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Sturm über Tschetschenien : Rußlands Krieg im Kaukasus / Henrik Bischof. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 21 S. = 68 Kb, Text . - (Studie zur Außenpolitik ; 65). - ISBN 3-86077-350-X
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT









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Sturm über Tschetschenien - Rußlands Krieg im Kaukasus [Einleitung]

Der Konflikt zwischen dem Moskauer Zentrum und Tschetschenien ist sowohl ein rechtliches als auch in erster Linie ein politisches bzw. sicherheitspolitisches Problem. Konflikte dieser Art lassen sich - zumal auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion - nicht juristisch, sondern nur politisch lösen. Der Versuch von Präsident Jelzin und seinen Verbündeten in Regierung und Armee, den Konflikt in Tschetschenien mit Gewalt zu „lösen", ist zum Scheitern verurteilt. Denn selbst „erfolgreiche" Gewaltanwendung und Unterdrückung bergen die Gefahr in sich, daß das nur niedergehaltene, aber nicht ausgeräumte Konfliktpotential wieder ausbricht. Trotzdem entschied sich die Moskauer Zentrale für die Intervention der russischen Armee in Tschetschenien. Der Ratschlag Solschenizyns blieb unbeachtet: Moskau sollte im Interesse des Aufbaus eines starken Kernrußlands die Finger von Zentralasien und dem Kaukasus lassen.

Im Westen entbrannte eine Diskussion über die Frage, ob die Intervention eine klassische imperiale Politik darstellt oder zum Schutze des Moskauer Zentrums vor dem wachsenden Druck der Peripherie erfolgt. Will Moskau Tschetschenien um seiner selbst willen in der Rußländischen Föderation behalten oder befürchtet es durch den Austritt Tschetscheniens Instabilität und Unsicherheit für den russischen Süden? Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen ausfällt, die militärische Intervention wird nicht nur nachhaltige Auswirkungen für die russische Innenpolitik, den Kampf um die Macht, haben. Auch die Außenpolitik Moskaus erscheint als Folge einer langen Kette von Aktivitäten in einem anderen Licht. Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Analyse (Ende Dezember 1994) ist noch nicht abzusehen, ob sich Tschetschenien in die Rußländische Föderation eingliedern läßt - sei es mit militärischer Gewalt oder durch Verhandlungsdiplomatie - oder ob ein langwieriger Kaukasus-Krieg bevorsteht. Festzustehen scheint nur, daß eine Rußländische Föderation nach dem Muster des Zarenreiches oder des Sowjetstaates nicht aufzubauen ist.

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Vorgeschichte

Die Tschetschenen, die sich selbst Nochtscho oder Nachtschi nennen, sind ein autochthones Volk im Nordkaukasus, das ursprünglich Naturgötter verehrte (Herdkult) und bis heute, in Geschlechterverbänden/Stämmen organisiert, Sippenkriege (mit Blutrache) untereinander führt. Tschetschenisch ist eine kaukasische Sprache, die seit dem 19. Jahrh. (seit 1938 mit kyrillischem Alphabet) auch eine Literatursprache ist. Auf dem heutigen Territorium von Tschetschenien leben rund 1 Mio. Tschetschenen (über 80%). Tschetschenische Minderheiten befinden sich vor allem in Dagestan sowie (eine zahlenmäßig starke Diaspora) in Moskau und in Nahost (Irak, Syrien, Jordanien). In der Antike und im Mittelalter (8. Jahrh.) wurden die unter der Herrschaft georgischer Könige lebenden Tschetschenen christianisiert. Ihre Islamisierung erfolgte erst im 16. Jahrh. Seitdem sind die meisten tschetschenischen Stämme sunnitische Moslems. Die Angehörigen des in Georgien lebenden Tschetschenen-Stammes der Kist sind Christen geblieben.

Der Kampf zwischen David und Goliath im Kaukasus dauerte insgesamt 400 Jahre - bis in das 19. Jahrh. hinein. Zunächst scheiterte Iwan der Schreckliche, dann auch Peter I. mit dem Versuch der Befriedung der für Rußland geopolitisch wichtigen Kaukasus-Region am Widerstand der Tschetschenen (zusammen mit Dutzenden von kleinen Kaukasus-Volksgruppen), die offenbar bis zum heutigen Tage unwillig scheinen, eine Fremdherrschaft zu ertragen. Erst nachdem Rußland zwischen 1801-1828 Armenien, Georgien und Aserbaidschan erobert hatte, gelang es Moskau, im Kaukasus-Krieg (1817-1864) auch die Tschetschenen zu unterwerfen. Anführer des Widerstandes war der in einem awarischen Dorf in Dagestan geborene Schamil, Führer einer aus der islamischen Mystik (Sufismus) hervorgegangenen politisch-religiösen Bewegung (Muridismus) der Bergvölker im Nordost-Kaukasus, der während des 47 Jahre andauernden Krieges einen eigenen Staat (Imamat) schuf. Schamil kämpfte in diesem Krieg 25 Jahre lang allein erfolgreich mit 20.000 Kriegern gegen eine 280.000 Mann starke russische Armee, bis er 1859 in Gefangenschaft geriet und nach Mekka ausgewiesen wurde. Rund 40.000 Tschetschenen flohen daraufhin in die Türkei.

Die jahrhundertealte Tradition des tschetschenischen Widerstandes gegen Moskau, die unvorstellbare Menschenopfer aus den eigenen Reihen forderte, setzte sich auch im Sowjetstaat, vor allem in den 20er und 30er Jahren, fort. 1921 wurde ein Teilgebiet der Tschetschenen der Gorskaja (Berg) ASSR zugeschlagen. 1922 erhielt Tschetschenien den Status eines Autonomen Gebietes. 1934 entstand durch Zusammenlegung das Tschetscheno-Inguschische Autonome Gebiet, das 1936 in eine Tschetscheno-Inguschische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) im Rahmen der RSFSR (Russische Föderation) umgewandelt wurde. 1944 kam es auf Stalins Befehl zur Auflösung der ASSR sowie zur Deportation der Tschetschenen, Inguschen und anderer Kaukasus-Völker nach Zentralasien (Sibirien, Kirgisien und Kasachstan) - unter dem Vorwand einer Kollektivstrafe für angebliche Kollaboration mit Hitler-Deutschland. In Wirklichkeit hat kein einziger deutscher Soldat Tschetschenien betreten. Heute gibt es kaum eine tschetschenische Familie, die kein Opfer der Vertreibung zu beklagen hätte. Erst 1957 wurden die Tschetschenen rehabilitiert, durften die Überlebenden aus Zentralasien in ihre wiederhergestellte, jedoch territorial verkleinerte Tschetscheno-Inguschische ASSR zurückkehren. 1991, zur Zeit des Unterganges der UdSSR, hatte diese ASSR rund 1,3 Mio. Einwohner, darunter 57,8% Tschetschenen, 23,1% Russen, 12,9% Inguschen, 1,2% Armenier u.a. Die Mehrheit der Tschetschenen, die sich heute gegen Moskau auflehnen, wurden in der Deportation geboren.

