kontext der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist vor allem seine Rolle als einer der „Väter des Grundgesetzes“. Im Rahmen der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz 1947 hatte er bereits bundeweit Aufmerksamkeit erlangt, als er deutlich die politische Souveränität Deutschlands forderte. Für die verfassungsrechtliche Neugestaltung der Nachkriegsdemokratie bringt Schmid einiges an Erfahrungen aus der Arbeit an den württembergischen Nachkriegsverfassungen mit, ebenso wie die staats- und völkerrechtlichen Kenntnisse, die für den verfassungsrechtlichen Prozess relevant sind. Als Mitgestalter des Grundgesetzes gehen auf ihn u.a. zurück die Präambel mit der Betonung der „nationalen und staatlichen Einheit“ des deutschen Volkes, die Voranstellung der Grundrechte auch im Falle eines Notstands, das konstruktive Misstrauensvotum wie auch die Formulierung, dass die Bundesrepublik ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist.

Überzeugter Europäer

Schmid kann auch beschrieben werden als einer der frühen Verfechter eines geeinten Europas, denn er engagiert sich für die Idee eines wirtschaftlich, politisch und militärisch zusammenwirkenden Europas. 1948/49 wird Schmid Vorsitzender der Deutschen Gruppe im Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung. Mit einer kurzen Unterbrechung ist Schmid für 20 Jahre als Mitglied der beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg tätig. Darüber hinaus ist Schmid von 1969 bis 1979 gemäß des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages von 1963 als Koordinator der deutsch-französischen Beziehungen tätig. Die Aussöhnung mit dem französischen Nachbarn sieht er als Schlüssel für eine europäische Integration. Im erweiterten internationalen Kontext setzt sich Schmid im Rahmen von gemeinsamen Reisen mit Konrad Adenauer nach Krakau, Warschau und Moskau zwischen 1955 und 1959 für die Aussöhnung mit dem Osten ein und ebnet so den Weg zu den Verträgen von Warschau und Moskau.

 

In den großen politischen Diskussionen im Bundestag tritt Carlo Schmid immer wieder als Spitzenredner der SPD hervor. Seine Klugheit und umfassende Bildung verschaffen ihm allgemeine Achtung im In- und Ausland. Nach 23 Jahren als Bundestagsabgeordneter verzichtet er 1972 auf eine erneute Kandidatur. Er arbeitet weiterhin publizistisch sowie als Übersetzer von Baudelaire, Machiavelli und Malraux. Seine Memoiren erschienen 1979. Im selben Jahr verstirbt Carlo Schmid 83-jährig in Bonn.

Stephanie Kröger


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