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Die Tschetschenische Republik

In der Zeit von „Perestrojka" und „Glasnost" unter Gorbatschow (1985-1991), die den Völkerschaften der Sowjetunion die Möglichkeit einer nationalen und staatlichen Eigenständigkeit eröffnete, konnten auch die Tschetschenen ihre nationale Wiedergeburt feiern. Am 27. November 1990 deklarierte die Tschetscheno-Inguschische ASSR ihre staatliche Souveränität und ihren Austritt aus der UdSSR. Initiator dieses Schrittes war der aus der nationalen Bewegung hervorgegangene Volkskongreß der Tschetschenen unter Führung des pensionierten Generalmajors der strategischen Luftstreitkräfte der UdSSR, Dschohar Dudajew (Jahrgang 1944), der Jelzin mit seiner im Machtkampf gegen Gorbatschow gegenüber Tatarstan gemachten Aussage - „Nehmt so viel Souveränität, wie Ihr wollt" (Neue Zeit, Moskau, Nr. 44/1991, S. 12) - beim Wort nahm. Die Souveränitätsbestrebungen wurden u.a. auch von der im August 1990 gegründeten Demokratischen Partei der Wainachen (Sammelbegriff für Tschetschenen und Inguschen) unter Vorsitz des Dichters Silimkhan Inderbajew, der Bewegung der Grünen, der Volksfront für Perestrojka und der Partei des Islamischen Weges unter Führung von Beslan Gantamirow unterstützt. Der Volkskongreß von Dudajew wurde zur führenden politischen Kraft in Tschetschenien, weil er sich auf die Diaspora stützen konnte. Unter den nach wie vor in Clans (Tjebs) organisierten Tschetschenen der Moskauer Diaspora hatte sich unter den Bedingungen der Privat- und Schattenwirtschaft relativ schnell ein starkes nationales Bürgertum entwickelt, das enge Verbindungen zum Heimatland unterhielt. Dadurch wurde die Machtposition der Partei- und Verwaltungsbürokratie Tschetscheniens, eines geschlossenen und korrumpierten Systems nationaler Nomenklatura, erheblich geschwächt. Tschetschenien zählte zu den ärmsten Regionen der UdSSR. Von der erdölverarbeitenden Industrie profitierte nur Moskau. Das Volk der Tschetschenen und Inguschen lebte in tiefster Armut. Bereits damals erreichte die Zahl der Arbeitslosen 200.000. Für sie gab es in ihrer eigenen autonomen Republik keinen Lebensraum.

Während des Moskauer Putschversuchs im August 1991 stand der Volkskongreß der Tschetschenen unter Führung von Dudajew an der Seite Boris Jelzins. Die tschetschenische Partei- und Verwaltungsbürokratie (Nomenklatura) unterstützte die Putschisten oder verhielt sich neutral. Erst nach harten Auseinandersetzungen konnte sie ausgeschaltet werden. Am 15. September 1991 löste sich der Oberste Sowjet der Autonomen Republik auf. Davor war bereits der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Doku Sawgajew (seit 1989 1. Sekretär des Tschetscheno-Inguschischen Gebietskomitees der KPdSU), zurückgetreten. Auf Moskauer Betreiben wurde zwar ein 13köpfiger provisorischer Oberster Sowjet geschaffen, er konnte jedoch nur von zwei Bezirken Tschetscheniens bewaffnete Unterstützung erhoffen. Anfang Oktober 1991 übernahm der Volkskongreß der Tschetschenen (Dudajew) de facto die Macht, nachdem seine 62.000 Mann starke Nationalgarde, die aus den Selbstverteidigungsgruppen der Grünen Bewegung hervorgegangen war, die wichtigsten Gebäude in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny (Rundfunk und Fernsehen, KGB, Ministerien) besetzt hatte. Der Volkskongreß wählte einen provisorischen Rat mit Hussein Achmadow an der Spitze sowie ein provisorisches Komitee zur Ausarbeitung von Gesetzen unter Führung von Letschi Magomadow.

Zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Moskau und den Tschetschenen trug das Ultimatum Boris Jelzins vom 20. Oktober 1991 bei. Jelzin verlangte, daß innerhalb von drei Tagen die besetzten Gebäude geräumt und die Waffen der Nationalgarde abgegeben werden. Dudajew reagierte darauf mit einer Generalmobilmachung.

Am 27. Oktober 1991 wurden in Tschetschenien Präsidentschaftswahlen durchgeführt, die Dschohar Dudajew gewann. Nach offiziellen Angaben nahmen 490.000 der 640.000 Wahlberechtigten an den Wahlen teil. 420.000 davon stimmten für Dudajew. Nach inoffiziellen Angaben hat nur die Hälfte der Wahlberechtigten gewählt. Moskau erklärte die Wahlen für illegal.

Im November 1991 verhängte Jelzin über Tschetschenien den Ausnahmezustand, was vom russischen Parlament abgelehnt wurde. Dieses bestand darauf, den Konflikt mit politischen Mitteln zu lösen. Jelzin und seine „demokratische" Regierung beharrten jedoch auf der Wiedereinsetzung der alten kommunistischen Führung und des Parlaments in Tschetschenien. Die 2.000 vom sowjetischen bzw. russischen Innenministerium nach Grosny entsandten Soldaten mußten einen schmählichen Rückzug antreten, nachdem sie mit ihrer Aufgabe, der „Wiederherstellung der Ordnung", gescheitert waren. Der Vertreter des russischen Präsidenten und Leiter der Sonderverwaltung in Tschetschenien, Achmed Arsanow, trat zurück.

Boris Jelzin mußte in Tschetschenien mit seiner auf Konfrontationskurs ausgerichteten Politik die erste empfindliche persönliche Niederlage einstecken - obwohl Vizepräsident Ruzkoj und der Tschetschene und damalige Präsident des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow, den Erlaß über den Ausnahmezustand vehement verteidigten. Dudajew erklärte seinerseits den Ausnahmezustand für ungültig und rief statt dessen den Kriegszustand aus. Tausende von Tschetschenen kamen nach Grosny, um die „Freiheit gegen die Russen" zu verteidigen. Im nachhinein lassen sich die Ereignisse auch so deuten, daß das russische Parlament das Ansehen Jelzins in der Welt als leidenschaftlicher Verfechter von Demokratie rettete, indem er seine Zustimmung zum Ausnahmezustand verweigerte.

Parallel zu diesen Ereignissen begann Ende 1991 in Moskau eine konzentrierte Medienkampagne gegen die Tschetschenen („Schwarze", „Gangster", „Kriminelle", „Verbrecher"), die nicht ohne Wirkung auf die städtische Bevölkerung blieb und bis heute anhält. Nicht die russische, sondern eine gefährliche tschetschenische Mafia bedrohte demnach die Bürger und die öffentliche Ordnung.

Gleichzeitig versuchte Moskau, die Macht in Tschetschenien zu destabilisieren, indem es die russische Bevölkerung sowie die Terek-Kosaken in Tschetschenien aktivierte. Tausende von Russen, Juden und Armeniern flohen in den Süden Rußlands (Krasnodar, Stawropol). Auch gegenseitige Territorialforderungen begannen eine Rolle zu spielen. Die Terek-Kosaken verlangten den Anschluß der von ihnen bewohnten tschetschenischen Bezirke Naurskij und Schelkowskij an das russische Gebiet Stawropol. Der Tschetschenen-Stamm der Akinzen forderte einen awarischen Bezirk Dagestans zurück, aus dem die Akinzen 1944 gewaltsam vertrieben worden waren. Gleichzeitig beanspruchten die Inguschen ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete, die 1944 Nord-Ossetien zugeschlagen worden waren.

Trotz dieser lokalen Konflikte der Kaukasus-Völker untereinander schienen diese sich in einem Punkt einig zu sein, nämlich der Unterstützung des Widerstandes der Tschetschenen. Präsident Dudajew gelang es, nicht nur zu dem in Georgien lebenden Tschetschenen-Stamm der Kist, sondern auch zum damaligen georgischen Präsidenten Gamsahurdia, zu den Abchasen Georgiens, den Moslem-Führern Aserbaidschans, dem Kongreß des Awaren-Volkes und den Moslems von Dagestan enge Kontakte zu knüpfen. Auch die 1989 gegründete Konföderation der Bergvölker des Kaukasus, die sich als Sammlungsbewegung der politischen Opposition gegenüber der in den autonomen Republiken der Kaukasus-Region fest etablierten alten Nomenklatura versteht, sagte Dudajew Unterstützung zu. Präsident Jelzin erklärte jedoch die Konföderation für verfassungswidrig und stützte sich weiterhin auf die frühere kommunistische Partei- und Verwaltungsbürokratie im Kaukasus.

Das Jahr 1992 begann mit der verwaltungsmäßigen Trennung der Inguschen von Tschetschenien. Die Inguschen (ursprünglich auch ein Tschetschenen-Stamm, der sich Galgai nennt) haben schon seit 1989/90 die Wiederherstellung ihrer eigenen Autonomen Republik im Rahmen der Russischen Föderation, wie sie 1934 bestand, gefordert. Nur ein Teil der Inguschen strebte gemeinsam mit den Tschetschenen eine einheitliche „Republik der Wainachen" an. Der Wunsch der Inguschen, sich von den Tschetschenen zu trennen, kam Moskau entgegen, zumal sich dadurch das Territorium des abtrünnigen Tschetschenien verkleinert. Nachdem die Inguschen am 31. März 1992 den Föderationsvertrag unterzeichnet hatten, erklärte Präsident Jelzin die neue Inguschische Republik per Dekret zum Mitglied der Russischen Föderation. Auch das russische Parlament verabschiedete im Juni 1992 ein entsprechendes Gesetz. Die Inguschen wurden jedoch getäuscht, da sie ihre Republik nicht in ihren alten Grenzen von 1934 zurückerhielten, obwohl dies rechtlich aufgrund des Gesetzes der Russischen Föderation vom 26. April 1991 über die Rehabilitierung unterdrückter Völker möglich gewesen wäre. Die nach 1944 abgetrennten (inguschischen) Gebiete blieben unter der Verwaltung von Nord-Ossetien. Daraus entstand ein blutiger Konflikt zwischen Inguschen und Osseten, der - trotz der Sonderverwaltung Moskaus - bis heute andauert. Ein Angebot der Konföderation der Bergvölker des Kaukasus, im Konflikt die Vermittlung sowie die Errichtung einer Pufferzone mit eigenen Friedenstruppen zu übernehmen, lehnte Moskau ab. Offenbar war Moskau an Stabilität ohne Präsenz russischer Truppen in der Region nicht interessiert.

Die Tschetschenen kehrten bereits im Januar 1992 zur alten Grenzziehung von 1934 mit der Inguschischen Republik zurück. Sie verabschiedeten am 12. März 1992 eine eigene Verfasssung, die die Tschetschenische Republik zum unabhängigen Staat erklärte. Präsident Dudajew übernahm auch das Amt des Ministerpräsidenten. Sein erster Auslandsbesuch führte ihn im August 1992 nach Saudi-Arabien.

Kaum war die neue tschetschenische Verfassung am 12. März 1992 in Kraft getreten, setzte Moskau seine Destabilisierungsversuche der Tschetschenischen Republik fort. Am 31. März, dem Tag der Unterzeichnung des Föderationsvertrags in Moskau, dem Tschetschenien nicht beitrat, unternahm die alte kommunistische tschetschenische Nomenklatura, deren Hochburg sich im tschetschenischen Bezirk Nadteretschnij befand, in Grosny einen Putschversuch, der jedoch kläglich scheiterte. Danach verließen auch die noch auf tschetschenischem Territorium stationierten Einheiten der GUS-Streitkräfte die Republik. In Moskau entließ Präsident Jelzin seine kompromißbereite Beraterin für Nationalitätenpolitik, Galina Starowojtowa. Ihr Nachfolger Sergej Schachrai schlug einen härteren Kurs gegenüber Tschetschenien ein.

Im Frühsommer 1992 verhängte Rußland eine Wirtschaftsblockade gegen Tschetschenien. Die erdölverarbeitenden Betriebe in Grosny mußten die Produktion einstellen, weil aus Krasnodar in Südrußland kein Rohöl mehr geliefert wurde. Die meisten Autobusse des öffentlichen Verkehrs konnten nicht mehr fahren, weil die Ersatzteile aus Rußland fehlten. Russische Flugzeuge stellten den Flugverkehr nach Grosny ein. Nur noch Armenien, Moldawien, Litauen und die Ukraine flogen Grosny an. Eisenbahngüter, z.B. für Litauen oder Aserbaidschan, wurden an der russischen Grenze nicht mehr weiterbefördert. Sämtliche Zufahrtsstraßen nach Tschetschenien wurden von Sondereinheiten der russischen Miliz streng kontrolliert. Ab Mai 1992 sperrten russische Banken sämtliche Konten Tschetscheniens. Während Tschetschenien weiterhin alle Lieferungen nach Rußland im Rahmen von Wirtschaftsverträgen ausführte, summierten sich Rußlands Schulden auf rund 12 Mrd. Rubel. Ohne Bargeld litt vor allem die russische Bevölkerung Tschetscheniens unter dem Wirtschaftsboykott. Ein Einlenken der Tschetschenen deutete sich um die Jahreswende 1992/93 an. Tschetschenien zeigte sich bereit, sowohl dem Föderationsvertrag als auch der GUS beizutreten mit der Sonderregelung, daß die Tschetschenen die Bereiche Außen- und Außenwirtschaftspolitik sowie gemeinsame Verteidigung nach außen Moskau überlassen. Warum Moskau auf diese Kompromißlösung nicht einging und Sergej Schachrai (Vorsitzender des Staatskomitees für Nationalitätenpolitik) auf einer Position der Stärke beharrte, blieb unklar.

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Die innere Machtkrise

Die von Moskau verhängte Wirtschafts- und Finanzblockade führte bereits Anfang 1993 zu einer erheblichen Verschlechterung der ohnehin kargen Lebensbedingungen der Bevölkerung Tschetscheniens, was zu Unzufriedenheit und der Herausbildung oppositioneller Kräfte gegen Präsident Dudajew beitrug. Zur Opposition gehörten einerseits die alte lokale Nomenklatura der Partei- und Verwaltungsbürokratie und die 1990 gewählten Abgeordneten der Tschetscheno-Inguschischen ASSR für den Volksdeputiertenkongreß in Moskau (darunter der damalige Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow) und andererseits Teile der nationalen Bewegung und Mitstreiter für die Unabhängigkeit Tschetscheniens, die sich von Dudajew getrennt hatten, darunter Hussein Achmadow (Parlamentspräsident bis 1993), Jusuf Soslambekow (Parlamentspräsident ab 1993 und Mitglied des Parlaments der Konföderation der Bergvölker des Kaukasus), Letscha Umajew (Vorsitzender der Daimok-Bewegung), Sabrail Gakajew (Vorsitzender der Bewegung Demokratischer Kräfte), Jaragi Mamodajew (1. stellvertretender Ministerpräsident bis 1993) sowie die Kommandeure der Streitkräfte Salman Chasemikow und Chamzat Chankarow. Präsident Dudajew stützte sich auf den von ihm geführten Volkskongreß der Tschetschenen und die Demokratische Partei der Wainachen von Silimkhan Inderbajew.

Da die tschetschenischen Stämme gesellschaftlich in Großfamilien bzw. Sippen und Clans organisiert sind, spiegelte die Machtkrise auch den Machtkampf zwischen einzelnen Clans wider, die unter dem Eindruck der schweren Wirtschaftskrise ihre Claninteressen durchzusetzen versuchten. Diese mit Claninteressen verwobenen oppositionellen Kräfte warfen Dudajew vor allem vor, eine Alleinherrschaft anzustreben und die Islamisierung des Landes zu betreiben.

Die innenpolitische Machtkrise, in der sich Präsident Dudajew letztlich als der starke Mann behaupten konnte, blieb das beherrschende Ereignis des Jahres 1993. Im Kampf um Einfluß und Macht standen sich - wie gleichzeitig auch in Moskau - Präsident und Parlament, das mehrheitlich von der alten Nomenklatura und der nationalen Opposition beherrscht wurde, gegenüber. Die letzteren beiden verbündeten sich (Rat des Nationalen Einvernehmens), als Präsident Dudajew für den 19. Februar 1993 ein Referendum über eine Verfassungsrevision in Richtung Präsidialherrschaft ankündigte. Das Parlament beschloß daraufhin, für den 27. März ein Referendum zur Frage der Regierungsform anzuberaumen. Nach dieser gegenseitigen Paralysierung im Streit um Macht und Einfluß erklärte Präsident Dudajew, um einem Impeachment zuvorzukommen, am 17. April das Parlament für aufgelöst. Als Antwort darauf setzte das Parlament für den 5. Juni ein Referendum über die Fortsetzung der Herrschaft Dudajews und die Festsetzung von Neuwahlen an. Dudajew kündigte seinerseits ein Referendum für Juli sowie vorzeitige Neuwahlen für September 1993 an. Bis zum Abschluß der Parlamentswahlen sollte der Präsident im Amt bleiben.

Im Mai 1993 bildeten sich zwei Regierungen. Präsident Dudajew ernannte ein neues Kabinett und bestimmte Mairbek Mugadajew zum neuen Regierungschef. Das Parlament wählte eine eigene „Parlamentsregierung" unter Ex-Regierungschef Jaragi Mamodajew, der inzwischen zur Opposition übergewechselt war. Jusup Soslambekow wurde neuer Parlamentspräsident. Der Konflikt zwischen Präsident und Parlament endete am 6. Juni 1993 ähnlich wie vier Monate später in Moskau - mit einem Gewaltakt. Präsident Dudajew ließ die Opposition, die im April 1993 das Bürgermeisteramt und die Polizeibehörde von Grosny besetzt hatte und seither auf dem Theaterplatz laufend Meetings abhielt, mit Hilfe seiner Nationalgarde gewaltsam (14 Todesopfer) vertreiben. Die Oppositionsführer flohen in ihre Hochburg, den Bezirk Nadteretschni, bzw. nach Moskau. Nach einer Kampfpause - bedingt durch die Zuspitzung des Machtkampfes in Moskau - unternahm die Opposition erst im Dezember 1993 einen erneuten Versuch, Präsident Dudajew zu stürzen. Die im Frühjahr 1993 vom Parlament gebildeten bewaffneten Einheiten unter dem Verteidigungsminister der „Parlamentsregierung", Generalmajor Ibrahim Sulejmenow, besetzten den Präsidentenpalast, um Dudajew zum Rücktritt zu zwingen. Aber auch dieser Umsturzversuch scheiterte.

Präsident Dudajew blieb zwar in Tschetschenien der starke Mann, doch hatten sich inzwischen die Verhältnisse in den Nachbarstaaten grundlegend zu seinen Ungunsten verändert. Die nationalistischen und antikommunistischen Präsidenten Georgiens (Gamsahurdia) und Aserbaidschans (Eltschibej) - potentielle Verbündete Dudajews - wurden inzwischen gestürzt und durch neue prorussische Machthaber (Schewardnadze, Alijew) ersetzt. Zum Sturz des georgischen Präsidenten Gamsahurdia, der bei Dudajew in Grosny Zuflucht fand, trugen indirekt auch tschetschenische „Freiwillige" im Sezessionskampf Abchasiens bei. In Moskau erinnerte man sich möglicherweise daran, daß Rußland die Tschetschenen im 19. Jahrh. erst besiegen konnte, nachdem die zaristische Armee Georgien und Aserbaidschan erobert hatte. Nachdem sich Präsident Jelzin im Oktober 1993 gewaltsam des widerspenstigen Parlaments entledigt hatte, war nicht mehr damit zu rechnen, daß sich Moskau auf eine friedliche Lösung des Tschetschenienkonflikts durch Verhandlungsdiplomatie einlassen würde. Die neue Staatsduma setzt sich mehrheitlich aus Nationalisten und Kommunisten zusammen. Der Spielraum für eine auf Ausgleich ausgerichtete Politik ist eng. Der Machtkampf in Moskau dauert unvermindert an. Folglich blieb die Lösung des Tschetschenienkonflikts dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Sergej Schachrai überlassen. Seine Konzeption der Konfliktlösung: Aufbau einer bewaffneten prorussischen Opposition mit Moskaus Hilfe, um unter Inkaufnahme eines Bürgerkrieges Präsident Dudajew zu stürzen und die Macht zu übernehmen.

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Die innere Opposition

Von diesem Zeitpunkt an betrachtete Moskau die Lösung der Tschetschenien-Frage als Priorität, um - so Sergej Schachrai - die „föderative Natur des Russischen Staates zu schützen". Nach Schachrais Meinung kann Moskau nicht länger eine Situation tolerieren, in der 1,2 Mio. russische Staatsbürger ohne den Schutz der Verfassung leben (Nezavisimaja Gazeta, 5. März 1994). Einige Jelzin-Anhänger, darunter der Vorsitzende des Föderationsrates, Schumejko, traten jedoch weiterhin für die Fortsetzung des politischen Dialogs mit dem tschetschenischen Präsidenten Dudajew ein. Noch im Frühjahr 1994 zeigte sich auch Präsident Jelzin nicht abgeneigt, mit Tschetschenien - ähnlich wie mit Tatarstan - einen Vertrag über die gegenseitige Abgrenzung von Vollmachten der Organe der jeweiligen Staatsmacht zu vereinbaren (FAZ, 30. Juli 1994). Als jedoch der Kosake und Ex-Schwergewichtsboxer Nikolaj Jegorow Schachrai als Minister für Nationalitätenpolitik ablöste, wurde klar, daß sich in der Moskauer Exekutive die „Hardliner" durchgesetzt hatten. Schachrai behielt als stellvertretender Ministerpräsident zunächst die Hauptverantwortung für das Tschetschenien-Problem. Rußland ging jedoch von nun an gegen Tschetschenien nach dem gleichen Muster vor wie in den Konflikten mit anderen GUS-Staaten (Georgien, Aserbaidschan, Tadschikistan), d.h. die Konflikte werden so lange geschürt, bis ein Eingreifen Moskaus unvermeidbar und international akzeptabel erscheint.

Am 29. Juli 1994 verbreitete die russische Regierung zunächst eine Stellungnahme zu den Briefen und Appellen von Bürgern und Organisationen aus Tschetschenien, in denen u.a. über die Isolierung Tschetscheniens von der Russischen Föderation und die Aktivitäten organisierter krimineller Gruppen geklagt wird. Am 3. August wurde in Moskau eine „politische Deklaration" der tschetschenischen Opposition veröffentlicht (Rossijskaja Gazeta, 3. August 1994). Dann wurde die Opposition durch russische Hubschrauber mit Waffen und Ausbildern versorgt, ihre Führer erhielten eine russische Leibgarde. Gleichzeitig startete Rußland eine neue Medienkampagne mit Stereotypen, die darauf hinausliefen, daß eine militärische Intervention nicht nur nötig sei, um Recht und Ordnung in Tschetschenien wiederherzustellen, sondern auch, um die Kriminalität in den russischen Städten einzudämmen. Am 26. August startete die Opposition ihre militärische Operation. Drei Tage später, am 29. August, beklagte sich der Leiter der Präsidialverwaltung Jelzins, Sergej Filatow, über die Uneinigkeit der Opposition gegenüber dem Regime Dudajews (ITAR-TASS, 29. August 1994).

Mit der offenen Unterstützung der bewaffneten Opposition ließ sich Moskau auf ein riskantes Spiel ein. Sollten die innere Destabilisierung und der Umsturz mit Hilfe der bewaffneten Opposition mißlingen, bliebe Moskau nur die Alternative einer militärischen Intervention oder des Eingeständnisses der Niederlage, d.h. Anerkennung der Unabhängigkeit Tschetscheniens. Zu spät entdeckte Moskau, daß es die „falschen" Leute für die innere Opposition ausgesucht und unterstützt hatte (Izvestija, 21. Oktober 1994). Zu ihnen gehörten Umar Awturchanow (Ex-KGB-Mann und Verwaltungschef des Bezirks Nadteretschni), Aslanbek Aslachanow (Armeegeneral der russischen Armee), Ruslan Chasbulatow (Ex-Vorsitzender des russischen Parlaments), Doku Sawgajew (Ex-Parteichef des Tschetscheno-Inguschischen Gebietskomitees der KPdSU und Abteilungsleiter im Präsidialapparat Boris Jelzins), Salambek Chadschijew (Ex-Erdölminister der UdSSR), Beslan Gantamirow (Ex-Bürgermeister von Grosny), Jaragi Mamodajew (Ministerpräsident des „nationalen Einvernehmens", d.h. der „Parlamentsregierung"), Ruslan Labasanow (Ex-Leibwächter Dudajews) sowie einige Militärkommandeure (Chamzat Chankarow, Ibrahim Sulejmenow u.a.).

Der Aufbau der prorussischen bewaffneten Opposition begann im Dezember 1993 in der Hochburg der alten Nomenklatura, im Bezirk Nadteretschni im Nordwesten Tschetscheniens. Dort etablierte sich ein 22köpfiger Provisorischer Rat unter Vorsitz von Umar Awturchanow und bereitete im I. Halbjahr 1994 den geplanten Umsturz vor. In Meetings mit den rund 150 lokalen, darunter den neun mächtigsten Clans in Tschetschenien, wurde versucht, diese zum Widerstand gegen Dudajew zu überreden. Moskau stellte dem Rat etliche Milliarden Rubel zur Verfügung, um die Bevölkerung durch die Auszahlung ausstehender Löhne, Gehälter und Renten für sich zu gewinnen. Am 24. Juli ersuchte Awturchanow Präsident Jelzin offiziell um Anerkennung des Provisorischen Rates und Hilfe bei der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung. Anfang August bildete der Provisorische Rat eine Gegenregierung unter Vorsitz von Ali Alawdinow, eines „Geschäftsmannes", der im November durch Salambek Chadschijew ersetzt wurde. Die bewaffneten Einheiten des Provisorischen Rates standen unter dem Kommando von Badrudi Dschemalchanow.

Neben dem prorussischen Provisorischen Rat im Bezirk Nadteretschni existierten noch andere Gruppierungen, die das Regime Dudajews stürzen wollten. Zu ihnen gehörte Ruslan Chasbulatow, der im August am Sitz seines Clans im Tolstoj-Jurt, nördlich von Grosny, eintraf, um seine Basis für eine Machtübernahme auszubauen. Die Verkehrswege östlich von Grosny sowie die Stadt Argun wurden von Einheiten des Dudajew-Gegners Ruslan Labasanow kontrolliert, der im Juni vergeblich versuchte, Grosny einzunehmen. Den Bezirk Urus-Martan, südwestlich von Grosny, hielten die Truppen von Beslan Gantamirow besetzt. Bei einem Vorstoß Anfang September 1994 gelang es der Armee Dudajews, die Stadt Argun von den Truppen Labasanows zu befreien. Daraufhin schlossen sich die Anhänger Labasanows und Jaragi Mamodajews (Ministerpräsident des „nationalen Einvernehmens") Ruslan Chasbulatow in Tolstoj-Jurt an. Chasbulatow ließ sich zum Vorsitzenden eines Staatsrates der oppositionellen Kräfte wählen. Mitte Oktober versuchten die von Gantamirow angeführten Truppen, mit russischer Luftunterstützung Grosny einzunehmen. Aber auch dieser Umsturzversuch scheiterte. Dudajews Regierungstruppen besetzten im Gegenangriff den Bezirk Urus-Martan. Gantamirow schloß sich dem Provisorischen Rat von Awturchanow an.

Einen letzten - mißglückten - Umsturzversuch unternahm die bewaffnete innere Opposition mit offener russischer Unterstützung Mitte November 1994. Russische Panzer aus Mosdok (Nord-Ossetien) stießen nach Urus-Martan vor. Bratskoje, das einzige von Dudajews Anhängern gehaltene Dorf im Bezirk Nadteretschni, wurde von russischen Truppen besetzt. Am 18. November versuchten russische Einheiten zusammen mit der inneren Opposition, mit russischer Luftunterstützung erneut Grosny einzunehmen. Auch dieses Vorhaben mißlang. Eine Reihe russischer Soldaten geriet in Dudajews Gefangenschaft. Nachdem Moskaus Konzeption, mit Hilfe der bewaffneten inneren Opposition Dudajew zu stürzen, gescheitert war, blieb nur die Alternative Anerkennung der Unabhängigkeit Tschetscheniens oder militärische Intervention. Präsident Jelzin entzog dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Schachrai die Aufgabe, die Tschetschenien-Politik zu koordinieren. Der Minister für Nationalitätenpolitik, Nikolaj Jegorow, erhielt die ausschließliche Vollmacht für diese Politik. Die „Hardliner" hatten sich durchgesetzt. Damit entschied sich Moskau für die militärische Intervention.

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Die militärische Intervention

Am 1. Dezember 1994 unterzeichnete Boris Jelzin ein Dekret über Maßnahmen zur Festigung von Gesetz und Ordnung im Nord-Kaukasus. Dazu gehörte auch eine Amnestie für die Regierungstruppen Dudajews, die bis zum 15. Dezember die Waffen niederlegen. Gleichzeitig begann der Aufmarsch russischer Truppen an den Grenzen Tschetscheniens. Seitdem wurde Grosny täglich von russischen Flugzeugen bombardiert.

Am 9. Dezember erließ Präsident Jelzin nach Beratungen im Sicherheitsrat ein weiteres Dekret über die „Entwaffnung illegaler Formationen und die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in Tschetschenien. Am 11. Dezember begann die militärische Intervention russischer Armee-Einheiten. Mindestens 40.000 Mann drangen aus drei Richtungen (Inguschien, Nord-Ossetien, Dagestan) vor, um die tschetschenische Hauptstadt einzukreisen. Sie stießen bereits bei ihrem Vormarsch auf Grosny nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in Inguschien und Dagestan auf erbitterten Widerstand. In einem Appell an die Bürger Rußlands begründete Boris Jelzin den Einmarsch russischer Truppen mit der Absicht, eine „politische Lösung zu finden" (ITAR-TASS, 11. Dezember 1994). Die politische „Lösung" des Konfliktes erfolgte jedoch mit Mitteln der Gewalt. Die tschetschenisch-russischen Verhandlungen verliefen ergebnislos. Inzwischen solidarisierte sich auch der Vorsitzende des Föderationsrates, Wladimir Schumejko, der bis dahin vehement für die Fortsetzung des politischen Dialogs eingetreten war, mit Jelzin und bezeichnete die militärische Intervention im Interesse der territorialen Integrität Rußlands als notwendig.

Moskaus Verzicht auf Verhandlungen ohne Vorbedingungen versperrte den Weg zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes. Der Sekretär des Sicherheitsrates, Lobow, unterstrich Moskaus harte Haltung mit seiner Äußerung, daß es ohne eine vollständige Entwaffnung der Regierungstruppen Dudajews keine Gespräche geben werde (Neue Zürcher Zeitung, 20. Dezember 1994). Dudajew war zwar bereit, bedingungslos zu verhandeln, nicht aber zuvor seine Truppen zu entwaffnen. In diesem Stadium der russischen Militärintervention wären die Tschetschenen nicht einmal auf Anweisung Dudajews bereit gewesen, ihre Waffen niederzulegen.

Die für den 15. Dezember gesetzte und inzwischen um 48 Stunden verlängerte Frist des Ultimatums verstrich, ohne daß die Tschetschenen aufgegeben hätten. Zwar war es den regulären Einheiten der russischen Armee bis dahin nicht gelungen, einen vollständigen Blockadering um Grosny zu ziehen, doch versuchte Moskau, durch Raketenbeschuß und Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Präsident Dudajew zur Aufgabe zu zwingen. Gleichzeitig beschloß Moskau, alle Verkehrswege nach Aserbaidschan und Georgien zu schließen. Ferner wurde mit einem Erlaß Jelzins eine „Territorialverwaltung der föderalen Exekutivorgane auf dem Gebiet der Tschetschenischen Republik" unter Leitung des „Hardliners" Nikolaj Jegorow eingesetzt. Im russischen Fernsehen erklärte der Oberbefehlshaber der russischen Luftstreitkräfte, Dejnekin, daß „nicht eine Rakete und nicht eine Bombe der russischen Luftstreitkräfte gegen die Stadt Grosny eingesetzt werden" und daß „niemand den Befehl zu eventuellen Bombardements auf friedliche Bewohner geben" werde. Dessenungeachtet waren die Opfer des Raketenbeschusses und der Bombardierung fast ausschließlich Zivilisten. Außenminister und „Hardliner" Kosyrew wollte das Tschetschenien-Problem in „wenigen Tagen" lösen und erklärte, daß der Staat die „bewaffneten Banden entschlossen ausrotten" müsse (INTERFAX, 15. Dezember 1994). Die Tschetschenen gingen am 21. Dezember jedoch zum Gegenangriff über. Es wurde deutlich, daß Präsident Dudajew in seiner Opposition gegen Rußland nicht von „organisierten Banden", sondern vom gesamten tschetschenischen Volk unterstützt wird.

Der Generalangriff und die Erstürmung von Grosny begannen am 28. Dezember. Gleichzeitig verkündete Moskau die Bildung einer Oppositionellen „Regierung der nationalen Wiedergeburt" mit Salambek Chadschijew an der Spitze, die aus dem erfolglosen Provisorischen Rat (innere Opposition) hervorging. Chadschijew war Mitglied der KPdSU, bis 1991 Generaldirektor der wissenschaftlich-technischen Vereinigung „Grozneftechim" in Grosny sowie bis 1993 Volksdeputierter der RSFSR. 1991 war er Minister für chemische und Erdölprodukte der UdSSR und schloß sich der Bewegung für Demokratische Reformen (Reformkommunisten) an.

Bis zum 1. Januar 1995 (zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Berichts) dauern die Kämpfe zwischen der russischen Armee und den tschetschenischen Regierungstruppen Dudajews unvermindert an. Die Stadt Grosny konnte noch nicht erobert werden. Ob an der Seite der Tschetschenen auch Freiwillige und Söldner (aus der Ukraine, aus dem Baltikum, Gamsahurdia-Anhänger aus Georgien, Tataren, „Graue Wölfe" aus Aserbaidschan) kämpfen, ist zur Zeit noch unklar. Fest steht nur, daß die Konföderation der Bergvölker des Kaukasus „freiwillige" Kämpfer für den Einsatz in Tschetschenien organisiert. Es könnte durchaus eine Situation entstehen, in der Tschetschenien zunächst geteilt wird: Der flache Norden käme unter russische Kontrolle, während sich im bergigen Norden die Kämpfe (Partisanenkrieg) länger hinziehen würden.

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Auswirkungen und Folgerungen

Im Tschetschenien-Konflikt, in dem der frei gewählte Präsident eines „demokratischen" Rußlands seine eigenen „rußländischen" Staatsbürger mit Raketen beschießt und bombardiert, sind Begriffe wie Vernunft, Logik und Moral fehl am Platze. Sowohl die Anhänger Jelzins in der Russischen Föderation (damals RSFSR) als auch die Anhänger Dudajews in Tschetschenien haben die Unabhängigkeit ihres Landes erklärt und damit den Untergang des Bundesstaates UdSSR besiegelt. Während des zur Rettung der UdSSR unternommenen Putschversuchs vom August 1991 standen die Dudajew-Anhänger auf der Seite Jelzins. Die kommunistische Führung (Nomenklatura) Tschetscheniens unterstützte dagegen die Putschisten. Kaum waren Jelzin und Dudajew als Präsidenten Rußlands bzw. Tschetscheniens an der Macht, unternahm Jelzin alles, um anstelle Dudajews die alte kommunistische Führung in Tschetschenien wiedereinzusetzen. Als alle Versuche scheiterten, griff Jelzin zum Mittel der brutalen Gewalt, zur militärischen Intervention. Er berief sich auf die Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung, wohl wissend, daß die westlichen Demokratien keine Einwände erheben würden und niemand danach fragen würde, was für ein Recht das ist, dessen einzige Instrumente Gewalt und Stärke sind. Zwar ist sowohl in Moskau als auch im Westen von einer politischen Lösung des Tschetschenien-Konflikts die Rede, aber die Lösung eines Konfliktes, ob mit militärischen oder friedlichen Mitteln, ist immer politisch. Der Tschetschenien-Konflikt hätte, wenn Moskau dies gewollt hätte, problemlos mit friedlichen Mitteln gelöst werden können. Tschetschenien war stets bereit, im Rahmen eines Sonderstatus mit extensiver Autonomie, etwa nach dem Muster des völkerrechtlichen Abkommens zwischen Moskau und Tatarstan, im russischen Staatsverband zu bleiben. Doch Jelzin verzichtete, bewußt oder aufgrund von Fehleinschätzungen, auf eine friedliche Lösung des Konfliktes. Hätte Moskau den Konflikt friedlich beilegen wollen, hätte es die Verhandlungen mit den Tschetschenen nicht von der Position der Stärke aus und in ultimativer Sprache führen dürfen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der Tschetschenien-Konflikt ein Problem des Völkerrechts ist. Sowohl Moskau als auch die westlichen Demokratien stellen den Konflikt als eine innere Angelegenheit Rußlands sowie in erster Linie als ein Rechtsproblem dar, wobei das „Recht" (Staats-, Verfassungs- und Völkerrecht) und damit auch die Rechtmäßigkeit der Mittel, dieses „Recht" durchzusetzen, auf der Seite Moskaus gesehen werden. Ist aber die Rechtslage so eindeutig? Die Russische Föderation (RSFSR) deklarierte am 11. Juni 1990 und die Tschetscheno-Inguschische ASSR in der RSFSR am 27. November 1990 (mit dem gleichzeitigen Austritt aus der UdSSR) ihre staatliche Souveränität. Die Tschetschenische Republik proklamierte im Oktober 1991 ihre Unabhängigkeit, noch bevor Jelzin den Austritt der RSFSR und damit den Untergang der UdSSR (Dezember 1991) vollzog. Die Tschetschenen beriefen sich dabei auf die Aufforderung Jelzins: „Nehmt soviel Souveränität, wie Ihr wollt" und das Selbstbestimmungsrecht, das die damals gültige Verfassung gewährte. Jelzin beruft sich auf Moskaus „Recht" aufgrund der neuen, erst nach der tschetschenischen Unabhängigkeitserklärung 1991 im Dezember 1993 verabschiedeten russischen Verfassung, die keinen Austritt aus der Russischen Föderation vorsieht, obwohl Tschetschenien den neuen Föderationsvertrag gar nicht unterzeichnet hat, d.h. der Russischen Föderation überhaupt nicht beigetreten ist. Vor diesem Hintergrund sollten die internationale Staatengemeinschaft und ihre Völkerrechtler die Frage prüfen: Warum dürfen die RSFSR, die Ukraine, die baltischen Staaten u.a. aus der UdSSR austreten und damit diesen Bundesstaat zerstören? Und warum darf die Tschetschenische Republik aus dem Bundesstaat Russische Föderation nicht austreten, obwohl dadurch die Staatlichkeit Rußlands nicht zerstört wird? Oder: Warum darf z.B. die Republik Slowenien problemlos aus dem Bundesstaat Jugoslawien austreten, während die territoriale Integrität der Republik Bosnien-Herzegowina durch Krieg und Aggression zerstört wird, obwohl die Staatlichkeit des Bundesstaates Jugoslawien (Serbien und Montenegro) nicht gefährdet ist?

Im Tschetschenien-Konflikt beruft sich Moskau auf das Prinzip der territorialen Integrität und der Unverletzlichkeit der Grenzen eines Staates - und dieser Haltung haben sich die westlichen Regierungen angeschlossen -, während die Tschetschenen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen. Beide Prinzipien sind geltende Völkerrechtsnormen. Die in Nationalstaaten organisierten westeuropäischen Demokratien bevorzugen offenbar das Prinzip der territorialen Integrität. Gleichzeitig propagierten sie zu Zeiten des Kalten Krieges unentwegt in Osteuropa das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts als das höchste Gut in den internationalen Beziehungen. In Osteuropa und Eurasien, einer Region mit künstlichen Bundes- und Vielvölkerstaaten, bedeutet eine Bevorzugung des Prinzips der territorialen Integrität, unzählige Konflikte und Kriege heraufzubeschwören. Ebenso wie die baltischen Staaten hat die Tschetschenische Republik das Recht, sich auf das Prinzip der Selbstbestimmung zu berufen, unabhängig davon, wann und wie das tschetschenische Volk in das russische/sowjetische Imperium einverleibt wurde. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß Rußland die Tschetschenen kolonisiert und im Kaukasus alle möglichen Formen der Unterdrückung und des Völkermordes praktiziert hat. Niemand hat das tschetschenische Volk gefragt, ob es sich der Russischen Föderation anschließen wollte oder nicht. Wenn Präsident Jelzin sein „Recht" zur militärischen Invasion aus seiner geltenden Verfassung ableitet, dann spiegelt dies eine imperiale Machtpolitik wider. Dort, wo Vernunft, Logik und Moral versagt haben, bleibt nur das selbstgeschaffene „Recht" zum politischen Handeln. Folgt man Jelzins Argumentation, dann waren auch die europäischen Freiheitskämpfe 1848/49, der Unabhängigkeitskrieg der USA oder die Befreiungsbewegungen in den Kolonien „unrechtmäßig", weil sie alle gegen die zu ihren Zeiten geltenden Verfassungen verstießen. Eine Entkolonisierung Eurasiens steht noch aus.

Wenn sich der Tschetschenen-Konflikt auch für Moskau (und den Westen) vorrangig als ein juristisches Problem darstellt, so handelt es sich in Wirklichkeit doch um ein macht- und sicherheitspolitisches Problem. Zwar hat Rußland die Unabhängigkeit Tschetscheniens de jure nicht anerkannt, doch hat Moskau sie drei Jahre lang de facto hingenommen. Daß es ausgerechnet jetzt zum Ausbruch von Gewalt kam, hängt nicht zuletzt mit dem erbitterten Machtkampf im Moskauer Zentrum zusammen, der nunmehr auch auf dem Schauplatz Tschetschenien ausgetragen wird. Für rassistische Kräfte in Rußland ist dieses Kaukasus-Volk, dem jedes Mittel recht ist, um einer Fremdherrschaft zu entgehen, das Feindbild Nr. 1. Für die Tschetschenen ist das Feindbild der russische imperiale Chauvinismus. Die russische Politik war seit dem Rückzug der „Goldenen Horde" der Mongolen nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet - die ständige territoriale Erweiterung.

Der Krieg Rußlands in Tschetschenien ist die größte Militäraktion Moskaus seit der mißglückten und erfolglosen Afghanistan-Intervention. Bei dem schmutzigen Krieg im Kaukasus, einem Gebiet, dessen Kultur den Russen völlig fremd ist und dessen Bevölkerung sich Rußland nie freiwillig angeschlossen hat, spielen nicht rechtliche Erwägungen, sondern vermeintliche sicherheitspolitische Interessen sowie das Prestigedenken einer Großmacht die Hauptrolle. Das tschetschenische Territorium (nach der Abtrennung Inguschiens nicht einmal 18.000 qkm groß) ist für die geopolitisch denkende russische Führung wegen des dortigen Erdölvorkommens, der über tschetschenisches Territorium verlaufenden Erdölpipelines sowie der Verkehrswege (Straßen, Eisenbahnen), die Rußland mit Transkaukasus verbinden, von strategischer Bedeutung. Hinzu kommt gewiß auch das Bedürfnis, im Zeichen des neu aufgebauten Feindbildes des islamischen Fundamentalismus (nach dem Verlust des alten, des Kapitalismus) keinen islamischen Staat im christlichen Europa (sei er auch noch so klein) entstehen zu lassen.

Moskaus Kaukasus-Krieg, der auch als Ablenkungsmanöver vom Machtkampf in der russischen Führungselite oder Demonstration der Stärke verstanden werden kann, hat zweifellos Auswirkungen auf die Innenpolitik Rußlands. Er verringert die Chancen für eine Demokratisierung Rußlands und fördert die Entstehung eines autoritären Regimes. Bereits vor der militärischen Intervention in Tschetschenien hat Präsident Jelzin durch seine Dekrete, die immer häufiger gegen seine eigene Verfassung verstoßen, durch den ungesetzlichen Überfall seiner Sicherheitsgarde auf die Most-Bank bzw. die Knebelung der staatlichen Medien (Rundfunk und Fernsehen) aufgezeigt, wo für ihn die Grenzen der Demokratie zu ziehen sind. Präsident Jelzin, im Westen als Bollwerk der Demokratie betrachtet, kann den Krieg im Kaukasus als Vorwand benutzen, um seine Macht in Richtung Präsidialdiktatur auszuweiten und/oder die Präsidentschaftswahlen 1996 zu umgehen. Er kann als Handlanger antidemokratischer Kräfte weiterregieren, aber auch, innenpolitisch zunehmend isoliert, gestürzt werden. Unabhängig davon, wie der Krieg ausgeht, bringt er für Rußland nicht mehr Stabilität, sondern mehr innenpolitische Unsicherheiten.

Fest steht, daß die Politik Jelzins von den „Falken" unter den politischen Kräften bestimmt wird. Dazu zählen u.a. Sicherheitsratssekretär Lobow, Verteidigungsminister Gratschow, Innenminister Jerin, Spionageabwehrchef Stepaschin und der Präsidenten-Bevollmächtigte in Tschetschenien, Jegorow. Im Parlament unterstützen Jelzins Tschetschenien-Krieg die Fraktion der nationalistischen Liberal-Demokratischen Partei von Schirinowskij und die Fraktion Frauen Rußlands. Die Kommunisten warfen Jelzin vor, die Verhandlungsmöglichkeiten nicht genutzt zu haben und warten im übrigen geduldig ab, bis der Präsident sich im Abnützungskampf verschlissen hat. Die Demokraten sind in der Kriegsfrage tief gespalten. Die noch in der Regierung verbliebenen Demokraten stellten sich auf die Seite Jelzins: Außenminister Kosyrew, der aus der Fraktion Wahl Rußlands austrat, der stellvertretende Ministerpräsident Schumejko, der sich vom Befürworter des politischen Dialogs zum Anhänger der militärischen Intervention wandelte, der stellvertretende Ministerpräsident und Erfinder der Konzeption der inneren Opposition in Tschetschenien, Schachrai, der neuerdings die Kriegsberichterstattung in den staatlichen Medien kontrolliert, sowie die meisten Präsidialratsmitglieder. Der Bürgermeister von St. Petersburg, Sobtschak, ein „glühender Demokrat", sprach sich sogar für die Deportation der tschetschenischen Diaspora aus den Städten Zentralrußlands aus. Die überwiegende Mehrzahl der Demokraten betrachtet Tschetschenien als Bestandteil Rußlands und die militärische Intervention als völkerrechtlich legal, lehnt sie jedoch ab, weil sie die Entstehung eines Polizeistaates in Rußland fördert. Vertreter dieses Standpunktes sind u.a. Gajdar (Wahl Rußlands), Jawlinskij (Jabloko), Borowoj (Partei der ökonomischen Freiheit), Lyssenko (Republikanische Partei), Satulin (Unternehmer-Vereinigung) und Popow (Ex-Bürgermeister von Moskau). Nur eine verschwindend geringe Zahl von Demokraten unter Führung von Sergej Kowaljow (Beauftragter für Menschenrechte der Staatsduma) tritt für das Selbstbestimmungsrecht des tschetschenischen Volkes ein. Von Präsidialratsmitglied Emil Pain werden sie als „schwärmerische Demokraten" und von Außenminister Kosyrew als „extreme Demokraten" bezeichnet.

Eine weitere Folge der militärischen Intervention in Tschetschenien ist die offensichtliche Spaltung der ohnehin zerrütteten, demoralisierten und schlecht bezahlten russischen Armee, die letztendlich alles auszubaden hat, während sich Präsident Jelzin auf dem Höhepunkt der Krise einer Nasenoperation unterzog. Die schlecht vorbereiteten Soldaten regulärer Einheiten wissen nicht, was sie in Tschetschenien zu suchen haben, da es sich um eine „innere Angelegenheit" handelt. Rußland wird von keinem äußeren Feind bedroht. Die Tschetschenen haben keine anderen Gebiete der Föderation angegriffen. Ein Teil des Militärs steht auf Jelzins Seite, darunter Gratschow, einige Spezialeinheiten (Kantamirow-Division, Tuman-Division), die Kreml-Garde (Barschukow) und der Sicherheitsdienst (Korschakow), auf die sich der Präsident bereits bei der Erstürmung des Parlaments im Oktober 1993 stützen konnte. Ihnen gegenüber stehen die Jelzin-Gegner und -Kritiker (Lebed, Gromow), entlassene Generäle sowie nationalistische, kommunistische und demokratische Offiziersverbände wie die Bewegung „Militärs für die Demokratie". Die Spaltung des Militärs könnte dazu führen, daß Präsident Jelzin die Kontrolle über das Militär verliert.

Dies würde heißen: Entweder übt Präsident Jelzin, gestützt auf den ihm ergebenen Teil des Militärs, seine Macht aus oder er verliert seine Macht durch einen „Aufstand" des anderen Teils der Armee. Beide Alternativen wären tödlich für die Demokratie in Rußland. Somit behielt Präsident Jelzin recht, wenn er Anfang Dezember auf dem KSZE-Gipfel in Budapest erklärte: „Es wäre zu früh, die russische Demokratie zu begraben". Sie hatte noch knapp eine Woche zu leben, bis zum 11. Dezember, dem Beginn der Tschetschenien-Invasion.

Im Schatten des Tschetschenien-Krieges erscheint die vom demokratischen Rußland konzipierte Außen- und Sicherheitspolitik in einem anderen Licht. Ihre Grundlage ist erneut die Geopolitik, und in ihren Grundzügen greift sie auf die zaristische und sowjetische imperiale Politik zurück. Dieser Krieg kann nicht ohne weiteres als eine „innere Angelegenheit" betrachtet werden, die für die Außenpolitik von Drittstaaten ohne Belang ist.

Wenn zur Entscheidung eines politischen Konfliktes zwischen Moskau und Tschetschenien die russische Armee eingesetzt werden kann, dann kann dies auch in Moskau (wie bereits geschehen) und in anderen Regionen der Russischen Föderation, nicht zuletzt aber auch in Ländern des „nahen Auslands", geschehen. Die destabilisierende Wirkung des Tschetschenien-Krieges auf die GUS ist aus den ängstlichen Reaktionen ihrer Mitgliedstaaten (Kasachstan, Kirgisistan) abzulesen. Georgien, dessen Staatlichkeit weitgehend vom Wohlwollen Moskaus abhängt, rechtfertigte den Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien damit, daß Rußland keine andere Wahl gehabt habe, um seine territoriale Integrität zu bewahren. Die Ukraine bezeichnete dagegen den russischen Militäreinsatz als Verletzung der Menschenrechte. Ohnehin ist die russische Armee bereits als GUS-Streitkraft (Tadschikistan), als Friedenstruppe (Georgien, Aserbaidschan), mit Militärstützpunkten (Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Kasachstan, Ukraine) sowie als Grenztruppe in allen GUS-Staaten des Transkaukasus und Zentralasiens präsent.

In diesem Zusammenhang darf auch nicht vergessen werden, daß Rußland in Osteuropa - nicht zuletzt mit der erfolgreichen Verhinderung der NATO-Osterweiterung - bereits wieder in seiner alten Großmachtrolle auftritt. Im Jugoslawien-Krieg gewann Moskau als engster Verbündeter der Serben seine erste diplomatische Schlacht. Es setzte sich durch mit der Option für die Schaffung einer Konföderation zwischen Belgrad und den bosnischen Serben - als Vorstufe für ein Großserbien. Wenn man den Versuch des Umbaus der OSZE (KSZE) nach russischen Vorstellungen, die gelungene Paralysierung der Türkei im Tschetschenien-Konflikt, die Bemühungen um Aufhebung des UNO-Embargos gegen Irak und die russische Forderung nach sofortiger Revision des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa betrachtet, ergibt sich ein abgerundetes Bild der Spannbreite einer neuen russischen Außen- und Sicherheitspolitik unter Ausnutzung der Schwächen bestehender westlicher Allianzen.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Position des Westens zu Rußlands Kaukasus-Krieg, d.h. seine Einstufung als „innere Angelegenheit", die die westlichen Demokratien nichts angeht, schwer verständlich. Sie ist kaum mit Vernunft, Logik und Moral, eher mit dem unpolitischen Begriff „Feigheit" zu erklären. In dem Glauben, den Kalten Krieg gewonnen zu haben, begibt sich der Westen in eine freiwillige und selbstgefällige Selbstisolation. Kein westlicher Politiker von Gewicht steht dagegen auf. Sowohl die UNO als auch NATO-Generalsekretär Willy Claes und US-Verteidigungsminister William Perry haben sich der Sprachregelung Moskaus angeschlossen, indem sie den Tschetschenien-Krieg als „innere Angelegenheit" Rußlands bezeichneten (Süddeutsche Zeitung, 16. Dezember 1994). Es ist bestenfalls ein Stimmungsumschlag im Hinblick auf die Brutalität der russischen Kriegsführung zu erwarten, nicht aber eine Änderung der westlichen Auffassung, daß die Einverleibung der Tschetschenischen Republik an sich „rechtmäßig" ist.

Der Westen begründet sein Schweigen mit dem Argument, man wolle den Gegnern von Präsident Jelzin nicht in die Hände arbeiten. In Wirklichkeit sind es jedoch die Jelzin-Anhänger, Demokraten, liberale Kräfte und Pro-Westler, die den Krieg ablehnen, und das westliche Schweigen schwächt ihre Positionen, während es den Jelzin-Gegnern und Kriegsbefürwortern neuen Auftrieb gibt.

Eine andere westliche Argumentation läuft auf ein Horror-Szenario hinaus: Sollte Präsident Jelzin im Kaukasus-Krieg scheitern, würde dies die Destabilisierung Rußlands mit unabsehbaren Folgen bedeuten. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Mike McCurry, erklärte: „Wir sehen eine enorme Gefahr bei der Aussicht, daß die Russische Föderation aufgrund der ethnischen und regionalen Rivalitäten zerfallen könnte" (zitiert nach: BPA-Hörfunkspiegel Ausland, 15. Dezember 1994, S. 13). Es ist schwer verständlich, welche Gefahren sich ergeben könnten, wenn in einigen Gebieten der Föderation unabhängige Staaten entstehen, anstatt daß die Föderation mit bewaffneter Gewalt zusammengehalten wird.

Tatsache bleibt: Ob Jelzin den Kaukasus-Krieg gewinnt oder nicht, dieser Krieg wird in jedem Falle destabilisierend auf die innenpolitische Situation wirken. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß eine friedliche Entlassung Tschetscheniens in die Unabhängigkeit gesetzmäßig und unweigerlich zur Kettenreaktion und zum Zerfall der Russischen Föderation geführt hätte. Vielmehr hätte eine solche Entscheidung Jelzins sowohl Rußland als auch die gesamte Region eher stabilisiert. Es hätte sich eine reelle Chance ergeben für die Entstehung eines auf echter Autonomie der nationalen und ethnischen Minderheiten beruhenden demokratischen Staatenverbandes.

Die Behauptung, daß Moskaus Krieg in Tschetschenien eine reine innere Angelegenheit sei, die der internationalen Staatengemeinschaft nicht erlaubt, sich einzumischen, steht in eklatantem Widerspruch zum heute praktizierten internationalen Recht. Nach dieser Betrachtungsweise hat die UNO seit Jahren nichts anderes getan, als sich in innere Angelegenheiten „einzumischen" (Somalia, Angola, Mozambique, Ruanda, Kambodscha, Haiti, Bosnien u.a.). Eine solche „Einmischung" wäre auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion um so mehr angebracht, als hier die Kommunisten innerhalb eines kommunistischen Einheitsstaates willkürliche und ungerechte Verwaltungsgrenzen geschaffen haben, die nach dem Zerfall dieses Staates vom Westen allzu schnell als unverrückbare Landesgrenzen anerkannt wurden. Die Folge ist eine Unzahl von Konflikten.

Der Krieg in Tschetschenien beweist die mangelnde Voraussicht in der westlichen Politik, die davon ausgeht, daß die Rechtsgrundlage der gegenwärtigen Weltordnung in der territorialen Unversehrtheit der bereits existierenden Staaten besteht, unabhängig davon, wie „gerecht" diese Staaten sich herausgebildet haben. Das Wesen dieses „Rechts" ist, das Bestehende zu schützen, auch dann, wenn dies nur durch Gewalt erreicht werden kann. Diese Rechtsauffassung läßt sich zwar in Westeuropa, wo die Nationalstaaten seit langem fest etabliert sind, relativ problemlos anwenden. Aber der Prozeß der Herausbildung von Nationen und ihrer Verstaatlichung ist noch lange nicht abgeschlossen. In Osteuropa und Eurasien erreichen die Völker erst jetzt die Stufe, in der sie sich zu Nationen formieren, was eine selbständigere Staatlichkeit bedingt. Daher sollte, um Konflikte zu vermeiden, in diesen Regionen dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker Vorrang gegeben werden.


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